E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Steidele Rosenstengel
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95757-195-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II.
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-95757-195-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als der bayerische Märchenkönig Ludwig II. durch den Arzt Franz Carl Müller zufällig von dem delikaten Fall des Anastasius Rosenstengel erfährt, lässt ihn dessen eigentümliches Schicksal nicht mehr los. Er drängt den Mediziner, ihn in seine Recherchen einzuweihen, die Unglaubliches zutage fördern: Rosenstengel zog als Prophet umher, kämpfte als Musketier im Spanischen Erbfolgekrieg und heiratete mit kirchlichem Segen, um schließlich der Maskerade überführt zu werden - einer Maskerade, die alle Grenzen überschreitet. Denn Rosenstengel war in Wahrheit ein Weibsbild mit Namen Catharina Linck. Nachdem man auch noch eine 'lederne Wurst' in ihrer Hose entdeckte, mit der sie die Ehe vollzogen und 'unterschiedliche Wittwen caressiret' hatte, führte man sie 1721 dem Henker vor. Jedes Detail, das sich der faszinierte Monarch während nächtlicher Schlittenfahrten, in der Venusgrotte von Schloss Linderhof oder im tropischen Wintergarten der Münchner Residenz berichten lässt, bringt den jungen Arzt und den einsamen König einander näher, bald geraten beide in einen Strudel tiefer Verwirrung: Wo verläuft die Grenze zwischen wissenschaftlicher Leidenschaft und verbotenem Begehren, Täuschung und Wahrheit, Perversion und Normalität, Mann und Weib, König und Untertan? Die emotionale Verunsicherung steigert sich im Angesicht höfischer Intrigen zur ernsthaften Gefahr, und Müller steht vor der Entscheidung, den König entmündigen zu lassen - oder ihn vor den Verschwörern zu retten. Mal zärtlich, mal deftig entwirft Angela Steidele einen atemberaubenden historischen Briefroman über Trug, Wahn, Leidenschaft und Irrsinn. Und über die Frage, wie viel Liebe das Leben und wie viele Leben die Liebe fassen kann.
Angela Steidele, geboren 1968, studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim, wurde in Siegen promoviert und lebt in Köln. Ihre wissenschaftliche Arbeit widmete sie Liebesgeschichte(n) gegen den Strom, so in ihren Büchern 'In Männerklei dern. Das verwegene Leben der Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel' (2004) und 'Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens' (2010). Mit ihrem literarischen Debüt 'Rosenstengel' geht sie einen Schritt weiter und lässt Wissenschaft zu Kunst werden und Kunst zu Wissenschaft. Bei der Recherche für ihr Buch über Catharina Linck fand sie im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin den Besucherzettel von Franz Carl Müller, was beweist: Leben ist auch nur Kunst.
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[21] Müller an Gudden
Hohenschwangau, 19. December 1884 Hochverehrter Herr Professor! Vermelde, gut hier angekommen zu sein. Rittmeister Hornig holte mich persönlich von der Eisenbahn in Oberdorf ab und brachte mich in einem Hofwagen nach Hohenschwangau, wo mir im Cavaliersbau des alten Schlosses ein gut befeuertes Zimmer zugewiesen und ein spätes Mittagessen mit zwei kalten und drei warmen Gängen servirt wurde, was mich in Anbetracht der Umstände an eine Henkersmahlzeit denken ließ. Danach erwartete ich meine Ordre, doch hieß es nur, ich möge mich bereithalten. So machte ich es mir bequem und entzifferte einen Brief aus Halle vom Anfang des vorigen Jahrhunderts, jenen historischen Fall betreffend, den ich in Erwartung dieser nutzlosen Warterei bei Hofe mitführte. Nun, die lange Reise, das schwere Essen, der Likör zum Abschluss, dem ich leider nicht entsagt hatte, die früh hereinbrechende