Sterling Schwere Wetter
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13430-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 0 Seiten
ISBN: 978-3-641-13430-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Treibhausgase und Luftverschmutzung haben die Atmosphäre unseres Planeten ruiniert. Jetzt ist das Wetter unberechenbar geworden, heftige Stürme fegen über das Land und hinterlassen nichts als eine Spur der Verwüstung. Alex Unger, ein junger Mann mit schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen, wird von seiner Schwester Janey aus einer Klinik in Mexico geholt. Er begleitet sie zurück in die USA, wo Janey und ihre Freunde, die sogenannten Storm Troopers, sich darum kümmern, die Stürme zu klassifizieren und ihre Zerstörungen zu dokumentieren. Und das ist alles andere als ungefährlich ...
Bruce Sterling wurde 1954 in Brownsville, Texas, geboren. Nach seinem Journalismus-Studium veröffentlichte er 1977 seinen ersten Roman „Involution Ocean“, dem noch zahlreiche weitere folgten, darunter „Schismatrix“ (1989) und „Schwere Wetter“ (1996). Zudem verfasste er mehrere Sachbücher und schreibt Artikel für verschiedene amerikanische Magazine. Bruce Sterling gilt, gemeinsam mit William Gibson, als Mitbegründer des Cyberpunk und ist einer der führenden Köpfe der Viridian-Design-Bewegung im Netz. 2003 wurde er Professor für Internetforschung und Science Fiction an der European Graduate School. Der Autor lebt heute in Turin, Italien.
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Zweites Kapitel
Hohe Antennenmasten rasterten den Horizont.
Juanitas Leute hatten ihr Zeltlager in einem Kilometer Entfernung vom Highway aufgeschlagen, auf einer niedrigen Anhöhe aus Kalkstein, von der aus man den vorbeikommenden Verkehr im Auge behalten konnte. Die Morgensonne schien auf ein Chaos runder, dickbauchiger Zirkuszelte und kegelförmiger weißer Wigwams, aus denen Stangen ragten.
Juanita hatte die letzten zwei Fahrtstunden über gedöst und mit der Gier einer kurz vor dem Verhungern stehenden Frau, die Bratensoße von einem Teller stippt, ein wenig von REM-Phasen durchsiebten Schlaf ergattert. Nun beobachtete Alex voller Interesse, wie sich seine Schwester in eine andere Person verwandelte. In den letzten paar Minuten, als sie sich dem Camp näherten, wurde sie hellwach, angespannt, kämpferisch, nervös.
Juanita holte ein Sicherheitsarmband unter dem Beifahrersitz hervor und befestigte es sich sorgfältig am linken Handgelenk. Das Armband hatte eine Zeitanzeige und bestand aus dickem, dunkelbraunem, perlenverziertem und handvernähtem Leder. Ein paar Perlen fehlten, und das Leder war abgenutzt und fleckig, aber man sah Juanita an, dass sie sich mit dem Armband gleich viel besser fühlte.
Als wäre ihr gerade etwas eingefallen, reichte sie Alex ein schäbiges Plastikarmband mit einer billigen Uhr, die mit einer völlig nutzlosen Ansammlung verwirrender kleiner, orangefarbener Knöpfe protzte. »Damit kannst du das Camp ungehindert betreten und verlassen«, erklärte sie.
»Ah, ja. Großartig.«
Juanitas Wagen rollte über den letzten spärlichen Grasstreifen bergauf und hielt zwischen zwei elektronischen Begrenzungspfosten.
»Und jetzt?«, fragte Alex.
»Ich muss mit Jerry reden. Über dich.«
»Wunderbar! Dann lass uns doch beide ein kleines Schwätzchen mit Dr. Jerry halten.«
Juanita maß ihn mit gereiztem Blick. »Ausgeschlossen! Erst muss ich mir mal überlegen, wie ich ihm die Situation verklickern soll … Siehst du die Leute dort drüben bei der Küchenjurte?«
»Was war das?«
»Beim großen runden Zelt. Die Leute mit dem Dreibein und dem Flaschenzug?«
»Und?«
»Geh rüber und sei nett zu ihnen. Ich hol dich später ab, wenn alles klar ist.« Juanita stieß die Wagentür auf, sprang hinaus und eilte im Laufschritt zur Mitte des Lagers.
»Ich habe keine Schuhe!«, schrie Alex ihr nach, doch der Wind wehte seine Worte fort, und Juanita sah sich nicht um.
