E-Book, Deutsch, Band 11, 608 Seiten
Reihe: Manesse Bibliothek
Steinbeck Der Winter unseres Missvergnügens
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-21738-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 11, 608 Seiten
Reihe: Manesse Bibliothek
ISBN: 978-3-641-21738-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
John Steinbecks letzter Roman ist ein bis heute gültiges Lehrstück über Geld und Moral: Sein Protagonist Ethan Hawley, Hätschelkind der Finanzaristokratie von Long Island, muss sich um materielle Dinge nicht sorgen - bis ihn die Pleite seines Vaters plötzlich zwingt, auf eigenen Beinen zu stehen. Um Frau und Kinder ernähren zu können, tritt er eine schlechtbezahlte Stelle als Verkäufer in einem Lebensmittelladen an. Rasch erkennt jedoch er, dass redliches Tagwerk einen Mann nicht weiterbringt. Unter dem Einfluss seiner Frau und dem seines Bankberaters entledigt er sich aller Menschlichkeit und steigt zum skrupellosen Geschäftsmann auf, der ohne Rücksicht auf andere nur den eigenen Vorteil sucht.
John Steinbeck wurde 1902 in Kalifornien geboren. Sein 1919 begonnenes Studium der Naturwissenschaften beendete er nach fünf Jahren ohne Abschluss, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. In seinen Büchern thematisierte Steinbeck vor allem die Lebensverhältnisse einfacher Arbeiter und sozial schwächer Gestellter. Zu seinen bekanntesten Werken zählen dabei die Novelle 'Von Mäusen und Menschen' sowie die beiden Romane 'Früchte des Zorns' und 'Jenseits von Eden'. 1962 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. John Steinbeck verstarb 1968 in New York. Er gilt bis heute als einer der erfolgreichsten und beliebtesten Autoren der USA.
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Erster Teil
1
Kaum wurde Mary Hawley vom schönen goldenen Aprilmorgen geweckt, drehte sie sich zu ihrem Gatten um, nur um zu sehen, wie er ihr mit seinen kleinen Fingern einen Froschmund zog.
«Du bist albern, Ethan», sagte sie. «Hör auf, herumzukaspern.»
«Ach, sag an, Miss Mäuschen, willst du mich heiraten?»
«Bist du schon albern aufgewacht?»
«Das Jahr beginnt mit diesem Tag, der Tag mit diesem Morgen.»
«Sieht ganz danach aus. Weißt du wenigstens, dass heute Karfreitag ist?»
Mit dumpfer Stimme verkündete er: «Die niederträchtigen Römer sammeln sich zum Marsch auf Golgatha.»
«Nun lästere nicht auch noch. Erlaubt Marullo dir heute, den Laden um elf zu schließen?»
«Liebste Gluckenblume, Marullo ist Katholik und obendrein Itaker. Der lässt sich heute bestimmt nicht blicken. Ich mache über Mittag zu, bis die Hinrichtung vorbei ist.»
«Das ist Pilgervätergerede und gar nicht nett.»
«Unsinn, Marienkäferchen. Das kommt von meiner mütterlichen Seite, ist also Piratengerede. Und wie du weißt, ist’s ja wirklich eine Hinrichtung gewesen.»
«Die waren gar keine Piraten. Walfänger waren sie, hast du selber gesagt, und du hast auch gesagt, sie hätten dafür Freibriefe oder so was vom Kontinentalkongress1 gehabt.»
«Die Besatzung der Schiffe, auf die sie feuerten, haben sie jedenfalls für Piraten gehalten. Und die römischen Kommissköpfe hielten es für eine Hinrichtung.»
«Jetzt bist du sauer. Albern mag ich dich lieber.»
«Ich bin doch albern. Weiß jeder.»
«Du machst mich immer ganz konfus, dabei kannst du wirklich stolz auf dich sein – Pilgerväter und Walfangkapitäne in ein und derselben Familie.»
«Wären sie’s?»
«Wie bitte?»
«Wären meine großartigen Vorfahren stolz, wenn sie wüssten, dass sie einen gottverdammten Verkäufer in einem gottverdammten Itakerladen in jener Stadt hervorgebracht haben, die einmal ihnen gehört hat?»
«Bist du doch gar nicht. Du bist fast so was wie der Geschäftsführer, führst die Bücher, bringst das Geld zur Bank und bestellst die Ware.»
