E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Stein / Kranert Aus der Schule in Beruf und Arbeit
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-042376-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Teilhabeperspektiven bei sonderpädagogischem Förderbedarf
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-17-042376-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Roland Stein ist Lehrstuhlinhaber für Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Universität Würzburg. Hans-Walter Kranert ist dort Akademischer Oberrat.
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Teilhabe als Weg und Ziel
Christian Walter-Klose
Zugegeben – der Begriff der Teilhabe klingt im ersten Moment für Menschen, die sich neu im Kontext Behinderung bewegen, fremd, ungewöhnlich und ein wenig altertümlich. Und doch beschreibt er in einfacher Weise das Paradigma, das in den letzten Jahrzehnten der Weg und das Ziel des Engagements für Menschen mit Beeinträchtigungen geworden ist: Menschen mit Behinderung sollen gleichwertig wie ihre Mitmenschen am Leben in der Gesellschaft teilhaben. Teilhabe bedeutet dabei mehr als nur dabei zu sein. Sie beinhaltet die Möglichkeiten, mitzubestimmen und Einfluss auf die Gestaltung der eigenen Lebenssituation zu haben (z.?B. DHG 2021, 16?ff.).
Teilhabe hat in diesem Verständnis mit sozialer Gerechtigkeit und gleichwertigen Lebensbedingungen für alle Menschen zu tun – ein Bemühen, das sich auch in den Diskursen um Empowerment, Selbstbestimmung und Inklusion abbildet (z.?B. Lindmeier & Meyer 2020). Es geht um die Beziehung von Individuum und Umwelt, die Stärkung des Einzelnen mit Blick auf Selbstbestimmung und persönlicher Entscheidungskompetenz sowie den Abbau von Teilhabebarrieren. Bartelheimer (2007, 4) stellt in diesem Zusammenhang heraus, dass der Teilhabebegriff »in den letzten Jahren zu einem Leitkonzept der wissenschaftlichen und politischen Verständigung über die Zukunft des deutschen Sozialmodells aufzusteigen [beginnt]. Er markiert die Schwelle, deren Unterschreiten öffentliches Handeln und soziale Sicherungsleistungen auslösen soll«.
Trotz dieser Bedeutung ist festzustellen, dass mit dem Teilhabebegriff im fachlichen Diskurs Unklarheiten verbunden sind, so dass es schwer ist, Aussagen, ob und in welchem Ausmaß Teilhabe vorliegt, zu treffen. Diese Herausforderungen sollen im Folgenden skizziert und Lösungsmöglichkeiten im Kontext Arbeit aufgezeigt werden.
1 Annäherungen an den Teilhabebegriff
Die Beschäftigung mit der Teilhabe von Menschen berührt vielfältige Handlungsfelder aus den Bereichen der Selbsthilfe, des Sozial- und Menschenrechts, der Rehabilitation und Gesundheitswissenschaft sowie der Pädagogik und Psychologie. Diese einerseits positive Tatsache – zeigt sie doch die Relevanz des Themas – bedingt andererseits Differenzen und Unschärfen in der Begriffsverwendung. So kommen Bartelheimer und Kolleg*innen (2020) nach der Analyse des Teilhabeverständnisses in den Handlungsfeldern der Rehabilitation und Behindertenhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe und Sozialhilfe zu dem Schluss:
»Die gemeinsame Bezugnahme auf Teilhabeziele schlägt bisher noch keine Brücke zwischen den Handlungsfeldern. Wo ein ›Mindestmaß‹ an Teilhabe beginnt und wo ›volle‹ Teilhabe erreicht ist, wird entweder unterschiedlich bestimmt oder ein konkreter Maßstab fehlt noch ganz« (Bartelheimer et al. 2020, 15?f.).
Versucht man sich in einem ersten Schritt dem Begriff Teilhabe zu nähern, lohnt ein Bezug zur Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (DIMDI 2005) – ein Klassifikationssystem, für das ein biopsychosoziales Modell zur Beschreibung von Krankheitsfolgen oder Folgen von Gesundheitsprobleme entwickelt wurde (? Abb. 1). Dieses Modell dient dem Ziel, Auswirkungen eines Gesundheitsproblems, einer Entwicklungsstörung oder einer Krankheit auf die Funktionsfähigkeit eines Menschen zu beschreiben und in der Folge rehabilitative Maßnahmen auszurichten. Einschränkungen der Funktionsfähigkeit des Menschen lassen sich mit der ICF im Bereich körperlicher und psychischer Funktionen sowie Schädigungen abbilden, die bei einem Menschen vor dem Hintergrund seines Lebenskontextes zu Beeinträchtigungen im Bereich Aktivität und Partizipation führen können. Partizipation – sie wurde im Rahmen der Übersetzung mit dem deutschen Begriff Teilhabe gleichgesetzt – kann in diesem Modell in neun verschiedenen Lebensbereichen unterschieden werden. Sie differenziert in die Kategorien Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, bedeutende Lebensbereiche sowie Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.