Dunkelheit – ich gestehe es, ich schlummerte ein, um erst viele Stunden später, nach Mitternacht, von einem jungen Soldaten geweckt zu werden: Seine Majestät lasse bitten. Die Benommenheit abschüttelnd ergriff ich rasch Johannes von Müllers Schweizergeschichte, die mir der König geschenkt, und folgte dem schneidigen Leichten Reiter. Ich ward ins Schloss geführt, einige Treppen hoch, zum Arbeitszimmer Sr.M. Mit gesenktem Kopf betrat ich das Gemach, machte die Verbeugungen, die Sie mir eingeschärft und von deren Kenntnis sich Rittmeister Hornig überzeugt hatte, wagte endlich aufzublicken – und sah mich zu meiner Überraschung ganz allein. Das geräumige Zimmer, in dessen gewaltigem Kamin ein munteres Feuer prasselte, war leer. Nachdem ich eine Weile still verharrt hatte, musterte ich zunächst verstohlen, dann ein bißchen dreister die gediegen bürgerliche, vornehme, aber nicht übertrieben luxuriöse Einrichtung, die mir gar nicht zu dem passen will, was man vom Könige so hört. Ob die Gerüchte über seine Verschwendungssucht, über seine sagenhaft üppig ausgestatteten Schlösser allesamt Verleumdung sind? Da entledigte sich eine Champagnerflasche knallend ihres Korkens und der König trat aus dem unbeleuchteten Erker. Es war, als hätte er mich erst eine Weile beobachten wollen. Stumm reichte er mir ein Glas. Seines stürzte er sogleich hinunter, und ich that es ihm gleich, nach dem Schlummer und der reichhaltigen Mahlzeit gierig wie ein Verdurstender. Darauf lächelte der König süffisant, in dessen aufgedunsenem Gesicht der Apoll auf dem Thron, den Sie bei Ihrer Nobilitierung vielleicht noch gesehen haben, kaum noch zu erkennen ist. Was sein Bruder Otto zu viel hat an Willen zur Selbstkasteiung, hat S. M. zu wenig. Allein dieser Befund reicht aus, um eine erbliche Belastung in der Familie anzunehmen, von der Sie schon so oft sprachen. Erst nachdem der König selbst die Gläser wieder gefüllt hatte (Lakaien waren keine anwesend), nickte er mir zu und sprach: »Auf Müller.« Verwirrt hob ich mein Glas, ich fürchtete zu erröthen, bis ich verstand. »Auf Johannes von Müller«, parirte ich. Des Königs große blauen Augen wanderten, wie schon bei unserer ersten Begegnung, unstet über Plafond und Wände und verweilten zu meinem größten Unbehagen nirgendwo. »Auf die Müller also«, antwortete der König und leerte sein Glas zum zweiten Mal. Zum Sprechen schien er nicht aufgelegt, ich wartete, wie Sie mir eingeschärft hatten, stumm, bis der König das Wort an mich richte. Im Geiste wiederholte ich die Rede, die ich vorbereitet hatte, würde mich S.M. wegen meiner Behandlungsmethoden Seines Bruders herausfordern. Doch schien er es damit nicht eilig zu haben. Wortlos nahm er mir schließlich Müllers Schweizergeschichte aus der Hand, ließ sich auf ein mit gelbem Leder bespanntes Sopha nieder und wies mir einen Stuhl zu. Nachdem er eine Weile in dem Band geblättert, hier und dort ein paar Zeilen gelesen, fragte er: »Haben Sie die Schweiz bereist?« – »Zu meinem großen Bedauern nein. Aber als Primaner habe ich den Melchtal gespielt und mich in meinen Phantasien inniglichst in die Alpen versetzt.« Wieder erhellte sich, wie bei unserer ersten Begegnung, mit einem Male des Königs Antlitz. »Ah, ja, ich erinnere mich, Ihre poetische Gymnasialzeit.« Dann legte er den Kopf zurück, schloß die Augen und begann mit wohl tönendem Organ: »Jetzt sagt, was Ihr im Unterwaldner Land / Geschafft und für gemeine Sach geworben, / Wie die Landleute denken, wie ihr selbst / Den Stricken des Verraths entgangen seid.