E-Book, Deutsch, 648 Seiten
Steinmetz Die kolonialen Ursprünge moderner Sozialtheorie
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-86854-426-8
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Französische Soziologie und das Überseeimperium
E-Book, Deutsch, 648 Seiten
ISBN: 978-3-86854-426-8
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Welt, in der wir leben, ist geprägt von den Spuren moderner kolonialer Imperien. Welchen Einfluss hat diese Prägung auf die Sozialwissenschaften und auf die postmoderne Soziologie? Für die neu entstehende Disziplin war die Kolonialforschung einst von entscheidender Bedeutung. Ab den 1930er Jahren waren Soziologen und Soziologinnen gefragt, ihr Fachwissen auf soziale Themen wie »Detribalisierung«, Urbanisierung, Armut und Arbeitsmigration anzuwenden. Diese koloniale Orientierung durchdrang alle wichtigen Teilbereiche der Forschung. Gerade in Zeiten der Dekolonisierung war die koloniale Soziologie Avantgarde ihres Fachs, vor allem in imperialen Ländern wie Großbritannien und den Niederlanden, besonders aber in Frankreich. Dort forschten mehr als die Hälfte der Soziologen und Soziologinnen zu kolonialen Themen, sowohl in den Kolonien als auch in den Metropolen; unter ihnen waren nicht nur Apologeten, sondern auch scharfe Kritiker des Imperialismus. Zahlreiche Institutionen entstanden, Universitäten, Forschungsinstitute, Regierungsorganisationen und Museen, die sich der Forschung über Imperien widmeten. Diese fundierte Studie präsentiert überraschende Einsichten und zeigt eindrücklich, dass das ambivalente Erbe der Kolonialsoziologie enormen Einfluss auf das sozialwissenschaftliche Denken der Gegenwart hat.
George Steinmetz ist Professor für Soziologie an der Universität Michigan und korrespondierendes Mitglied des Centre européen de sociologie et de science politique (CESSP) in Paris. Er war 2019 Preisträger des vom Hamburger Institut für Sozialforschung vergebenen Siegfried-Landshut-Preises.
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2 Konstruktion des Gegenstands, Konfrontation mit disziplinärer Amnesie
»Es ist nicht wahr, daß ich in den Gymnasialjahren je an der realen Existenz von Athen gezweifelt habe. Ich habe nur daran gezweifelt, daß ich Athen je werde sehen können.« Sigmund Freud1 »Es war Frankreich, wo eine eigens Afrika gewidmete Soziologie entstand.« Jean Copans2 Wie der Faschismus wird auch der Kolonialismus in geschichtlichen Abhandlungen über Soziologie und insbesondere über französische Soziologie fast nie als historische Rahmenbedingung benannt.3 Abwesend ist der Kolonialismus auch in Darstellungen besonderer Teilgebiete der Soziologie, darunter Umfragen, Stadtsoziologie, Religions-, Kriegs-, Arbeits- und Migrationssoziologie sowie der Soziologie des Nationalismus, des Rassismus und der »Rassenbeziehungen«. Und dennoch waren in den Kolonien alle diese Spezialisierungen präsent, manche hatten dort sogar ihren Ursprung. Selbst esoterische Unterfelder wie die Wissenssoziologie entstanden in der französischen Nachkriegssoziologie in Netzwerken von Kolonialspezialist:innen.4 Um das Ausmaß der kollektiven Amnesie der französischen Soziologie hinsichtlich Kolonialismus erfassen zu können, müssen wir ein Gefühl dafür bekommen, was genau eigentlich verdrängt wird. Der erste Teil dieses Kapitels gibt einen Überblick über die Soziologie des Kolonialismus, die von den späten 1930er Jahren bis Mitte der 1960er Jahre in Frankreich und in den französischen Kolonialgebieten existierte. Der zweite Abschnitt behandelt, wie sich die Verbannung der Kolonialforschung aus der Geschichte der französischen Soziologie und ihrer wichtigsten Teilgebiete darstellt. Der Schlussteil des Kapitels fragt nach den Gründen für die Tilgung der Kolonialsoziologie aus dem disziplinären Gedächtnis. Gegenstände, Methoden und Theorien der Kolonialsoziologie
