Steidele | Zeitreisen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 269 Seiten

Steidele Zeitreisen

Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95757-671-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg

E-Book, Deutsch, 269 Seiten

ISBN: 978-3-95757-671-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



1840 reisten die Engländerinnen Anne Lister und Ann Walker im Pferdeschlitten auf der zugefrorenen Wolga bis zum Kaspischen Meer und weiter über den Großen Kaukasus nach Tbilissi und Baku. Anne Lister starb völlig unerwartet auf einer Bergtour in Georgien. Ihre Gefährtin Ann Walker benötigte sieben Monate, um den Sarg mit der Leiche der Geliebten zurück nach Halifax zu bringen. Nach dem Entschluss, eine Biografie über die freizügige Tagebuchautorin und verwegene Reisende Anne Lister zu schreiben, begibt sich Angela Steidele auf die Spuren des außergewöhnlichen Paars, begleitet von ihrer Russisch radebrechenden Frau. Hilft ihre Reise, die Abenteuer von Anne und Ann zu würdigen? Was erzählen die Orte, Landschaften und Menschen heute von fernen Zeiten? Kann man überhaupt in die Vergangenheit reisen? Welche Vergangenheit? Zeitreisen erlaubt einen so anschaulichen wie vergnüglichen Blick in die Werkstatt einer Biografin und bildet den zweiten Teil einer Trilogie von Angela Steidele zu biografischem Schreiben, die mit Anne Lister. Eine erotische Biographie (2017) begonnen hat und mit einer Poetik der Biographie 2019 schließen wird.

Angela Steidele, 1968 geboren in Bruchsal, erforscht und erzählt historische Liebesgeschichten. Sie veröffentlichte u. a. In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel, 2004, sowie Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens, 2010. Für ihr literarisches Debüt Rosenstengel erhielt sie 2015 den Bayerischen Buchpreis. Ihre Trilogie zu biographischem Schreiben schließt Angela Steidele nach Anne Lister. Eine erotische Biografie, 2017, und Zeitreisen. Vier Frauen. Zwei Jahrhunderte. Ein Weg mit der Poetik der Biographie ab. Angela Steidele lebt in Köln.

