Steiger | Jeder von uns ist ein Rätsel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Steiger Jeder von uns ist ein Rätsel

Eine wunderschöne Liebesgeschichte im Autismus-Spektrum
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-646-92982-9
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine wunderschöne Liebesgeschichte im Autismus-Spektrum

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-646-92982-9
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Anrührend und voller Hoffnung: die wunderschöne Liebesgeschichte eines Mädchens mit Asperger-Syndrom! Andere Menschen zu verstehen ist für Alvie eine Herausforderung. Ihr Lieblingsbuch ist die Kaninchensaga »Unten am Fluss« und richtig wohl fühlt sie sich nur in ihrem Job im Zoo, bei den Tieren. Doch als sie Stanley kennenlernt, ist alles anders: Er interessiert sich nicht nur für Quantenphysik wie sie, sondern ist auch unendlich geduldig. Aber auch Stanley fällt es schwer, sich zu öffnen. Und es ist ein langer, zum Teil sehr komischer, manchmal trauriger und wunderschöner Weg, der sie am Ende zusammenbringt - zu so etwas Ähnlichem wie Glück. »Eine umwerfende Liebesgeschichte voller Tiefe und Emotionen.« Kirkus Review

A. J. Steiger hat ihr ganzes Leben in Chicago verbracht. Sie studierte am Columbia College kreatives Schreiben und fasst die Bezeichnung »Nerd« als Kompliment auf. A.J. Steiger mag Hunde, Craft Beer und Pfannkuchenrestaurants.
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2. KAPITEL


Im Hickory Tierpark steht neben dem Hyänengehege ein Schild:

GLÜCKLICH? TRAURIG? WÜTEND?

Und darunter, etwas kleiner:

Wenn man Tieren menschliche Gefühle zuschreibt, nennt man das Anthropomorphisierung. Statt zu fragen »Was fühlt ein Tier?«, sollte man lieber fragen: »Wie verhält es sich?«

Jeden Tag, wenn ich zur Arbeit komme, sehe ich dieses Schild. Ich hasse es.

Elefanten trauern um ihre Toten. Affen können sich genauso geschickt über Zeichensprache verständigen wie ein Kind im Alter von fünf Jahren. Krähen sind hervorragende Problemlöser; in Laborversuchen hat man festgestellt, dass sie Hilfsmittel wie Steine oder Strohhalme nicht nur nutzen, sondern auch modifizieren können, um damit an Nahrung zu gelangen. Bei Tieren wird so eine Fähigkeit als instinktives oder konditioniertes Verhalten abgetan, während sie beim Menschen als unzweifelhafter Beweis seiner Überlegenheit gilt. Nur weil Tiere ihre Gedanken und Gefühle nicht mit Worten ausdrücken können, scheinen manche Leute zu glauben, sie hätten keine.

Manchmal stelle ich mir vor, wie ich nachts in den Tierpark einbreche, das Schild entwende und im nächsten Fluss versenke.

Ich sitze in meinem khakifarbenen Arbeitsanzug auf einer Bank und esse ein Sandwich mit Mortadella und Senf, wie in jeder Mittagspause. Die Hyänen streunen schnuppernd durch ihr Gehege, das an eine Felsenhöhle erinnert, und kratzen an den Wänden. Kiki, das dominante Weibchen, nagt an den Gitterstäben.

Eine Frau eilt an mir vorbei und zieht einen pummeligen kleinen Jungen hinter sich her, vielleicht sieben Jahre alt, der ein Waffeleis isst.

»Hallo!«, zwitschert die Mutter und lächelt breit. Ihr Mund ist mit knallrotem Lippenstift vollgeschmiert. »Könnten Sie wohl kurz auf ihn aufpassen? Ich muss zur Toilette.« Sie stürmt los, bevor ich irgendetwas erwidern kann.

Der kleine Junge steht vor mir, das Eis in der Hand, und mustert mich misstrauisch.

Was denkt sie sich eigentlich dabei, ihr Kind mit einer wildfremden Person allein zu lassen? Ich könnte schließlich eine Kinderschänderin sein. Oder so sturzbesoffen, dass ich mit hängender Kinnlade zuschaue, wie ihr Sohn ins Hyänengehege klettert. Bin ich nicht, aber darum gehts ja auch gar nicht.

»Hallo«, sagt der Junge.