Abb. 1:Das biopsychosoziale Modell der ICF (DIMDI 2005, 23)
Im Rahmen der ICF wird Teilhabe mit dem »Einbezogensein in eine Lebenssituation« (DIMDI 2005, 19) beschrieben, wobei das Ausmaß des Einbezogenseins in Bezug zur Norm gleichalter Personen eingeschätzt werden kann und stets Aspekte von Mitwirkung und Mitbestimmung umfasst (vgl. Schuntermann 2022). Pretis geht hier einen Schritt weiter, indem er den Altersnormbezug erweitert und personbezogene Perspektiven stärkt. Für ihn zielt »Teilhabe auf all das [ab] [...], was eine Referenzgruppe oder Altersgruppe in der aktiven Auseinandersetzung mit sozialen Anforderungen tun kann oder tun sollte, um sich als mitgestaltendes Mitglied dieser Gruppe oder Gesellschaft zu erleben« (Pretis 2022, 8). Teilhabe umfasst nach Pretis Aspekte des sich zugehörig Fühlens, des gemeinsamen Erlebens, der Beteiligung am Diskurs und des aktiven Beitragens, wobei das Ausmaß neben gesellschaftlichen Normen oder alterstypischen Verhaltensweisen auch durch personale Faktoren wie z.?B. Alter, Interessen und Kompetenzen beeinflusst wird.
Es wird deutlich: Der anfangs relativ klar erscheinende Begriff der Teilhabe beinhaltet in dieser Logik die Herausforderung der Referenzierung, wobei personbezogene, altersbezogene, regionale und gesellschaftliche Normen und Vorstellungen, welches Maß an Teilhabe angemessen sei, divergieren können (vgl. Bartelheimer 2007, 8). Es stellt sich die Frage, wie individuumsbezogene Perspektiven und Wünsche gegenüber gesellschaftlichen und (sozial-)politischen Normen gewichtet werden. Dieses Spannungsfeld löst die ICF nicht – bildet es aber ab, indem neben dem Einbezogensein der Aspekt der Selbst- und Mitbestimmung herausgestellt wird und personbezogene Wünsche und Perspektiven in die Bewertung der Funktionsfähigkeit mit einbezogen werden.
Ein weiterer bedeutsamer Einfluss auf das Verständnis von Teilhabe ergibt sich aus den Bemühungen um Selbst- und Mitbestimmung im Rahmen der Heil- und Sonderpädagogik (vgl. Dederich 2016), der Gesundheitswissenschaften (z.?B. Hartung 2012) sowie aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe seit den 1990er Jahren (Hart 1992; Gernert 1993). In diesen Ansätzen wird Partizipation eng im Zusammenhang mit Mitwirkungsrechten als »Entscheidungsteilhabe« (ebd., 58) verstanden. Mit Blick auf das Ausmaß an Selbst- und Mitbestimmung formulierten Wright, Unger und Block (2010) in diesem Zusammenhang ein Stufenmodell der Partizipation (? Abb. 2). Für sie liegt Partizipation dann vor, wenn Menschen das Recht und die Möglichkeit haben, über Inhalte und Gestaltung des Lebensbereiches und der dort durchzuführenden Aktivitäten mitzubestimmen (Stufe 6) oder teilweise (Stufe 7) bzw. vollständig (Stufe 8) selbst zu bestimmen. Eine reine Einbeziehung in einen Lebensbereich (ohne damit verbundenes Selbst- und Mitbestimmungsrecht) wäre in diesem Sinne eine Vorstufe der Partizipation (Stufe 5) ebenso wie Anhörungen oder eine zielgruppenangepasste Kommunikation. Das Instrumentalisieren von Menschen und ihnen vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben, erreicht weder den Status der Einbeziehung noch der Partizipation.
Abb. 2:Stufen der Partizipation von Wright, Unger und Block (2010) (eigene Darstellung)
Im Rahmen dieser Logik betont der Partizipationsbegriff die Mitbestimmungsmöglichkeiten, die über eine reine Einbeziehung hinausgehen, so dass diese Schwerpunktsetzung eine andere Konnotation bekommt als die mit dem Teilhabebegriff verbundenen, nicht hierarchisierten Komponenten Einbeziehung und Selbstbestimmung. Bei einer Gleichsetzung von Partizipation und Teilhabe geht diese Trennschärfe verloren.
Zusammengenommen lässt sich an feststellen, dass der Teilhabebegriff drei Dimensionen vereint: Neben dem Fokus auf das »Einbezogensein in einen Lebensbereich«, welches normativ mit Blick auf eine Referenzgruppe oder subjektiv mit Blick auf eigene Vorstellungen oder Bedarfe bewertet werden kann, ist Teilhabe durch die Möglichkeit der Selbst- und Mitbestimmung gekennzeichnet. Eine dritte Dimension des Teilhabekonzepts kann durch die Konsequenz des selbstbestimmten Einbezogenseins beschrieben werden: Ein »ungehindertes Handeln und aktiv sein können« ist im Rahmen normativer Vorstellungen und individueller Bedarfe möglich.
2 Teilhabebarrieren und Teilhabepotenziale im Arbeitsleben
Die Teilhabe ist für den Menschen in allen Lebensbereichen von großer Bedeutung. Sie ist Quelle von Gesundheit und Wohlbefinden (z.?B. Tielking 2019) und Grundlage für persönliches Wachstum. Dies gilt insbesondere im Arbeitsleben: Neben Einkommen und sozialer Absicherung trägt die Teilhabe am Arbeitsleben zu sozialen Kontakten bei, sorgt für Strukturierung des Tages und ermöglicht...