«Klar doch, und ich fege aus, trage den Müll nach draußen, katzbuckle vor Marullo, und wär ich ein gottverdammter Kater, würde ich auch noch seine Mäuse fangen.»
Sie legte ihre Arme um ihn. «Komm, lass uns lieber albern sein», sagte sie. «Und bitte fluch nicht am Karfreitag. Ich liebe dich doch.»
«In Ordnung», sagte er nach einem Moment. «Das behaupten sie alle, aber glaub bloß nicht, deshalb dürftest du splitterfasernackt neben einem verheirateten Mann liegen.»
«Ich wollte dir von den Kindern erzählen.»
«Sind sie im Gefängnis?»
«Jetzt bist du wieder albern. Vielleicht wäre es besser, sie erzählen es dir selbst.»
«Verflixt, warum …»
«Margie Young-Hunt liest mir heute wieder die Karten.»
«Sie liest die Karten wie ein Buch? Wer ist denn diese Margie Young-Hunt? Was hat sie nur, dass so viele Verehrer …»
«Weißt du, wenn ich eifersüchtig wäre … Ich meine, es heißt ja, wenn ein Mann so tut, als würde er eine hübsche junge Frau nicht sehen …»
«Ach, die meinst du. Junge Frau? Die war schon zweimal verheiratet.»
«Der zweite Mann ist gestorben.»
«Ich hätte jetzt gern mein Frühstück. Glaubst du an diesen Kokolores?»
«Na ja, das mit meinem Bruder wusste Margie aus den Karten. Eine mir teure und nahestehende Person, hat sie gesagt.»
«Ich verpasse einer mir teuren und nahestehenden Person gleich einen Tritt in den Allerwertesten, wenn sie nicht bald den Tisch deckt …»
«Ich geh ja schon … Eier?»
«Na klar. Warum heißt es eigentlich Passionszeit? Wo bleibt denn da die Leidenschaft?»
«Ach, du», sagte sie, «immer musst du Witze machen.»
Der Kaffee war fertig, und die Eier lagen in einer Schüssel neben dem Toast, als Ethan Allen Hawley sich in die Essnische am Fenster schob.
«Ich fühle mich voller Energie», sagte er. «Warum heißt es eigentlich Passionszeit?»
«Frühjahr», tönte es vom Herd herüber.
«Frühjahrsleidenschaft?»
«Frühjahrsmüdigkeit. Sind die Kinder schon auf?»
«Träum weiter. Diese faulen kleinen Biester. Los, peitschen wir sie aus den Federn.»
«Du redest schrecklich dummes Zeug, wenn du so albern bist. Kommst du zwischen zwölf und drei nach Hause?»
«Nö.»
«Warum nicht?»
«Weiber. Schmuggle sie in den Laden. Vielleicht sogar diese Margie.»
«Bitte, Ethan, jetzt rede nicht so. Margie ist eine gute Freundin. Die würde dir ihr letztes Hemd schenken.»
«Ach ja? Woher hat sie denn das Hemd?»
«Das ist wieder Pilgervätergerede.»
«Ich möchte wetten, dass wir verwandt sind. Die hat Piratenblut in den Adern.»
«Ach, und jetzt bist du wieder albern. Hier ist die Liste.» Sie stopfte sie ihm in die Brusttasche. «Sieht nach viel aus, aber denk dran, es ist Ostern – und noch zwei Dutzend Eier, nicht vergessen. Du kommst zu spät.»
«Ich weiß. Marullo gehen bestimmt ein paar lumpige Kröten durch die Lappen. Warum zwei Dutzend?»
«Zum Färben. Allen und Mary Ellen haben extra drum gebeten. Und jetzt mach dich lieber auf den Weg.»
«Okay, mein Käferblümchen – aber kann ich vorher nicht noch eben nach oben laufen und Allen und Mary Ellen windelweich prügeln?»
«Du verwöhnst die beiden viel zu sehr, Eth. Das weißt du doch.»
«Na dann, leb wohl, meine Staatsfregatte2», sagte er, knallte die Fliegengittertür hinter sich zu und trat in den grüngoldenen Morgen hinaus.
