E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Sternheim Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn
1. Auflage 2017
ISBN: 978-80-272-0311-6
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-80-272-0311-6
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carl Sternheims Werk 'Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn' ist eine faszinierende literarische Darstellung des beginnenden 20. Jahrhunderts. Mit einem einzigartigen Schreibstil, der zwischen Satire und Tragikomödie schwankt, zeichnet Sternheim ein kritisches Bild der Gesellschaft seiner Zeit. Das Buch thematisiert soziale Hierarchien, Korruption und die Veränderungen in der deutschen Gesellschaft zu Beginn des Jahrhunderts. Sternheims Werk steht im Kontext des expressionistischen Schaffens seiner Zeit und bringt die Absurdität des menschlichen Verhaltens in einer Welt des Umbruchs zum Ausdruck. Die Sprache ist präzise und die Figuren vielschichtig, was dem Leser einen tiefen Einblick in die Psyche der Charaktere ermöglicht.
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Napoleon
1915
Napoleon wurde 1820 zu Waterloo im Eckhaus, an dem sich die Steinwege nach Nivelles und Genappes trennen, geboren. Sein Kinderleben verließ historischen Boden nicht.
Über die durch Hohlwege gekreuzten Flächen, auf denen des Kaisers Kürassiere in Knäueln zu Tod gestürzt waren, gingen seine Soldatenspiele mit Gleichalterigen. Sie lehrten ihn ewige Gefahr, Wunden und Sieg.
Zwölf Jahre alt, nahm er von Kameraden beherrschten Abschied, sprang zum Vater in die Kalesche, fuhr nach Brüssel hinüber, wo er vor ein Gasthaus abgesetzt wurde. In der Küche des Lion d’or lernte er Schaum schlagen, Fett spritzen, schneiden und schälen. Gewohnter Überwinder der Kameraden auf weltberühmter Walstatt, ließ er auch hier die Mitlernenden hinter sich, war der erste, der die Geflügelpastete nicht nur zu des Chefs Zufriedenheit bereitete, auch nach Gesetzen zerlegte.
Er selbst blieb von allen Speisenden der einzige, den der Vol-au-vent nicht befriedigte; doch nahm er Lob und ehrenvolles Zeugnis hin, machte sich, siebzehnjährig, auf den Weg, betrat an einem Maienmorgen 1837 durch das Sankt-Martins-Tor Paris.
Als er auf einer Bank am Flußufer die strahlende Stadt und ihre Bewegung übersah, wurde ihm, was er in Brüssel geahnt hatte, zur Gewißheit: Nie würde er aus den allem Verkehr fernliegenden Küchenräumen die enge Berührung mit Menschen, die sein Trieb verlangte, finden. Tage hindurch, solange die ersparte Summe das Nichtstun litt, folgte er Kellnern in Wirtschaften gespannten Blickes mit inniger Anteilnahme; verschlang ihre und der Essenden Reden, Lachen, Gesten. An einem hellen Mittag, da eine Dame Trauben vom Teller hob, den ihr der Kellner bot, trat er in die Taverne auf den Wirt zu, empfahl sich durch Gebärden, flinken Blick als Speisenträger.
Nun brachte er Mittag-und Abendmahl für alle Welt herbei. Von beiden Geschlechtern kam jedes Alter, jeder Beruf zu seinen Schüsseln, sättigte sich. Unermüdlich schleppte er auf Tische, fing hungrige Blicke auf, satte, räumte er ab. Nachts träumte er malmende Kiefer, schlürfende Zungen, ging anderen Morgens von neuem im Bewußtsein seiner Notwendigkeit ans Tagwerk.
Allmählich sah er Unterschiede des Essens von schmatzenden Lippen ab, kannte den gierigen, weitgeöffneten Rachen des Studenten, durch den Bissen in ein nie gestopftes Loch fielen, unterschied den Vertilger eines nicht heißhungrig ersehnten, doch regelmäßig gewohnten Mahles von jenem Überernährten, der sich ungern zum Tisch niederließ, gelangweilt Leckerbissen kostete und zurückschob. Prägte die kauende, trinkende Menschheit in allen Abstufungen sich fest und bildhaft ein.
