Stefánsson | Sommerlicht, und dann kommt die Nacht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Stefánsson Sommerlicht, und dann kommt die Nacht

Roman
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96121-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-492-96121-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie nur erträgt man die langen dunklen Winter dicht am Polarkreis auf der Suche nach ein bisschen Leben und Liebe? Eine Frage, mit der sich auch die Bewohner eines kleinen 400-Seelen-Orts im äußersten Westen Islands konfrontiert sehen. Stets sind sie in Gefahr, in Kleinstadtlethargie zu verdämmern - und so müssen sie selbst dafür sorgen, dass ihre Tage aufregend werden.

Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor ihm mit »Himmel und Hölle« (2009) der internationale Durchbruch gelang. Seither wurde sein Werk in über 20 Sprachen übersetzt und in ganz Europa ausgezeichnet. »Dein Fortsein ist Finsternis« erhielt 2022 als bester ausländischer Roman des Jahres den französischen Prix du Livre étranger, die deutsche Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig wurde mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis 2023 geehrt. Zuletzt erschien der hochgelobte Roman »Mein gelbes U-Boot«.
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Zwei


Früher einmal gab es noch so viel Unschuld in der Welt, dass es reichte, die Polizisten im Ort auf Teilzeit anzustellen; damals war es vielleicht noch näher in den Himmel als in die Hölle. Die Fortschrittspartei regierte in den Landkommunen, beherrschte die Genossenschaften, die die Gemeinden zusammen- und die sich bereichernden Raubritter in Schach hielten. Sie nahm uns das Denken ab und tat ihr Bestes, damit immer hübsch alles beim Alten blieb; am besten haben sich noch immer die regieren lassen, die sich nicht bewegen. Mittlerweile steht dieses System vielleicht auf dem Kopf, denn in den letzten Jahren ist so vieles in Bewegung geraten, dass uns der Kopf schwirrt und wir darum nicht mehr denken können, sondern nur noch damit beschäftigt sind, uns festzuklammern, damit man nicht in die Leere hinausgeschleudert wird. Aber ist dir schon aufgefallen, dass der Kern des Menschen oft dem Blick verborgen ist, dass er unter der Oberfläche steckt und vielleicht nie zum Vorschein kommt? In den offiziellen Akten steht jedenfalls nirgends, dass, obwohl er im Hauptberuf eigentlich Zimmermann war, Hannes’ Augapfel seine Polizeiuniform war. Das bin ich gar nicht, dachte er, wenn er sich montags morgens seinen Gürtel mit den Werkzeugschlaufen umschnallte, nach der Säge griff, unsere Gesetzestreue verfluchte und von finsteren Zeiten mit vielen Verbrechen träumte, in denen er den Werkzeuggürtel wegwerfen und jeden Tag die Uniform überziehen könnte.

Hannes war eine imposantere Erscheinung als die meisten anderen, 193 Zentimeter groß, breite Schultern, muskulös und kein Gramm Fett am Leib, wenn er sich bewegte, dachte man an eine Großkatze. In jeder Schlägerei behielt er die Oberhand, seine Arme schienen aus Stahl, seit früher Jugend trank und vertrug er mehr als wir anderen, was nur natürlich erschien, denn der Mann schien von Riesen und Trollen abzustammen. Die Frauen flogen auf Hannes, er hatte einen durchdringenden Blick und warf damit um sich wie ein Leuchtturm. Für eine Nacht mit ihm würde ich Mann und Kinder im Stich lassen, dachten sie. Zwei bildhübsche Schwestern stellten ihm jahrelang nach, du kannst uns beide haben, sagten sie, mit uns beiden zusammenleben, du schaffst doch auch zwei Frauen, wir sind höchst einfallsreich und meinen damit nicht unsere Kochkünste ..., und dann heiratete er Bara; wir konnten uns gar nicht genug wundern, so zierlich war sie mit ihrem hellen Kopf, ein Leib wie ein Blumenstängelchen, sagten die alten Leute über sie. Sie war zum Studieren in die Hauptstadt gegangen, nicht, um alles über empfindliche Pflanzen zu lernen, wie wir annahmen, sondern um Geologie zu studieren, sie wollte alles über Erdbeben, Vulkanausbrüche und die Riesenkräfte der Natur erfahren. Sie war eine fleißige Studentin und wäre eine hervorragende Geologin geworden, doch bei einem Osterball in unserem Gemeindezentrum sah sie einmal mit an, wie sich Hannes in eine Prügelei einmischte. Aktiver Vulkan, dachte sie, und zwei Jahre später kam Jónas zur Welt. Sie hatte gerade den Bachelor gemacht, als er kam, wollte drei Jahre an unserer Schule unterrichten und dann das Studium fortsetzen, mit einem Schwerpunkt auf Vulkanismus, ich wollte mich auf dich spezialisieren, sagte sie manchmal zu Hannes, aber eines Tages stellten wir fest, dass das Licht um ihren Kopf matt geworden war. Der alte Landarzt mit seinen paar lateinischen Brocken vermochte nichts, es war Darmkrebs, die Blüte des Teufels, sie dagegen welkte rasch, verfiel, wurde zu nichts. Hannes hielt sie mit all seinen Leibeskräften, aber gegen den Tod vermag der Mensch nichts, das Licht der Welt erlosch, und Hannes verlor seine Frau, die Mutter seines drei Jahre alten Söhnchens und das Feingliedrigste und Beste, was wir je gesehen haben. Es könnte durchaus noch mehr Gerechtigkeit in der Welt geben.