Ich habe keine Ahnung, was ich tun oder sagen soll, deshalb esse ich einfach weiter und behalte ihn nur so weit im Auge, dass er mir nicht weglaufen kann.

Er leckt an seinem Eis. »Bist du so was wie ein Dompteur? Bringst du den Tieren Tricks und Kunststücke bei?«

»Nein. Ich füttere sie und mache ihren Käfig sauber.«

Er zeigt auf Kiki, die immer noch am Gitter nagt. »Warum macht der das?«

Ich schlucke einen Sandwich-Bissen hinunter. »Das nennt man stereotypes Verhalten. Das ist so eine Art nervöser Tick, wie Nägelkauen.«

»Dann ist er also irgendwie krank?«

»Nein. Bei Tieren in Gefangenschaft sind Zwangshandlungen sehr verbreitet. Eine normale Reaktion auf eine unnormale Umgebung.« Dann füge ich noch hinzu: »Außerdem ist das kein Er, sondern eine Sie. Ihr Name ist Kiki.«

»Nie im Leben. Der hat doch ein Ding. Einen Penis.« Er spricht das Wort sehr deutlich aus, als wüsste er nicht genau, ob ich es kenne.

Ich beiße von meinem Sandwich ab und sage mit vollem Mund: »Das ist kein Penis.«

Er legt sein sommersprossiges Gesicht in Falten. »Sondern?«

»Eine phallusartige Klitoris.«

»Eine was

»Weibliche Hyänen nehmen im Tierreich eine Sonderstellung ein. Sie sind größer als die Männchen und dominant, und ihre Klitoris hat fast die gleiche Größe wie …«

Ich unterbreche mich, als die Mutter des Jungen, mit hochrotem Gesicht und verkniffenen Lippen, seine Hand nimmt und ihn von mir wegzerrt.

»Mama«, sagt der Junge laut, »was ist eine Klitoris?«

»Irgendein Vogel«, murmelt sie.

»Die Frau hat aber was anderes gesagt.«

»Tja, dann müssen wir wohl mal mit ihrer Chefin sprechen, was?«

Ein Tropfen Senf löst sich von meinem Mortadella-Sandwich und landet auf den Pflastersteinen zwischen meinen Füßen. Ich beiße noch mal ab, aber das Brot schmeckt plötzlich wie Staub. Es bleibt mir in der Kehle stecken.

Am Nachmittag, kurz vor dem Ende meiner Schicht, ruft mich Miss Nell, die Eigentümerin des Hickory Tierparks, in ihr Büro. Finster starrt sie mich über ihren Schreibtisch hinweg an und trommelt mit ihren lackierten Fingernägeln auf die Armlehne ihres Stuhls. Miss Nell ist stämmig und kurzhaarig und ihre Kleidung tut einem in den Augen weh. Heute trägt sie eine Jacke in Neonpink, Ton in Ton mit Duke, dem Papagei, der in dem Käfig hinter ihr sitzt. Auf der Brust hat er eine kahle Stelle, wo er sich immer die Federn ausrupft, auch so eine Zwangshandlung.

»Du weißt, warum du hier bist, oder?«, fragt sie.

Ich rutsche auf meinem Stuhl herum. »Wegen etwas, das ich gesagt habe. Aber er hat mich schließlich gefragt und …«

»Alvie.«

Ich verstumme.

»Ich weiß verdammt gut, dass du nicht halb so blöd bist, wie du dich manchmal anstellst.« Sie flucht immer nur, wenn sie schon ziemlich aufgebracht ist. Das macht mich nervös. »Und selbst dir muss doch wohl klar sein, dass man einem wildfremden Kind nicht gleich die Sache mit den Bienchen und Blümchen erklärt. Schon gar nicht, wenn die Mutter in Hörweite ist.«

»Ich habe ihm die Anatomie der Hyänen erklärt. Es gehört zu meinem Job, alle Fragen der Besucher zu den Tieren zu beantworten. Das haben Sie selbst gesagt.«

Sie schließt kurz die Augen und kneift sich in den Nasenrücken. »Red keinen Scheiß!«

Und Duke, der Papagei, ruft krächzend aus seiner Ecke: »Red keinen Scheiß!«

Ich starre auf meine Füße. »Soll ich mich bei der Mutter des Jungen entschuldigen?«

»Nein, dann machst du es bestimmt nur noch schlimmer.«

Ich erwidere nichts, denn sie hat recht.