Durch Kennerschaft wurde er ihr Berater und Führer; wies Hungrigen feste Nahrung, bediente die Satten mit Schaum und Gekröse; von ihm zu allen Tischen lief ein Band des Verständnisses. Hob der Gast die Karte, fiel von Napoleons Lippen der gewünschten Speise Name.
Jahrelang blieben die seine Lieblinge, deren leibliche Not die Kost stillen sollte. Ein saftiges Stück Fleisch, von kräftigen Zähnen gebissen, schien ihm die gelungenste Vorstellung. Doch machte er Unterschiede zwischen Sorten. Ließ er Kalb und Lamm im Hinblick auf ihre festere Zusammensetzung gelten, war ihm Wild, Geflügel wenig sympathisch. Von Fischen, Austern und Verwandtem hielt er der lockeren Struktur wegen nicht das geringste. Inbegriff guter Nahrung war ihm das Rind. Unwillkürlich sah er die Begegneten beim Hin-und Heimweg auf ihre Muskulatur hin an. Die schienen ihm wohlbereitet, die über straffem Knochenbau gedrängte Materie trugen. Magere verachtete er, die mit losem Fett Gepolsterten waren ihm verhaßt. Einem gut aufgesetzten Körper folgten seine Blicke zärtlich, zerlegten ihn in gigots, selle, côtes und Kotelettes. In der Einbildung streute er Pfeffer und Salz hinzu, garnierte, schnitt, servierte das Ganze mit passendem Salat; dann lächelte das junge Gesicht, hingerissen ahnte er nicht, in welcher Zeit er lebte; unterschied Sommer, Winter, Trockenheit, Regen, Überfluß und Notdurft nicht, wußte nur: dies freut den Gast!
Immer hitziger wurde sein Trieb, dem zu Bedienenden sättigende Kost zu bieten. Gewürz und Zutat sah er nur in dem Sinn, wie sie die bestellte Speise fest und ausdauernd machten. In seine Vorstellung bildete sich des leeren Magens Raum, in der er Nahrung aus Beton baute.
Ging der Gesättigte, der schlappen Schrittes gekommen war, wuchtig zur Tür hinaus, hing Napoleons Blick, als sei dessen Lebendigkeit sein Werk, an dem Schreitenden. Er brauchte, vor sich bestehen zu können, das Bewußtsein schöpferischer Tat, steigerte es zur Überzeugung, ohne ihn und seine Pflege sei der Betroffenen Lebensarbeit unmöglich. Die festzustellen, merkte er der Gäste Namen; nahm an ihrem Vorwärtskommen teil.
Es geschah, als er am freien Tag durch Wege der Versailler Parks schritt, in der Einbildung, er habe gerade eine riesige Wurst mit Höchstwerten menschlicher Nährstoffe gestopft und schnitte den Wartenden Scheiben herunter, daß aufschauend sein Auge zu einem jungen Weib fiel, das ein Kind am entblößten Busen hängen harte. Gebannt blieb Napoleon stehen, prägte sich das Bild rosiger, geblähter Rundheiten an der Frau und dem Säugling in aufgetane Sinne. War das eine Apotheose seiner Träume von kraftvoller Nahrung und ihrem besten Verbrauch! An die Nährende hätte er niederfallen, durch Umschlingung ihres und des Kindes Leibes am erhabenen Vorgang teilnehmen mögen.
Das Bild verließ ihn nicht, veranlaßte ihn, flüssigen Stoffen gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken; dann hob es den Wert der Frau, der bis heute ihrer geringen Lust zum Essen wegen für seine Welt nicht groß gewesen war, sich jetzt aber gut ins große Bild tafelnder Menschheit einordnete. Zum erstenmal besah er das Mädchen an der Anrichte, dem er bisher nur den kräftigen Gliederbau bestätigt hatte, immer eindringlicher, als prüfte er es auf gewisse ihm einleuchtende Möglichkeiten. Er fand, sie nähme zuviel leichtes Zeug als Nahrung, belade sich mit Geblasenem und Aufgerolltem, das im Magen zu einem Nichts zusammenfiele, warnte vor Klebrigkeit und Süßem, forderte sie eines Tages geradezu auf, mit ihm ein Mahl zu nehmen, das bis ins kleinste von ihm zusammengestellt, in seinem Wert für sie erörtert werden sollte. Das Mädchen nahm des Mannes Kauderwelsch für Umschweif, willigte ein, und an einem der nächsten Tage gingen sie ein Stück über Land, traten in einen Gasthof ab.