Nun also waren nur die beiden noch übrig.

Der Junge sah seiner Mutter so ähnlich, dass sich Hannes nicht traute, ihn zu berühren. Mein Junge, sagte er und stopfte die Hände in die Taschen. So vergingen Jahre. Vater und Sohn lebten jeder in seiner Welt, sprachen nicht viel miteinander, aber sahen gern zusammen fern, saßen gemeinsam am Küchentisch, hörten dem Fortsetzungsroman im Radio zu oder dem Regen und blickten hinaus auf den Fjord. Sie wohnten in einem der alten Holzhäuser, die gleich oberhalb des geschwungenen Ufers standen. Aber manchmal, meist an einem Donnerstagabend im Abstand von etwa sechs, sieben Wochen, ließ sich Hannes in seinen Hausherrnsessel fallen und rief seinem Sohn zu: Bring mal den heiligen Hallgrimur her! Dann wusste Jónas, dass wieder einmal vier oder fünf Tage und ebenso viele Nächte sinnlosen Besaufens anbrachen.

Wie oft hatte er nicht seine Hände nach den Gedichten Hallgrimur Peturssons auf dem dunklen, schweren Bücherregal greifen sehen: Psalmen und Gedichte in zwei Bänden, 1887-89, Gedichte und Lieder in der einbändigen Ausgabe von 1945 und die zweibändige Biographie des Dichters von Magnüs Jönsson. Erst ertönt die mächtige Stimme von Hannes, dann recken sich Jönas’ Hände nach dem Regal, seine Erinnerungen sind voll von seinen eigenen Händen. Er wuchs langsam, brauchte länger als andere einen Stuhl, um an die Bücher zu kommen, kleine Hände greifen nach den Buchrücken, dann schleppt er sie zu Hannes hinüber, der mit einer Decke über den Knien in seinem Sessel saß; Schwarzbrot mit Leberwurst, Trockenfisch und eine Flasche auf dem kleinen Tisch daneben. Immer die gleiche Leier in Jönas’ Erinnerung, wie ein Filmstreifen, der in seinem Kopf abläuft, die Arme werden länger, er braucht keinen Stuhl mehr, die Bücher aber bleiben immer gleich schwer, der Weg durchs Wohnzimmer wird nicht kürzer, in der Ecke hockt Hannes und wird älter. Viele Frauen hätten gern Jönas’ Hände, die an Schmetterlingsflügel erinnern, ganz durchscheinend sind sie. Der Junge war so zartgliedrig wie Bara, aber ihm fehlte ihre Resolutheit und ihr helles, positives Gemüt, sie war zierlich, aber stark, er dagegen ist so zerbrechlich, dass wir fürchten mussten, er würde die Last des Lebens nicht tragen können. Aber das Leben ist schon eigenartig. Bei einigen scheint ein innerer Schmerz in ihr Dasein eingewoben zu sein, und auf die Stärke in ihren Armen kommt es dabei überhaupt nicht an, wie viel sie auch trainieren, Gewichte stemmen und 15 Kilometer laufen mögen, denn das Dunkel ringt man nicht zu Boden, den Schatten läuft man nicht davon, der grauschwarzen Depression, die nichts verschont, entkommt man nicht. Eines Abends sagt Hannes zu seinem Sohn: Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen und nichts würde mich glücklicher machen, als wenn du nach meinem Tod meine Uniform weitertragen und zum Mann werden würdest, dann hätte ich nicht umsonst gelebt, es würde meine Qualen lindern, wo immer der Herr des Himmels und der Engel sie mich ausbaden lassen wird.

