E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Stefánsson Himmel und Hölle
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99070-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-99070-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor ihm mit »Himmel und Hölle« (2009) der internationale Durchbruch gelang. Seither wurde sein Werk in über 20 Sprachen übersetzt und in ganz Europa ausgezeichnet. »Dein Fortsein ist Finsternis« erhielt 2022 als bester ausländischer Roman des Jahres den französischen Prix du Livre étranger, die deutsche Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig wurde mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis 2023 geehrt. Zuletzt erschien der hochgelobte Roman »Mein gelbes U-Boot«.
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II
Es ist ein Unterschied, ob man am offenen Meer schläft oder hier im Ort, der zwischen hohen Bergen tief hinten im Fjord liegt, eigentlich am Ende der Welt, wo die See manchmal so still ist, dass wir hinunter an den Strand gehen, um sie zu streicheln; doch draußen bei den Fischerhütten ist sie niemals ruhig, nichts scheint da die Wucht der Wogen besänftigen zu können, nicht einmal stille Nächte und ein sternenbesäter Himmel. Die See strömt in die Träume jener, die dort draußen am offenen Meer nächtigen, ihr Unterbewusstsein füllt sich mit Fischen und ertrunkenen Kameraden, die traurig winken, mit Flossen anstelle von Händen.
Pétur wacht immer als Erster auf. Er ist schließlich auch der Vormann und erwacht, wenn es noch dunkle Nacht ist, kaum später als zwei, aber er guckt nie auf die Uhr, außerdem liegt sie irgendwo unten zwischen dem ganzen Krempel. Pétur steht auf, schaut hinaus zum Himmel, und die Dichte der Dunkelheit verrät ihm die Uhrzeit. Er tastet nach seinen Sachen, nachts brennt der Ofen nicht, und die Märzkälte ist durch die dünnen Wände gesickert. Andrea atmet tief neben ihm, sie schläft fest, hält sich am Grund ihrer Träume auf. Einar schnarcht und ballt im Schlaf die Fäuste, Árni liegt Kopf an Fuß neben ihm, Bárður und der Junge mucksen sich nicht, der Riese von Gvendur hat das unverschämte Glück, ein Bett für sich zu haben, und das ist ihm noch zu klein. Du bist zwei Nummern zu groß für die Welt, hat Bárður einmal zu ihm gesagt, und das traf Gvendur so, dass er ein bisschen beiseite trat. Pétur streift den Pullover über, steigt in seine Hose und schleicht sich hinaus in die Nacht. Eine ganz leichte Brise aus Ost weht, ein paar Sterne sind zu sehen, sie blinken ihre uralte Botschaft aus viele Jahrtausende altem Licht. Pétur blinzelt mit den Augen und wartet, dass ihn der Schlaf ganz verlässt, bis die Träume verdunstet sind und die Sinne ihre ganze Schärfe erlangen. Er steht vorgebeugt da, krumm, wie ein rätselhaftes Tier, zieht schnuppernd die Luft ein, mustert den dunklen Himmel, lauscht, erfasst die Botschaft des Windes, brummt, geht wieder hinein, hebt mit dem schwarzen Schädel die Bodenluke an und sagt: Wir rudern. Er sagt es nicht laut, aber es reicht, seine Stimme dringt in die tiefsten Träume, zerteilt den Schlaf, und alle wachen auf.
Andrea zieht sich unter der Bettdecke an, steht auf und heizt den Ofen an, macht Licht, schwaches Licht, und lange spricht niemand ein Wort, sie kleiden sich nur an und gähnen, Gvendur schwankt noch halb schlafend auf der Bettkante, er irrt noch irgendwo im Grenzland zwischen Schlaf und Wachen umher und weiß nicht, wo er sich eigentlich befindet. Sie kratzen sich den Bart, nicht der Junge, der hat keinen, er gehört zu den wenigen, die Zeit damit vergeuden, ihn sich regelmäßig aus dem Gesicht zu schaben, was bei ihm nicht viel Aufwand bedeutet, denn er sprießt nur dünn und flaumig. Bei dir hapert’s noch an der Männlichkeit, bemerkte Pétur einmal, und Einar hatte gelacht. Bárður hat einen dichten, dunklen Bart, den er regelmäßig stutzt, er sieht verdammt gut aus, Andrea betrachtet ihn zuweilen, eigentlich nur, um ihn anzuschauen, wie wir uns ein schönes Bild ansehen oder das Licht auf dem Meer.