Eine der unerwarteten Entdeckungen der vorliegenden Studie ist die der intellektuellen Produktivität von Imperien. Reiche sind turbulente, krisengeschüttelte und kulturell hybride und komplexe Gebilde. In der Zeit des Spätkolonialismus gerieten Rassismus und Kolonialismus durch Gegenwehr der Kolonisierten und einiger der Kolonisatoren unter Druck, sodass neue Formen intellektuellen Kontakts und Austauschs möglich wurden. Sozialwissenschaft konnte jetzt unter weniger erschwerten Bedingungen stattfinden. Vielleicht galt das in besonderem Maße für die Räume, die unter der noch neuen und wenig aussagekräftigen Bezeichnung »Soziologie« organisiert wurden und vor allem in der kolonialen Peripherie des französischen Reichs offen und interdisziplinär blieben. Auf Soziolog:innen, die in den kolonialen Verhältnissen arbeiteten, geht eine Reihe theoretischer, methodologischer und empirischer Entdeckungen zurück. In ihrer Arbeit deuteten sich transnationale und Globalgeschichte, ethnohistorische Soziologie und postkoloniale Theorie an. Sie konstruierten eine ganze Palette neuer Analyseobjekte, darunter Detribalisierung, Stadt-Land-Zirkulation, Ausbreitung informeller Siedlungen und kulturelle Vermischung.5 Die Kolonialsoziologie trat in unterschiedlicher Gestalt auf: in Form von (1) Ethnografien und Umfragen in den Kolonien; (2) theoretischen Analysen der Kolonien; (3) historischen Studien über Kolonien; (4) vergleichenden Studien auf Grundlage von Wissen, das in Kolonien generiert wurde; (5) Theorien über Reiche und Imperialismus. Ein Teil dieser Forschung war unabhängig, ein anderer für Regierungen, Unternehmen, internationale Agenturen oder Forschungseinrichtungen durchgeführt. In einigen Fällen war soziologische Forschung direkter Bestandteil der Kolonialherrschaft. Elemente der Kolonialsoziologie prägten auch – uneingestanden – die spätere Entwicklung der Disziplin. Eine Reihe methodologischer Entwicklungen geht auf Kolonialsoziolog:innen zurück. Eines der simpelsten, aber grundlegendsten Elemente der soziologischen Arbeit über Kolonien war, dass sie die Rolle des Kolonialismus hervorhob und explizit analysierte, statt die europäische Herrschaft auszuklammern, wie es in der anthropologischen Forschung über kolonisierte Bevölkerungen weitgehend der Fall gewesen war. Kolonialsoziolog:innen lehnten statische Ansätze, wie sie für die Sozialanthropologie der Zwischenkriegszeit und die parsonssche Nachkriegssoziologie charakteristisch waren, tendenziell ab. Sie betonten Herrschaft, Rassismus, Konflikt und Veränderung. Georges Balandier hat in einem berühmten Aufsatz von 1951 den Begriff »koloniale Situation« geprägt, um die koloniale Gesellschaft als eine zu spezifizieren, die zur Aufgabe hat, »politisch, wirtschaftlich und geistig zu herrschen«, und um in der Wortwahl zu signalisieren, dass Kolonialismus relational, konflikthaft und prozesshaft analysiert und als historisch aufgefasst werden muss.6 Balandiers ganzer Ansatz wurde, in bewusster Abgrenzung vom statischen Strukturalismus, als »dynamische Soziologie« oder »sociologie des mutations« bekannt und hatte durchschlagende Wirkung auf die Kolonialsoziologie in Frankreich wie auch in anderen Ländern.7 Jean Duvignaud, der wie Balandier literarisches Schreiben mit soziologischer Forschung über die Auswirkungen des