E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Stephan Lob des Normalen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96092-742-6
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Glück des Bewährten
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-96092-742-6
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Cora Stephan, geboren 1951, ist eine deutsche Publizistin und Schriftstellerin und promovierte Politikwissenschaftlerin. Sie schreibt Essays, Kritiken und Kolumnen und hat neben zehn Sachbüchern mehr als ein Dutzend Romane veröffentlicht. 2011 erschien »Angela Merkel. Ein Irrtum«, 2020 ihr zeithistorischer Roman »Margos Töchter«.
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Prolog
In einer handfesten Krise verflüchtigen sich plötzlich all die Themen, die kurz zuvor noch heiß debattiert wurden, und erscheinen als das, was sie womöglich immer schon waren: als Modeerscheinungen, gar als Zeichen beginnender oder bereits eingetretener Dekadenz. Plötzlich steht er wieder nackt und bloß da, der Mensch, ganz existentiell, ohne modischen Überwurf. Erfreulich ist das nicht immer, was man da zu sehen bekommt, das Elementare ganz ohne Verkleidung ist selten ansehnlich. Auch der Glauben an das Gute entpuppt sich als reine Gutgläubigkeit: Löwen sind keine Schmusekätzchen, Natur ist nicht »chemiefrei« und »bio« nicht giftlos. Gutmenschlichkeit ist nicht krisenfest.
Es macht demütig zu erfahren, dass all das Große, was man sich vorgenommen und angemaßt hat, nichts bedeutet vor dem Angriff eines Feindes, der es aufs Leben abgesehen zu haben scheint, ohne dass der Mensch eine Waffe zur Gegenwehr besitzt.
Wir retten das Klima, wir schützen die Natur? Welche Hybris! In Gestalt eines Virus erscheint die Natur als das, was sie immer schon war: als feindliche Umwelt, derer sich der nackte Mensch zu erwehren versucht. An die Güte der Natur kann nur glauben, wem es, wie der westlichen Zivilisation, gelungen ist, sich seit Jahrhunderten erfolgreich gegen sie zu verbarrikadieren; wer Feuersbrünste und Überschwemmungen zu verhindern und zu bekämpfen gelernt hat und wer fernab aktiver Vulkane lebt. Doch die Natur hat keine Moral, sie denkt nicht daran, gut oder böse zu sein, und würde, könnte sie es, all jene belächeln, die so größenwahnsinnig sind zu glauben, dass sie die Macht hätten, sie zu schützen oder gar zu retten.
All die großen Projekte verglühen im Angesicht einer existentiellen Bedrohung. Zurückgeworfen aufs Wesentliche, in Angst um die bloße Existenz, ist es plötzlich ohne Belang, ob Worte als beleidigend empfunden oder Bezeichnungen nicht politisch korrekt sind. Auf die menschliche Natur reduziert zu sein – Mensch wird geboren, lebt sein Leben und stirbt – lässt einen gar nicht erst auf den Gedanken kommen, man könne selbst bestimmen, wer oder was man ist, Mann, Frau, divers. Im Zweifelsfall ist man ein leidendes oder auch nur angsterfülltes Menschenkind. Der Körper hat sich längst selbst entschieden: jene Natur, die mehr Macht über alle und alles hat, als sich der fluide Metropolenmensch so wünscht.
In solchen Zeiten tritt es wieder ins Bewusstsein, das, was man »normal« genannt hat, als das noch nicht die abwertende Vokabel für jene vermeintlich Zurückgebliebenen war, die dem jeweils dominierenden Zeitgeist nicht huldigen wollten.
In den siebziger Jahren, Hochzeit des linksalternativen Lebenstraums, nannte man sie spöttisch »Normalos« oder sogar »Stinos«, also Stinknormale, all jene, die nicht so progressiv waren, wie mancher sich selbst vorkam. Deren Untergang war eigentlich beschlossene Sache. Doch sie haben sich als widerständig erwiesen, es gibt sie noch heute, ja, sie stellen weiterhin die Mehrheit im Lande. Die hundsnormalen Spießer, christlich geprägt, verheiratet, ein bis zwei Kinder, Eigenheim, geregeltes Einkommen, verlässliche Steuerzahler. Gutmütige Menschen, die das Abweichende schätzen, das sie sich selbst längst nicht mehr erlauben. Heterosexuell, doch oft zu müde dafür, aus Langeweile oder Arbeitsüberlastung, weshalb sie den Anspruch, sexuelle Avantgarde zu sein, neidlos anderen überlassen.
Die Spießer von heute sind selbstverständlich weltoffen und bunt, tolerant bis zur Selbstaufgabe und haben es sich lange geduldig gefallen lassen, zum Auslaufmodell erklärt zu werden, zu einem Überbleibsel längst vergangener Zeiten. Sie werden gern übersehen, das Normale ist nicht schlagzeilenträchtig, nur in Krisenzeiten sieht man, dass es ohne sie nicht geht: ohne Handwerker und Bauern, Polizisten und Feuerwehrleute, Postboten und LKW-Fahrer, Verkäufer, Apotheker, Reinigungskräfte, Pfleger – die Liste ist unvollständig, sie wäre zu lang. Verzichtbar ist eher der Meinunghabende, der Intellektuelle, sind die Plaudertaschen in den Medien oder gar die Influencer im Netz. Oder all jene, die eine mehr und mehr ausufernde Bürokratie bedienen, die vielen in den weit nützlicheren oder gar lebenswichtigen Berufen das Leben schwermachen, etwa den Hausärzten und Apothekern.