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Tourismus
Es gleicht daher einem Wunder, dass Sankt Petersburg noch oder wieder so aussieht wie zu Anne Listers und Ann Walkers Zeit. So ungefähr jedenfalls. Gäste aus London, mit 1,6 Millionen Einwohnern damals die größte Stadt der Welt, wunderten sich, wie vornehm leise Sankt Petersburg wirkte, das doch auch 450 000 Einwohner hatte; das lag an den Fahrspuren aus Holzblöcken, mit denen der Newski-Prospekt belegt war und über die die Droschken lautlos dahinglitten. Als Touristinnen mit Wissensdurst, Sachverstand und Stehvermögen besuchten Anne Lister und Ann Walker u. a. die Kunstkammer, die Akademie der Wissenschaften, die Bergakademie mit ihren künstlichen Stollen und Schächten im Keller und das kleine Holzhaus von Peter I. am Petrowski-Kai, das schon damals von Arkaden aus Stein und einem Dach überm Dach vor der Witterung geschützt wurde. Darin gab es, wie heute, Peters Mobiliar und Arbeiten von seiner Hand zu sehen, damals aber auch noch ihn selbst aus Wachs, lebensgroß, in Staatsgala, hellblau und Silbersatin.7 In der Kaiserlichen Bibliothek ließen sich Anne und Ann seltene Handschriften vorlegen, die aus der Sammlung der Brüder Zaluski stammten. Katharina II. hatte deren überaus wertvollen Warschauer Bücherschatz nach der zweiten Teilung Polens 1794 beschlagnahmt und zur Russischen Nationalbibliothek erklärt. Auch die Éremitage geht auf Katharina II. zurück, die für ihre »Einsiedelei« – direkt neben dem Winterpalast mitten in der Stadt – Gemälde und Kunstobjekte in ganz Europa aufkaufen ließ. Liebhaber der Malerei, die ihre Grand Tour abschließen, ohne die Éremitage gesehen zu haben, sollten vor Scham vergehen,8 befand Anne Lister. Sie und Ann nahmen sich drei Tage Zeit für die unvergleichlichen Sammlungen. Mit den Urteilen in dem Kunstführer, den die Gattin des ehemaligen britischen Botschafters in Russland verfasst hatte, war Anne Lister allerdings nicht einverstanden. Lady Londonderry erwähnt lobend Paul Potters struppigen Hund, ja, schön und gut, aber hat sie seine Kuhherde nicht gesehen? Am Titel darf man sich nicht stören (Vache qui pisse). … Sie, die Augen für die Schönheit einer Venus oder eines Apoll hat, verkennt diese arme Kuh? Ich erinnere mich an den Stier in Amsterdam, aber die Kuh ist mir lieber.9 Seit jenen Tagen wurde die Éremitage noch bedeutend erweitert. Nach der Oktoberrevolution beschlagnahmten die Bolschewisten Kunstschätze des russischen Adels, nach dem Zweiten Weltkrieg kam Beutekunst aus Deutschland hinzu. Die Sammlungen breiten sich heute über den ganzen Winterpalast aus, der 1839 nach einem Brand frisch renoviert wurde, weshalb Anne und Ann zu ihrem großen Bedauern den Thronsaal und die Paraderäume nicht besichtigen konnten. Die Prachträume der sogenannten »Neuen Éremitage« waren unter der Leitung von Leo von Klenze gerade erst im Bau. Da man zu Gast im Haus und in den Sammlungen des Zaren war, wurden Besucher damals nur im feinen Gesellschaftsanzug eingelassen, was die Führer und Übersetzer in Verlegenheit brachte. Heute braucht man keine feine Garderobe, um die Éremitage betreten zu dürfen, sondern Zeit. Vor den Eintrittskartenautomaten steht man im Juni zwei Stunden lang in der Schlange. Mit einem Wochen zuvor gekauften Online-Ticket können wir die Wartezeit auf 25 Minuten verkürzen. Die Kunst von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, von Sibirien über Ägypten und Rom bis zu den Renaissance-Italienern und Niederländern des Goldenen Zeitalters überfordert uns in ihrer Fülle. Anstrengend sind aber vor allem die anderen Besucher. Zu Hunderten wälzen sich robust auftretende Chinesen mit uns durch die Räume. Die zwei Da Vincis gebe ich auf, zu undurchdringlich ist die Menschentraube vor ihnen. Den Blick auf dreißig Gemälde Rembrandts, Stolz der Éremitage schon zu Zeiten Annes und Anns, erkämpfe ich mir Bild für Bild. Ich belauere die Gruppen mit ihren Fähnchen schwenkenden Führern und passe den Moment ab, in dem sich die gehende und die kommende Gruppe ineinander verkeilen und die Gemälde Rembrandts kurz freigeben. Touristen aus Europa oder den USA sind rar. Spiegelt sich hier der demographische Wandel der Welt? Später erfahre ich, die Chinesen kämen erst seit Kurzem. Wegen Russlands Rolle in der Ukraine und in Syrien bleiben die Europäer fern, allen voran die Deutschen. Damit die Hotelbetten in Petersburg und Moskau nicht leer bleiben, hat man Billigflüge nach China eingerichtet. Der Demokratisierung des Reisens verdanken wir, ein so fernes Land überhaupt besuchen zu können. Doch diese Demokratisierung macht unsere Erfahrungen an den begehrtesten Orten der Erde wie etwa der Éremitage in Sankt Petersburg unvergleichbar mit denen von Anne Lister und Ann Walker dort. Sie konnten die Kunstwerke in aller Ruhe betrachten, Vergleiche anstellen, noch einmal zurückkommen. Es muss schön gewesen sein, in der Monarchie Monarch zu sein oder wenigstens von Adel wie Anne Lister. »Hätte ich sie beneidet, oder hätte ich sie gern bespuckt?« »Bespuckt? Spinnst du?