Der Kaffee brodelt, sie öffnen ihre Kästen, schmieren Butter und Wurst dick mit dem Daumen auf ihr Roggenbrot, der Kaffee ist brühheiß und schwarz wie die finsterste Nacht, aber sie werfen ein paar Stück Kandis hinein. Wenn wir doch nur ein Stück Zucker in die Nacht rühren könnten, um sie etwas süßer zu machen. Pétur bricht das Schweigen oder eher das Schlürfen, Schmatzen und das vereinzelte leise Furzen und verkündet: Schwacher Ostwind, recht warm, wird aber irgendwann heute auf Nord drehen, aber wohl erst später. Wir rudern also raus bis aufs Tief.
Einar stößt zufrieden die Luft aus. Aufs Tief rudern, das ist Musik in seinen Ohren. Árni sagt nur: Ja, geht klar, denn er hat damit gerechnet. Wir rudern bestimmt aufs Tief, hat er zu Sesselja gesagt, die darauf bat: O weh, lass dich bloß nicht vom Meer holen!
Vor den Schlechtwettertagen hat der Fisch auf den flacheren Bänken nicht richtig gebissen, und selbstverständlich müssen sie es jetzt weiter draußen in größerer Tiefe probieren. Alle langen noch einmal in ihre Futterkisten nach einer weiteren Scheibe Brot. Aufs Tief, das bedeutet vier Stunden ununterbrochenen Ruderns, für ein Segel weht der Wind zu schwach, insgesamt mindestens acht, wenn nicht zehn Stunden draußen, vielleicht sogar zwölf, zwölf Stunden also, bis sie das nächste Mal etwas essen werden. Das Brot schmeckt gut, die Butter auch, und ohne Kaffee kann man vermutlich gar nicht leben. Sie leeren die letzte Schale bedächtig und mit Genuss, draußen wartet die Nacht auf sie, sie reicht vom Meeresgrund bis hinauf in den Himmel, wo sie die Sterne zündet. Das Meer atmet schwer, es ist dunkel und still, und wenn das Meer schweigt, schweigt alles, selbst die schwarz und weiß gefleckte Bergwand über dem Haus. Schwacher Schein von der Lampe, Andrea hat den Docht noch etwas niedriger gedreht; um den letzten Schluck Kaffee zu trinken, braucht man nicht viel Licht. Jeder von ihnen ist in seine eigenen Gedanken versunken, schaut vor sich hin, ohne etwas wahrzunehmen, Pétur denkt an die vor ihnen liegende Fahrt, geht in Gedanken alles durch, bereitet sich vor, das tut er immer. Árni ist dagegen ungeduldig, voller Eifer und will endlich los, Einar denkt ebenfalls an die bevorstehende Fahrt und den Einsatz, tief im Innern seufzt er und fühlt, wie ihn Ruhe überkommt. Das ewig zu hitzige Blut, das so unangenehm schnell durch die Adern pulst, dass er das Gefühl hat, er müsse sich ständig kratzen, hat sich in einen ruhigen Strom zwischen bewachsenen Ufern verwandelt. Der Kaffee, die kommende Kraftanstrengung – Einar ist ein dankbarer Mensch und empfindet fast Zuneigung zu den Männern, die hier unter dem Dach über die letzten Tropfen Kaffee gebeugt sitzen, er kann sogar an diese beiden Dummköpfe, Bárður und den Jungen, denken, ohne sich aufzuregen. Manchmal treiben sie ihn mit diesem blöden ewigen Lesen zur Weißglut. Andauernd zitieren sie sich gegenseitig etwas aus irgendwelchen Gedichten. So ein überflüssiger Schwachsinn! Dieser Schimmel in der Seele macht sie zu weich für das Leben, aber in diesem Moment putscht nicht einmal das sein Blut auf, es ist ein ruhiger Fluss. Einar schlürft seinen Kaffee, und das Leben ist in Ordnung.