Normal ist, was Gewohnheit begründet, etwas, das man nicht erklären muss. Auf das man sich verlassen kann. Das mag eher glanzlos sein, aber es ist: völlig normal. Und es hat in Zeiten, in denen sich das Vertraute aufzulösen scheint, etwas ungemein Beruhigendes. Man verachte das Glück des Spießers nicht, das rächt sich.
Anders gesagt: Es hat sich längst gerächt. Der Überdruss am täglichen Angriff aufs Normale hat jene begünstigt, die abwertend »Populisten« genannt werden, als ob allein schon verdächtig wäre, auf das unterschwellige Grummeln des Volks überhaupt zu hören. Und als ob die ärgsten Populisten nicht jene wären, die noch jeden Konflikt oder Widerspruch mit beidhändig geworfenen Kamellen (vulgo: Geld der Steuerzahler) erledigen wollen. Ereignisse wie die Wahl Donald Trumps in den USA, der kometenhafte Aufstieg der AfD aus dem Nichts in Deutschland oder der Brexit von Großbritannien hätten Warnung genug sein müssen: Die Plebs macht nicht mehr alles mit. Nicht die Eurorettung 2010, nicht die milliardenschwere, aber nutzlose »Energiewende«, nicht die Schuldengemeinschaft der EU, die beflissene Genderei oder das Theater um ein »drittes Geschlecht«. Die Provinz schlägt zurück – durch stille Verweigerung oder den Wahlzettel. Doch lieber arbeiten sich die Meinunghabenden an Donald Trump ab oder an den »Rechtspopulisten« der AfD, statt auf die Botschaft zu hören, die deren Wahlerfolge verkünden: Wir, die ständig Übersehenen und Beleidigten, haben den ganzen Zirkus gründlich satt.
Warum bleiben unsere Grenzen (und der Sozialstaat) offen für Menschen, mit denen wir weder Sprache noch Kultur gemein haben und von denen wir nicht wissen, ob sie tatsächlich hilfsbedürftig sind oder Glücksritter und Kriminelle? Warum gibt es in Deutschland um die 200 Lehrstühle für Genderforschung, aber noch nicht mal die Hälfte für Wissenschaftler, die sich mit einem neuartigen Virus auskennen?1 Warum meint der Staat, alles besser zu können als der eigentliche Souverän, das Volk, von der Kindererziehung bis zum Unternehmertum, scheitert aber im Krisenfall an seiner ureigensten Aufgabe, nämlich der, für den Schutz der Bürger zu sorgen? Warum fühlt sich eine ihrem Volk und niemandem sonst verpflichtete Kanzlerin eher für Europa zuständig oder gar zur Rettung der Welt berufen, obzwar ihr niemand den Auftrag dafür verliehen hat? Und seit wann darf man der Regierung nicht mehr widersprechen? Wäre das nicht eigentlich – normal?
Vor einem »neuen Normal«, von dem seit Corona immer wieder die Rede ist, steht das alte Normal, und das ist extrem zäh und überlebensfähig. In Krisenmomenten meldet sich der Mensch in seiner archetypischen Verfasstheit. Wichtiger als die jeweiligen Identitätsmoden sind nun die Nächsten, sprich: die bürgerliche Familie und die spießige Nachbarschaft. »Familie und Nation sind krisenfeste Solidargemeinschaften«, meint der Soziologe Heinz Bude, der eine Renaissance des Konservatismus prophezeit.2 Die ist, was das betrifft, womöglich schon länger unterwegs. Auch wenn historisch gesehen die Ehe an Nachwuchs und Erbfolge geknüpft war, so zeigt die Beliebtheit der Ehe für alle doch eins: Selbst unter der einstigen sexuellen Avantgarde, bei Schwulen und Lesben, verbinden offenbar viele mit dem offiziellen Akt der Ehe die Bekräftigung, in guten wie in schlechten Tagen füreinander zu sorgen. Glauben sie etwa, das private Bündnis sei womöglich auf Dauer verlässlicher als die Segnungen des Sozialstaates? Dann allerdings ist Ehe heutzutage nicht mehr spießig, sondern geradezu subversiv. Das Private erhält seine Würde zurück.
Wo wir schon beim Menschen als naturhaftem Wesen sind: In Gefahr neigen Menschen zum Abschließen, Abschotten, Verbarrikadieren, sie schließen die Stadttore und ziehen die Zugbrücke hoch. Xenophobie, darauf weist schon Claude Lévi-Strauss hin, gehört zum alten Erbe der Gattung Homo sapiens. Und so gab es in Corona-Zeiten im grenzenlosen Europa plötzlich wieder geschlossene Landesgrenzen, die man doch zuvor gegen illegale Einwanderung angeblich nicht schließen konnte. Grenzen wurden sogar innerhalb Deutschlands wieder gezogen, und die richteten sich nicht gegen eine Gefahr, die von außen kam, es sei denn, man erklärte die Hauptstadt Berlin für staatenlos. Sie richteten sich gegen Deutsche wie etwa gegen die Berliner Schriftstellerin Monika Maron, die es wie jedes Jahr in ihren Zweitwohnsitz im...