Kolonialismus (in Tunesien) verband, argumentierte, dass Kolonien und Postkolonien in einer »Zerstörungs- und Strukturierungsbewegung« gefangen seien.8 Und wo Anthropolog:innen davor zurückgescheut waren, weiße Siedler:innen zu studieren und Theorien »entwickelter« Gesellschaften auf »primitive« Gesellschaften anzuwenden, waren es schließlich Soziolog:innen, die die europäischen Kolonisator:innen mit demselben Analyserahmen zu analysieren anfingen wie die Kolonisierten.9 Kolonialspezialist:innen waren die Pioniere historischer Ansätze in der französischen Soziologie. Historische Soziologie hatte es zuvor nur in der Weimarer Republik gegeben, mit wenigen Ablegern in Großbritannien und den Vereinigten Staaten aufgrund von Flucht vor dem Nationalsozialismus.10 Raymond Aron war vor 1945 in Frankreich der einzige Repräsentant einer historischen Soziologie nach deutschem Vorbild. Seine Arbeiten der 1930er Jahre über historische Epistemologie flossen direkt in seine Studien des nationalsozialistischen, französischen und amerikanischen Imperialismus ein. Auch Balandiers Doktorarbeit von 1955 war historisch und vergleichend angelegt: Er kontrastiert darin die Reaktionen der gabunischen Fang und der Bakongo in Französisch-Kongo auf den Kolonialismus.11 Balandiers Studie über das Königreich Kongo war eine Pionierarbeit afrikanischer Geschichtsschreibung in der »ersten Dekade moderner Erforschung afrikanischer Geschichte«.12 Ein historischer Ansatz schien sich den Soziolog:innen als selbstverständlich anzubieten, sobald sie einmal Balandiers Idee der geschichtlichen Dynamik, Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit kolonialer Situationen akzeptiert hatten. Viele von ihnen veröffentlichten weiterhin Monografien über einzelne Kolonien, ethnische Gruppen oder Stämme, doch diese Bücher begannen nun nicht mehr wie die typische le-playanische Monografie mit einem Überblick über Landschaft, Flora und Fauna, sondern mit einer historischen Erörterung der präkolonialen Zeit und den Auswirkungen des Kolonialismus. Die Werke von Jacques Berque, Eric de Dampierre, Georges Balandier, Paul Mercier, Pierre-Philippe Rey und Fanny Colonna zeigen die Entwicklung einer vollwertigen historischen Soziologie des Kolonialismus. Berque, dem sich das zwölfte Kapitel widmet, forschte intensiv in marokkanischen Archiven, die bis dahin nicht erkundet worden waren, und verfasste eine Reihe historischer Bücher über verschiedene Aspekte der marokkanischen, arabischen und muslimischen Geschichte. Balandier, dem sich das dreizehnte Kapitel widmet, begründete eine Soziologie Afrikas, die er im Kontrast zum »statischen« Strukturalismus als »dynamisch« bezeichnete, und erarbeitete die erste soziologische Historiografie präkolonialer afrikanischer Staatenbildung. Merciers soziologischer Ansatz war in erster Linie ein historischer. Er kritisierte die Anwendung gemeingebräuchlicher Begriffe von sozialer Klasse auf Afrika, darunter solche, die er als »vermeintlich marxistisch« bezeichnete, »vereinfachende und starre« Begriffe, die »in den meisten Fällen die Perspektive völlig zu verzerren« drohten.13 Kolonien unterschieden sich von anderen Gesellschaften durch den radikalen Gegensatz zwischen der herrschenden europäischen Schicht und dem Rest der Bevölkerung.14 Die »Zweiteilung der Kolonialgesellschaft nach rassistischen Gesichtspunkten« und »der Widerstand gegen die Kolonisatoren hielt die afrikanische Gesellschaft davon ab, sich mit sich selbst zu entzweien«.15 Besonders in Zeiten »extremer Krisen« tendierte die Kolonialgesellschaft dazu, sich entlang der...