Nun kam der Abend still heran, und grau
Hatte die Dämmerung ein jeglich Ding
In ihre nüchterne Livrei gekleidet;
Ein Schweigen blieb;
liest Bárður im Verlorenen Paradies. Er hält das Buch so, dass der Schein der Lampe darauf fällt. Ein Lichtstrahl, dem es beschieden ist, eine gute Gedichtzeile zu erhellen, hat bestimmt seinen Zweck erfüllt. Die Lippen bewegen sich, er liest die Verse wieder und wieder, und mit jedem Mal wird die Welt in ihm ein klein wenig größer und dehnt sich aus. Der Junge ist mit seinem Kaffee fertig, spült die Schale aus und verstaut sie in seinem Kasten, dann wirft er Bárður einen Blick zu und sieht, wie sich dessen Lippen bewegen, ein Hingezogensein durchfährt ihn, und der gestrige Tag kehrt wieder mit all der Helle und intensiven Gegenwart, die Bárður begleitet, die zur Freundschaft gehört. Er sitzt auf der Bettkante, und der gestrige Tag ist in ihm. Dann tastet er nach der Flasche mit dem Chinaelixier, es ist ein gutes und starkes Verdauungsmittel, überhaupt eine kräftigende und stärkende Medizin, hilft ausgezeichnet gegen die lästigen Winde im Darm, Schmerzen in der Brust, Schwermut, Engegefühle, das weiß jeder, wir lesen es in der Zeitung, und es wird von Kapazitäten im In- und Ausland bestätigt, von Ärzten, Gemeindevorstehern und Kapitänen, alle empfehlen chinesisches Elixier, es hat sogar schon Leben gerettet; Kinder, die bei einer heftigen Grippe mit dem Tod rangen, sind nach wenigen Löffeln wieder vollständig gesund geworden. Außerdem hilft es gegen Seekrankheit. 5–7 Esslöffel vor dem Auslaufen, und du bist gegen Seekrankheit gefeit. Der Junge nimmt einen Schluck aus der Flasche. Es ist grauenhaft, auf einem Sechsruderer draußen auf hoher See krank zu werden. Du musst arbeiten, und es sind noch viele Stunden bis zum Land. Er nimmt noch einen Schluck, denn die Seekrankheit tritt besonders nach längerer Zeit an Land auf. Andrea hat ihre Dosis gegen eine Erkältung genommen, die den Kopf so brummen lässt, wie man es überhaupt nicht gebrauchen kann. Nimm Chinaelixier, und deine Beschwerden verschwinden oder kommen gar nicht erst zum Ausbruch. Unser ganzes Leben ist eine nie endende Suche nach Lösungen, nach Trost, nach Dingen, die glücklich machen oder alles Schlechte fernhalten. Manche begeben sich auf eine langwierige und beschwerliche Suche und finden womöglich doch nie etwas, außer vielleicht eine Art Sinn, Ziel oder Befriedigung in der Suche selbst, wir Übrigen bewundern ihr Durchhaltevermögen, haben selbst aber genügend Probleme damit, überhaupt nur zu leben, und nehmen daher lieber Chinaelixier anstatt zu suchen, fragen aber trotzdem immer wieder, wo bitte ist der kürzeste Weg zum Glück, und finden die Antwort in Gott, in den Wissenschaften, im Schnaps oder im Chinaelixier.
Alle sind ins Freie gegangen.
Um die Hütten liegt viel frisch gefallener Schnee, das Ufer aber ist schwarz. Sie drehen das Boot um. Ein Kinderspiel für zwölf Hände, einen Sechsruderer herumzuwälzen, schwieriger ist es, ihn mit dem Kiel nach oben zu drehen, da reichen zwölf Hände kaum, da braucht man mindestens sechs mehr, aber die andere Besatzung liegt noch im Tiefschlaf und ruht ihre müden Arme im Land der Träume aus. Die fahren nie ganz weit raus und brauchen deshalb nie vor dem Morgen aufzubrechen. Guðmundur wird...