»Nebenbei bemerkt«, fährt sie fort, »ist das auch nicht die erste Beschwerde über dich, die mir zu Ohren kommt.«

Ich erstarre. »Bitte geben Sie mir noch eine Chance. Ich werde …«

Sie hebt die Hand. »Entspann dich, ich habe nicht die Absicht, dich zu feuern. Aber ab jetzt hältst du bitte deinen vorlauten Mund, wenn Besucher in der Nähe sind. Konzentrier dich aufs Füttern und Saubermachen.«

Ich zögere. »Und wenn ich etwas gefragt werde.«

»Stellst du dich taub.«

»Wie mache ich das.«

»Keine Ahnung. Mach irgendwelche Zeichen.« Sie fuchtelt mit den Händen, als würde sie Schweinchen-auf-der-Leiter spielen oder jemanden verzaubern. »So zum Beispiel.«

»Ich kann keine Gebärdensprache.«

»Dann tu halt so, als ob«, faucht sie.

Ich nicke nur, aus Angst, dass sie, wenn ich widerspreche, noch mal ihre Meinung ändert.

Ich arbeite hier zwar schon seit über einem Jahr, aber mir ist durchaus bewusst, dass mein Job ständig auf der Kippe steht. Und ich habe kaum etwas gespart. Mein Verdienst reicht gerade so eben für Miete, Essen und Auto, und wenn ich meine Rechnungen nicht bezahlen kann, setzt der Staat wieder einen Vormund ein. Schlimmer noch: Wenn ich es nicht schaffe, ein halbwegs normales Erwachsenenleben zu führen, könnte ein Richter mich für geschäftsunfähig erklären, was den endgültigen Verlust meiner Freiheit bedeuten würde. Angesichts meiner Vorgeschichte wäre das nicht ausgeschlossen. Womöglich würde ich wieder in irgendeiner Wohngruppe landen, und das nicht nur bis ich achtzehn werde, sondern für den Rest meines Lebens.

Ich darf diesen Job nicht verlieren.

Nach Feierabend tausche ich meine Uniform gegen normale Kleidung, gehe in den Park mit dem Ententeich und setze mich an meinen gewohnten Platz unterm Baum. Nach einer Weile schaue ich auf die Uhr: Fünf nach sechs, und der Junge mit dem Stock ist immer noch nicht da.

Dass er zu spät kommt, gefällt mir gar nicht. Ich weiß nicht, was genau mich daran stört oder warum es mich überhaupt interessiert, aber nach dem unerfreulichen Gespräch mit Dr. Bernhardt und der Standpauke von Miss Nell habe ich ohnehin schon das Gefühl, dass meine Welt aus den Fugen gerät. Seine Verspätung ist nur ein weiterer Missklang, ein weiteres Zeichen der Disharmonie.

Eine Zeit lang laufe ich rastlos auf und ab, dann setze ich mich ins Gras und pule an dem Loch im linken Knie meiner Strumpfhose herum, bohre den Finger hinein und weite es, bis der Junge schließlich aus dem Gebäude kommt. Ich flitze hinter einen Baum und beobachte von dort aus, wie er über die Straße humpelt und den Park betritt.

Irgendwie kommt er mir heute anders vor. Ganz langsam und steif, als hätte er Schmerzen, lässt er sich auf der Parkbank nieder. Das Gesicht hat er von mir abgewandt, deshalb kann ich seinen Ausdruck nicht erkennen.

Mit angehaltenem Atem spähe ich hinter dem Stamm hervor und warte ab.

Erst rührt er sich nicht, starrt einfach nur vor sich hin. Dann legt er den Kopf in die Hände, und seine Schultern werden von lautlosen, bebenden Krämpfen erschüttert.

Er weint.

Ich bin ganz still und wage kaum zu atmen. Nach ein paar Minuten lässt das Zucken seiner Schultern nach und er sitzt reglos da, in sich zusammengesunken. Dann steht er mühsam auf, zieht sein Handy aus der Tasche und wirft es in den Teich. Das Platschen erschreckt ein paar Enten, die mit vielstimmigem Geschnatter davonfliegen.

Hinkend verlässt er den...


A. J. Steiger hat ihr ganzes Leben in Chicago verbracht. Sie studierte am Columbia College kreatives Schreiben und fasst die Bezeichnung "Nerd" als Kompliment auf. A.J. Steiger mag Hunde, Craft Beer und Pfannkuchenrestaurants.



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