Dort verschwand Napoleon und erklärte zurückkommend der schmollenden Suzanne, er habe bis ins kleinste in der Küche vorgesorgt. Mit einem Ragout von Hammel in Burgunderweinsoße beginne man, gehe, falsche Vorspiegelungen verschmähend, geradezu auf ein wundervolles, halbblutiges Rindlendenstück, an das er englische Gurken und Zwiebeln habe braten lassen, zu.
Als das Essen aufgetragen war, wies er sie, Bissen langsam zu kauen, ohne Zukost von Brot zu schlucken, ruhte nicht, bis das letzte Stück auf der Schüssel vertilgt war, befahl ihr und sich ein Gläschen Schnaps zu besserem Bekommen an.
Da sie nach Tisch im Grase lagen, breitete er Arme und Beine aus, riet ihr, Gleiches zu tun. Ein schmächtiger Bursche sei er gewesen, seine Gewebe nur durch vernünftige Nahrung, angemessene Verdauung fest und kräftig geworden. Dabei ließ er Muskeln der Arme und Waden durch Beugung zu kleinen Bällen schwellen, worauf sie, in der Eitelkeit gepackt, auch die Glieder spielen ließ, ihn zur Prüfung der festen Beschaffenheit einlud. Doch bestritt er alles von vornherein, meinte, bei ihrer bisherigen Ernährung sei es nicht möglich, forderte sie, in Zukunft nach seinen Vorschriften zu leben, auf. Dann werde, was nicht dasei, kommen.
Er gefiel ihr. Der nüchterne Sinn machte Eindruck auf sie, sie bemühte sich, seine Erwartung zu erfüllen. Beim nächsten Ausflug blieb sie plötzlich stehen, bäumte den Arm, ließ seine Hände die Anschwellung fühlen. Doch kam durch Wochen nur ein Schnalzen von ihm, das ihr, sie sei auf rechtem Weg, bedeutete. Bis sie eines Tages beim Versuch, ein gelöstes Schuhband zu knüpfen, ihm ein so mächtiges Rückenstück entgegenhob, daß runde Anerkennung seinen Lippen entfuhr. Gleich lag sie an seiner Brust; bot ihm den Mund zum Kuß.
Der Besitzer der Taverne starb, und Napoleon wurde des Speisehauses Inhaber. Er konnte schalten, wie er wollte, entfernte alle Spielereien von der Karte. Die gleichbleibende Kundschaft, er selbst und Suzanne waren gewichtige Personen, die eine Rede deutlich in den Mund nahmen, geworden. Es gab kein Getuschel in seinen Räumen, doch dröhnendes Lachen zu schallenden Worten. Forsches Zugreifen und Fortstellen. Überzeugte Meinungen, Entschlüsse für kühne Tat.
Napoleons Vaterunser und Einmaleins hieß: in allen Molekülen drängende Kraft. Von Suzannes Kind, das sie von ihm unter dem Herzen trug, rechnete er, es müßte nach Menschenermessen ein Herkules werden.
Des Hauses Ruf hatte sich verbreitet. Einer rühmte es dem andern, brachte ihn zu einem Versuch mit. Schließlich reichte der Raum, die Gäste zu fassen, nicht. Einen frei werdenden Stuhl besetzte gleich ein anderer Hungriger. Große Tagesumsätze wurden erzielt, immer bedeutendere. Verglich aber der Wirt zum Jahresabschluß Einnahme und Ausgabe, kam kaum ein Guthaben zu seinen Gunsten heraus. Anfangs, bevor er das Ziel seines großen Rufes erreicht hatte, ließ er es gehen; als der in Paris feststand, begann die schlechte Abrechnung ihn zu wurmen. Er war dreißig Jahr alt, hatte große Pläne, und schien Reichtum nicht seine letzte Absicht, mußte er mit dem übrigen kommen. Nochmals nahm er die Bücher...