« »Ich stamme von einfachen Leuten ab. Die waren im 19. Jahrhundert nicht zimperlich. Als Magd hätte ich sie damals vielleicht gehasst.« Wie Anne und Ann fahren auch wir zu den Sommerschlössern nach Zarskoje Selo mit der Bahn: Nikolaus I. ließ die erste Eisenbahnstrecke Russlands von Sankt Petersburg bis zu seinem Sommerdomizil bauen, damit die Zarenfamilie schneller aufs Land kam. Am Witebsker Bahnhof steht ein von Glas geschützter Nachbau des ersten russischen Zugs: eine putzige kleine Lok mit großen Hinterrädern aus blitzendem Messing, ein Kohlentender und drei Passagierwagen. Die erste Klasse in Blau, ein geschlossener Waggon mit Fensterscheiben und Gardinchen. Die zweite Klasse in Rot zwar mit Dach, aber ohne Fensterscheiben, die dritte Klasse in Dunkelgrün ohne jeden Schutz. Aus Neugier hätte Anne Lister eigentlich die dritte Klasse mit der freiesten Sicht wählen müssen; ihr Standesbewusstsein ließ ihr jedoch keine Wahl. Wir fahren in der Holzklasse und staunen: Die russische Breitspur bietet großzügigen Dreiersitzbänken links und rechts vom Gang Platz. »In Russland eben alles ein bisschen größer.« Der Winterpalast soll auch der größte seiner Art in Europa sein; der Platz davor ist es sicherlich. An Raum fehlt es in den Weiten Russlands nirgendwo. Die Breitspur lässt den Zug überaus ruhig dahingleiten. »Fühlt sich irgendwie Russisch an.« »Was soll denn daran Russisch sein?« Für eine Eintrittskarte zu den Kaiserlichen Gärten muss man sich zunächst auf der Straße anstellen. An diesem heiteren Junisonntag warten nur russische Ausflügler mit uns, keine Chinesen. Die zweite Schlange für den Eintritt ins Schloss ist so lang wie der sehr große Katharinenpalast selbst (in Russland …). Wir warten dort anderthalb Stunden. Endlich im Palast müssen wir uns dort noch einmal für eine Eintrittskarte anstellen. Um das Bernsteinzimmer besichtigen zu können, muss man am Ende in drei Schlangen gestanden haben. Die Wartezeit hätte kürzer ausfallen können, wenn sich nicht Heerscharen von Menschen ungeniert an uns vorbeigedrängt hätten. Als mich eine Frau besonders dreist wegschubst, bitte ich sie auf Englisch, sich anzustellen. Sie antwortet: »This is our castle. You can wait.« Ich überlege, Katharina II., geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst, mitsamt ihrem Schloss für uns zu reklamieren, aber da ist die Dränglerin schon an mir vorbei. Das Verwunderliche: Nur wir regen uns auf. »Warum stellen sich die Netten hier nicht denen mit Ellbogen in den Weg?« »Hier wird schon mal ein ironischer Kommentar gemacht.« Dann lachen alle. Und nehmen die Dreistigkeit hin wie den Regen. »Ist das die berühmte Schicksalsergebenheit und Leidensbereitschaft des russischen Volks?« »Alles Erfindung der Bösen und Gemeinen.« Der Beschuss der deutschen Wehrmacht 1941 beschädigte den Palast schwer. Das Bernsteinzimmer, ursprünglich für das Charlottenburger Schloss in Berlin angefertigt und vom Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. für 55 Lange Kerls verkauft, wurde von den Deutschen demontiert und ins Königsberger Schloss gebracht, wo sich seine Spuren 1944 verlieren. Die klaffende Leerstelle im Katharinenpalast konnte nach fünfzig Jahren durch eine Spende der Ruhrgas AG wieder gefüllt werden: Die Zeit wurde zurückgedreht und das Bernsteinzimmer rekonstruiert. Zur Einweihung 2003 lud Wladimir Putin Gerhard Schröder ein. Anne und Ann sahen das schon damals sehr berühmte Original. Wir wundern uns, als wir mit den Massen hineingeschoben werden. »Das ist es?« »Würdest du hier wohnen wollen?« »Darum geht es hier nicht.« »Nein. Hier geht es ums Protzen.« Die Wandflächen aus Bernstein, Vertäfelungen aus Bernstein, Wand- und Eckkonsolen aus Bernstein, Bilderrahmen aus Bernstein, die Bilder selbst aus Bernstein. Wo kein Bernstein ist, schimmert Gold. Für das ursprüngliche Zimmer wurden 55...


Steidele, Angela
Angela Steidele, 1968 geboren in Bruchsal, erforscht und erzählt historische Liebesgeschichten. Sie veröffentlichte u. a. In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel, 2004, sowie Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens, 2010. Für ihr literarisches Debüt Rosenstengel erhielt sie 2015 den Bayerischen Buchpreis. Ihre Trilogie zu biographischem Schreiben schließt Angela Steidele nach Anne Lister. Eine erotische Biografie, 2017, und Zeitreisen. Vier Frauen. Zwei Jahrhunderte. Ein Weg mit der Poetik der Biographie ab. Angela Steidele lebt in Köln.

Angela Steidele, 1968 geboren in Bruchsal, erforscht und erzählt historische Liebesgeschichten. Sie veröffentlichte u. a.  In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel , 2004, sowie Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens , 2010. Für ihr literarisches Debüt Rosenstengel erhielt sie 2015 den Bayerischen Buchpreis. Ihre Trilogie zu biographischem Schreiben schließt Angela Steidele nach Anne Lister. Eine erotische Biografie , 2017, und Zeitreisen. Vier Frauen. Zwei Jahrhunderte. Ein Weg mit der Poetik der Biographie ab. Angela Steidele lebt in Köln.



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