« Der König verstummte wieder. Nach einer Weile öffnete er ein wenig die Lider und blinzelte mich erwartungsvoll an. Heiß durchschoß mich ein Blutstrom, ich stockte, doch dann purzelten die rechten Worte aus meinem Gehirnkasten: »Durch der Surennen furchtbares Gebirg, / Auf weit verbreitet öden Eisesfeldern, / Wo nur der heisre Lämmergeier krächzt, / Gelangt ich zu der Alpentrift« usw. Wann immer mich mein Gedächtnis verließ, sprang der König ein und gemeinsam brachten wir den größten Theil des Rütli-Schwures zusammen. Als der König fest sprach: »Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht«, gewann der Arzt in mir wieder die Oberhand über den schüchternen Unterthan. Dem forschenden Blick entzog sich S. M. jedoch, indem er seinerseits nachforschte. »In Würzburg lernt man also noch treu seinen Schiller auf dem Gymnasium?« »Nein, Majestät, in Bayreuth, wo ich geboren und aufgewachsen bin.« »In Bayreuth?«, erwiderte S.M. lebhaft. »Ja, wie alt waren Sie denn im heiligen Jahre ’76? Hatten Sie Gelegenheit, waren Sie –?« »Ja, Majestät. Ich hatte das große Glück, mich als theaterbegeisterter Gymnasiast von 16 Jahren dem glücklichen Tross der Mitwirkenden anschließen zu dürfen. Als Statist gehörte ich im Rheingold zu der Schar der von Alberich geknechteten Nibelungen, und in der Walküre durfte ich aus der Coulisse Schwertleites Holzpferdchen am Seil ziehen. Der Hohn der Presse über die sich in ihrem wilden Ritt lahm und ruckartig zugleich fortbewegenden Walküren schmetterte niemanden stärker zu Boden als mich, den Rossebändiger –.« Spätestens hier war das Eis gebrochen, darf ich sagen. Während S.M. munter nachschenkte, fragte er mich nach tausend Einzelheiten der damaligen Proben und Aufführungen der ersten Bayreuther Festspiele, die er selbst zweimal in jenem Sommer besuchte, und es war, als tauschten wir gemeinsame Erinnerungen an gute alte Zeiten aus. Daß ich damals durchaus gemischte Eindrücke von Wagner’s Kunst, mehr noch von seiner Person und der seiner Gattin empfing, hielt ich, im Sinne Ihres Auftrages, etwas zurück. (N. B. Der Untermieter, den meine Mutter in jenem Sommer bei uns aufgenommen hatte, ein fast bis zur Blödigkeit kurzsichtiger Professor der Philologie mit bedeutendem Walroßschnauzbart, öffnete mir die Augen für manch problematische Seite dieser Kunst. Wagner’s decadente Liebelei mit dem Tod etwa muß ich als Arzt heute aufs Schärfste ablehnen.) Zuletzt fragte mich S.M., weshalb ich der Bühne nicht treu geblieben sei. »Weder Stimme noch Begabung hätten mich weit gebracht, Majestät. Darüber hinaus: Nur weil die heitere Kunst uns die kargen Nebenstunden der Muße versüßt, uns hie und da zu erheben und zu trösten vermag, taugt sie doch nicht zum Beruf. Dem Ernst des Lebens muss mit Ernst begegnet werden. Auch die Heilkunst ist eine Kunst, und zwar eine segensvollere und irdischere, denn sie vermag das Leiden des Menschen wirkungsvoller zu beenden als die flüchtigen Töne einer Oper.« Auf diese Worte verfinsterten sich die Züge des Königs und er entgegnete nichts mehr. Der Höhepunct der Unterhaltung schien ihm überschritten, er winkte Adieu. Leicht verunsichert vollzog ich meinen vorgeschriebenen kratzfüßigen Rückzug. Dabei ließ ich die Schweizergeschichte fallen, die er mir zurückgegeben hatte, und die Blätter des vergilbten Briefes, die ich bei meinem benommenen Aufbruch zu dieser Audienz zwischen die Seiten gelegt haben mußte, vertheilten sich auf dem Parquett. Von den altmodischen Schriftzügen angezogen fragte S. M., was das sei. »Ein Brief über einen ungewöhnlichen Fall zu Beginn des letzten Jahrhunderts«, antwortete ich etwas maulfaul, nicht wissend, wie damit umgehen. »Ein Mord?« »Nein, Majestät.« »Eine Verschwörung?« »Nein, Majestät.« »Ja, was denn?« Ich hielt die Luft an und bekannte schließlich: »Ein Weib in Mannskleidern.« – »Ein Weib in Mannskleidern?« Der König hielt kurz inne und schmunzelte dann: »Sie werden mir demnächst mehr davon...