Er warf einen Blick zurück auf das prächtige alte Haus, das Haus seines Vaters und Urgroßvaters, ein weiß gestrichenes Holzhaus mit einem Lünettenfenster über der Tür, barocken Türmchen und einem Witwengang3 auf dem Dach. Es lag tief eingebettet im grünen Garten inmitten hundert Jahre alter Fliederbüsche mit mannsdicken Stämmen und knospenden Blüten. Frische Triebe färbten die ineinander verschlungenen Kronen der Ulmen entlang der Elm Street gelb, und die Sonne lugte soeben über das Bankgebäude, spiegelte sich im silbrigen Gasometer und ließ aus dem alten Hafenbecken den Geruch nach Tang und Salzwasser aufsteigen.
So früh war in der Elm Street nur ein einziges lebendes Geschöpf zu sehen, Mr. Bakers roter Setter, genannt Red Baker, der Hund des Bankiers, der mit bedächtiger Würde die Straße abschritt und nur gelegentlich innehielt, um an den Stämmen der Ulmen zu erschnüffeln, wer bereits des Wegs gekommen war.
«Guten Morgen, der Herr. Ich heiße Ethan Allen Hawley. Ich sah Euch hier schon des Öfteren Eure Geschäfte erledigen.»
Red Baker blieb stehen und erwiderte den Gruß mit einem langsamen Wedeln der buschigen Rute.
Ethan sagte: «Gerade habe ich mir mein Haus angesehen. Früher wussten die Leute noch, wie man ein Haus baut.»
Red legte den Kopf schief, winkelte ein Hinterbein an und kratzte sich damit leger die Rippen.
«Und warum auch nicht? Sie hatten Geld. Das Walöl der sieben Meere und weißer Amber. Wisst Ihr, was weißer Amber ist?»
Red ließ ein winselndes Seufzen hören.
«Verstehe, Ihr wisst es nicht. Ein helles, lieblich nach Rosen duftendes Öl aus der Schädelhöhle des Pottwals. Lest ‹Moby Dick›, verehrter Hund. Einen besseren Rat kann ich Euch nicht geben.»
Der Setter hob ein Bein am schmiedeeisernen Zaunpfosten neben dem Rinnstein.
Während Ethan sich abwandte, um weiterzugehen, sagte er über die Schulter: «Und schreibt bitte eine Buchbesprechung. Könnte mein Sohn was von lernen. Der weiß nicht mal, wie man ‹Amber› buchstabiert – oder sonst irgendein Wort.»
Zwei Querstraßen hinter Ethan Allen Hawleys Haus stößt die Elm Street im rechten Winkel auf die High Street. Auf halbem Weg zur ersten Querstraße balgte sich eine Schar rüpeliger Hausspatzen auf dem grünenden Rasen vor dem Haus der Elgars. Ein Spiel war das nicht; sie hüpften, pickten und hackten so wild und lärmend aufeinander ein, dass sie Ethan nicht näher kommen hörten. Er blieb stehen, um sich die Schlacht anzusehen.
«Vögel in ihren kleinen Nestern vertragen sich», sagte er. «Und warum könnt ihr das nicht? Also das nenne ich einen Haufen Pferdemist. Nicht mal an diesem schönen Morgen könnt ihr Winzlinge euch vertragen, dabei seid ihr die kleinen Scheißerchen, zu denen der Heilige Franziskus nett gewesen ist. Zum Teufel mit euch!» Er stürmte auf sie zu, trat um sich, und die Spatzen stoben mit leisem Flügelflattern, aber lautem Gezwitscher davon, das wie kreischende Türangeln klang. «Eins noch», rief Ethan ihnen nach, «um die Mittagszeit wird sich die Sonne verdunkeln, eine Finsternis legt sich über die Erde, und ihr werdet euch ängstigen.» Er kehrte zum Bürgersteig zurück und setzte seinen Weg fort.
Das alte Haus der Familie Phillips kurz vor der zweiten Querstraße war mittlerweile eine Pension. Joey Morphy, Kassierer in der First National, trat vor die Tür. Er bohrte mit einem Zahnstocher im Gebiss, strich seine karierte Weste glatt und rief Ethan einen Gruß zu. «Wollte gerade bei Ihnen vorbeischauen, Mr. Hawley.»
«Warum heißt es eigentlich Passionszeit?»
«Geht aufs Lateinische zurück», erwiderte Joey. «Passius, passilius,...