Alex überbedachte seine Lage. »Hey, Wagen«, meinte er schließlich. »Charlie.«
»Ja, Sir?«, antwortete der Wagen.
»Kannst du mich zu der Gruppe von Leuten rüberfahren?«
»Ich verstehe nicht, was Sie mit ›Gruppe von Leuten‹ meinen.«
»Ich meine … äh … zwanzig Meter nordwestlich von hier. Kannst du dorthin fahren? Langsam?«
»Ja, Sir, das könnte ich tun, aber nicht auf Ihren Befehl hin. Die Anweisungen von Passagieren ohne Sicherheits-ID darf ich nicht befolgen.«
»Ich verstehe«, sagte Alex. »Sie hatte völlig recht mit deinem Interface. Du bist völlig daneben.«
Alex drehte sich auf dem Sitz herum und musterte das Wageninnere. Er entdeckte nichts, was auch nur von ferne einem Schuh geähnelt hätte. Dann fiel sein Blick auf das Handy am Armaturenbrett. Er nahm es, zögerte bei der Ziffer ›1‹, dann drückte er rasch die ›4‹.
Es meldete sich eine Frau. »Hier spricht Carol.«
»Hi, Carol. Gehörst du zu den Storm Troupern?«
»Yeah«, tönte es aus dem Telefon. »Wer bist 'n du?«
»Hältst du dich momentan in einem Camp auf einer Anhöhe auf, irgendwo in der Nähe des Highway 208 in Westtexas?«
»Ja. Das stimmt.« Sie lachte.
»Stehst du mitten in einer Traube von Leuten, die gerade eine Art Kadaver auf ein Dreibein zu hieven versuchen?«
»Nee, Mann, ich bin in der Werkstattjurte und repariere gerade einen kaputten Straßeninstandsetzungskoloss, aber ich weiß, wen du meinst, falls dir das weiterhilft.«
»Könntest du einen von ihnen bitten, mir ein paar Schuhe zu bringen? Größe acht?«
»Wer bist du eigentlich?«
»Ich heiße Alex Unger, komme gerade aus Mexiko und brauche ein Paar Schuhe, damit ich aus dem Wagen aussteigen kann.«
Carol zögerte kurz. »Warte einen Moment, Alex.« Sie legte auf.
Alex lehnte sich zurück. Nach einer Weile nahm er wieder das Telefon zur Hand und wählte die Nummer der Auskunft von Matamoros. Er erkundigte sich nach dem gegenwärtigen Decknamen eines seiner bevorzugten Kontaktleute und wurde auch problemlos durchgestellt. Mitten im Gespräch legte er jedoch auf, weil sich eine Frau dem Wagen näherte.
Die Fremde, eine Schwarze, hatte kurze, schwarze, mit Draht zusammengebundene Zöpfe und ein breites, windgegerbtes, fröhliches Gesicht. Sie war etwa fünfunddreißig. Bekleidet war sie mit einem Rettungsanzug aus Papier, den ein Farbdrucker mit bemerkenswertem Ergebnis bespritzt hatte.
Die Frau reichte Alex ein Paar Sandalen durch die offene Tür. Die Sandalen hatten flache Sohlen aus dickem, dunkelgrünem Vinyl, mit breiten, frisch angeklebten Schnallen aus weißem, elastischem Stoff.
»Was ist denn das?«, fragte Alex. »Die sehen ja wie Duschschlappen aus.«
Die Frau lachte. »Du kannst eine Dusche gebrauchen, Mann. Zieh sie an.«
Alex ließ die Sandalen fallen und schlüpfte mit den Füßen hinein. Die Sandalen waren zwei Nummern zu groß, hatten aber mehr oder minder die richtige Form für seine Füße und würden wohl kaum abfallen. »Für zwei Minuten Arbeit gar nicht so schlecht, Carol.«
»Herzlichen Dank, Mann. Da du und deine Schwester beide reicher seid als Gott, darfst du mir ruhig ein paar tausend Dollar dafür geben.« Carol beäugte ihn misstrauisch. »Mann, Jane hat wirklich nicht zuviel versprochen. Eher zuwenig!«
Alex ließ das so im Raum stehen. »Juanita hat gemeint, ich soll bei den Leuten dort drüben bleiben, bis sie zurückkommt.«
»Dann solltest du das besser mal machen, Mann. Aber sei so nett und stell dich nicht in den Wind.« Carol trat vom Wagen zurück. »Und spiel nicht mehr mit unseren Telefonen rum, okay? Peter wird echt nervös, wenn Amateure mit unseren Telefonen rummachen.«
»War nett, dich kennenzulernen«, sagte Alex. Carol winkte knapp und ging fort.