Das war an einem Abend im November, vier oder fünf Tage, nachdem Jónas seinem Vater den heiligen Hallgrimur geholt hatte, in der Küche standen zwei geleerte Flaschen Wodka und ungefähr drei Dutzend Bierdosen, Hannes hatte wie gewöhnlich wenig geschlafen, Megas gehört, Cat Stevens, Elvis Presley, seinem Sohn mit kräftigen Worten Predigten gehalten, Jónas arbeitete noch in der Molkerei, das war in Ordnung, er hielt sich am Besenstiel fest, belebte die Umgebung manchmal mit Vogelbildern, hatte reichlich Zeit, nachzudenken, blieb nach der Arbeit zuhause in seinem Zimmer, las Naturbücher über Vögel, zeichnete und schloss sich häufig ein, außer wenn sein Vater trank, dann blieben die Türen weit offen und Hannes’ dunkles Gemurmel füllte das Zimmer.

Nichts würde mich glücklicher machen, wiederholte Hannes, und da ging es schon auf Mitternacht zu. Jónas putzte sich die Zähne, sehr sorgfältig wie immer, ging aufs Klo, wusch sich und ging anschließend noch einmal ins Wohnzimmer, um Gute Nacht zu sagen. Hannes blickte auf, hob den Kopf, seinen massigen Schädel, Gute Nacht, Sohn, immer und ewig Gute Nacht, lass dich nicht von den Schatten einfangen. Nein, Papa. Jónas ging in sein Zimmer, schlief über dem Murmeln aus dem Wohnzimmer ein, in seinem roten Schlafanzug. Früh wachte er am nächsten Morgen auf, im Zimmer war es noch fast dunkel, er sah auf die Uhr, sieben, noch zwei Stunden, bis er auf der Arbeit sein musste, Zeit genug, um noch ein wenig in der Lebensgeschichte eines amerikanischen Zoologen zu lesen, der seit dreißig Jahren jeweils einen Monat im Jahr in den erlesensten Gegenden auf Wanderschaft ging, in den Wäldern der USA, in den kanadischen Rocky Mountains, in den unbesiedelten Weiten Alaskas, am Amazonas, in Indien, auf Madagaskar, nur einmal variierte er diese feste Tradition und segelte mit einer kleinen Jacht zu den Inseln des Stillen Ozeans; genau in diesem Teil war Jónas angekommen. »Manchmal ist das Meer so blau«, schrieb der Zoologe, »dass ich überzeugt bin, tot zu sein, und mein Boot durchschneidet mit dem Bug den Himmel.« Jónas lächelte vor Entzücken, streckte sich zum Lichtschalter, knipste die Lampe an und sah, dass jemand in der Nacht die Zimmertür geschlossen und unterhalb der Klinke einen großen Umschlag angeklebt hatte. Er stand auf und holte das Couvert. »An meinen Sohn«, stand darauf. Jónas setzte sich auf die Bettkante, sein Herz klopfte, er riss den Umschlag auf und las:

Lieber Sohn,

tu mir den Gefallen und komm nicht ins Wohnzimmer. Wenn du auch nur ein wenig Achtung vor mir hast oder irgendwann hattest, dann respektierst du diesen letzten Willen von mir. Ich habe alles versucht, aber jetzt habe ich vor den Schatten in meinem Hirn resigniert. Für mich ist alle Schönheit der Welt dahin.

Der schöne Wald ist welk geworden,

gefallne Pracht, das Maß der Sorgen

übervoll, und arm das Morgen,...


Stefánsson, Jón Kalman
Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor er sich in Mosfellsbær bei Reykjavík niederließ. Sein Werkwurde in zahlreiche Sprachen übersetzt undin ganz Europa ausgezeichnet, u.a. mit demisländischen Literaturpreis. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit »Himmel und Hölle«, zuletzt erschienen »Fische haben keine Beine« und »Etwas von der Größe des Universums«.2018 war Jón KalmanStefánsson für den alternativen Literaturnobelpreis nominiert.

Wetzig, Karl-Ludwig
Karl-Ludwig Wetzig, geboren 1956 in Düsseldorf, lehrte Skandinavistik und Germanistik an den Universitäten Göttingen und Reykjavík und übersetzt seit zwanzig Jahren Literatur aus nordischen Sprachen von Finnland bis Island, darunter Autoren wie Henrik Tikkanen, Johan Bargum, Ulla-Lena Lundberg, Jón Kalman Stefánsson, Hallgrímur Helgason, Guðbergur Bergsson und mittelalterliche Isländersagas. Daneben veröffentlicht er eigene Bücher, zuletzt Mein Island (mare 2017). Nach Aufenthalten in den Niederlanden und Indien lebt er zurzeit wieder in Göttingen.

Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, studierte Literaturwissenschaft und lebte in Dänemark, bevor er sich mit seiner Familie in Mosfellsbær auf Island niederließ. Er zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des Landes, sein Werk ist preisgekrönt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Für seinen Roman »Sommerlicht, und dann kommt die Nacht« erhielt Stefánsson im Jahr 2005 den isländischen Literaturpreis. Nach »Der Schmerz der Engel« erschien von ihm auf Deutsch zuletzt »Das Herz des Menschen«.



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