Alex setzte behutsam die Füße auf den Boden von Westtexas. Das schmalhalmige Präriegras wirkte ganz okay, aber ansonsten war der steinige Boden mit einer erschreckenden Vielzahl kleiner, zähstängliger Unkrautpflanzen übersät, alle gerammelt voller Kletten, Dornen und hautreizender giftiger Borsten.
Alex trippelte geziert zu der Gruppe mit dem Dreibein. Die Leute waren beschäftigt. Sie hatten den Hals eines Rehbocks mit purpurfarbenen Hörnern mit einem Flaschenzug verbunden, der an der Verbindungsstelle dreier hoher Zeltstangen befestigt war. Sie waren zu viert; zwei Männer in langärmliger Jagdkleidung und zwei abgebrühte Frauen in blutbeschmierten Papieranzügen und Geländestiefeln. Einer der Männer – er trug eine Brille – hatte ein elektrisches Gewehr umgeschnallt. Alle trugen sie Trouper-Armbänder.
»¿Que pasa?«, fragte Alex.
»Wir nehmen Bambi aus«, antwortete der andere Mann und zog ächzend das Seil stramm.
Die Jäger hatten das Tier bereits unterwegs ausgeweidet. Alex beäugte interessiert den schlanken, schwankenden, ausgeweideten Kadaver.
Die größere der beiden Frauen zog ein Bowiemesser aus eisblasser Keramik aus der Scheide und machte sich an die Arbeit. Sie packte beide Hinterbeine des baumelnden Rehbocks, dann schnitt sie zwischen den Haxen eine fleischige, übelriechende Drüse heraus. Sie warf die blutige Drüse beiseite, wischte das Messer ab, steckte es wieder in die Scheide und hob ein kleineres, etwa daumenlanges Messer vom Boden auf.
Der Mann mit dem Gewehr schenkte Alex einen gleichgültigen Blick. »Neu im Camp?«
»Yeah. Ich bin Alex. Juanita ist meine Schwester.«
»Wer ist Juanita?«, fragte der Mann mit dem Gewehr. Der andere deutete mit dem Daumen auf die Jurte in der Mitte des Lagers. »Oh«, machte der Mann mit dem Gewehr. »Du meinst Janey.«
»Das darfst du Rick nicht übelnehmen«, sagte die größere der beiden Frauen. »Rick programmiert.« Mit einem raschen Schnitt fuhr sie um den Hals des Hirsches, dann schnitt sie am Hals entlang bis zur Brust und rechtwinklig weiter bis zum Ende beider Vorderbeine. Sie ging sehr geschickt dabei vor. Unterstützt von der anderen Frau machte sie sich daran, die Haut methodisch vom glänzenden, nackten Fleisch abzuziehen.
Alex rüttelte an einer der Stangen des Dreibeins. Sie wirkte äußerst stabil. Die Bambusstange war mit einem dieser modernen Lacke gefirnisst. »Wollt ihr das etwa essen? Ich glaube, ich habe noch nie Wild gegessen.«
»Wenn Ellen Mae in der Nähe ist, dann isst du das verrückteste Zeug in ganz Texas«, sagte der andere Mann.
»Halt's Maul, Peter«, meinte Ellen Mae temperamentvoll. »Wenn du richtiges Essen nicht magst, dann bleib eben bei deinem Purina-Katastrophen-Fraß.« Sie schaute Alex an. »Diese großen Jäger machen sich nichts aus mir. Reich mir mal die Säge.«
Alex betrachtete Ellen Maes Metzgerwerkzeuge auf der Unterlage aus Rohleder. Er erkannte die Knochensäge an der langen, gletscherfarbenen, funkelnden Schneide. Er bückte sich und hob sie auf. Die Keramikschneide war dauerhaft von Blut verfärbt, der Griff mit Karomuster war abgenutzt, aber jeder einzelne Sägezahn war so scharf wie eine frische Glasscherbe. Es war ein wundervolles Werkzeug, dessen Wirkung man um alles in der Welt nicht am eigenen Leib erfahren wollte. Alex hieb versuchsweise ein paar Mal durch die...