E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Steffelbauer Fleisch
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7106-0546-8
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weshalb es die Gesellschaft spaltet
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-7106-0546-8
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Noch nie haben wir so viel Fleisch produziert und konsumiert wie heute. Mit der industriellen Massenproduktion häuften sich Lebensmittelskandale, ökologische Probleme, Gesundheitsschäden und führten zu einer tief gespaltenen Gesellschaft. Fleisch: Kein Nahrungsmittel polarisiert stärker.
Dabei hat die Frage, wer wann wie viel Fleisch essen darf, schon immer die Gemüter erregt. Von den Jägern und Sammlern über die ersten Agrargesellschaften zur agrarischen und zur industriellen Revolution bis hin zum Fleischboom der Nachkriegszeit: Die Geschichte des menschlichen Fleischkonsums ist eine Geschichte der Macht, der Tabus, des Glaubens und der Gebote – und zugleich ein entscheidender Faktor in der Entwicklung unserer Zivilisation. Überraschend und erhellend zeigt Ilja Steffelbauer, wie die einstige Mangelware Fleisch den Homo Sapiens mitsamt seinen Kulturen, Religionen, Moralvorstellungen geprägt hat. Und warum die Frage, ob man ein Schnitzel essen darf oder nicht, an den wahren Problemen der Überflussgesellschaft vorbeigeht.
Autoren/Hrsg.
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Seit vor wenigen Jahren in einer marokkanischen Karsthöhle am Jebel Irhoud Skelettreste von Homo sapiens entdeckt wurden, die gut 100.000 Jahre älter sind als die ältesten bisher bekannten Fundstücke, hat sich unsere Vergangenheit als Spezies um die Hälfte verlängert. Demnach lebt der anatomisch moderne Mensch seit ungefähr 300.000 Jahren auf diesem Planeten, und grob 290.000 davon waren wir Sammler und Jäger. 97 Prozent unserer Existenz als Spezies sind wir (oder zumindest ein guter Teil von uns) hinter irgendwelchen Tieren hergelaufen, haben ihnen aufgelauert, sie in ihren Bauen in die Enge und über Klippen in einen tödlichen Sturz getrieben, sie mit Pfeilen beschossen, mit Speeren aufgespießt und mit Steinen beworfen. Wir haben gelernt mit unserer Beute Schritt zu halten, ihre Spuren zu entdecken und zu deuten; und ihre Lebensgewohnheiten genau studiert, um ihr Verhalten voraussagen zu können. Anthropologen, welche bei den letzten heute noch existierenden Sammlern und Jägern forschen, wie der amerikanische Sprachwissenschaftler Daniel Everett bei den Pirahã im Amazonas, berichten, dass schon kleine Kinder ein umfangreiches Wissen über ihre Umwelt, die darin vorkommenden Tierarten und deren Lebensweise und Verhalten besitzen. Dieses Wissen schnappen sie nebenbei auf, denn wir Menschen haben uns angewöhnt, in der Gruppe über die Spuren von Tieren in unserer Umgebung zu diskutieren und unsere Reaktionen darauf so zu koordinieren, dass am Ende wir den Höhlenbären und nicht er uns fressen konnte. Wir haben uns mit einer anderen Spezies, ebenfalls soziale Hetzjäger, die in Gruppen agieren, zusammengetan und uns gegenseitig gezähmt und erstaunlich viel voneinander gelernt. So gut wie jede Technologie, die wir in diesen 290.000 Jahren entwickelt haben – Feuer, Kürbisflaschen, Steinklingen, Speere, Speerschleudern, Harpunen und am Ende Pfeil und Bogen –, diente der Jagd oder der Verarbeitung von Jagdbeute. Eine der bedeutendsten Technologien, die uns die Erschlie -ßung der kälteren Lebensräume des die meiste Zeit über eiszeitlichen Planeten erlaubte, war Kleidung und die damit verbundene komplexe Technologie des Anmessens, Zuschneidens und Nähens. Sie war nur möglich durch die Verfügbarkeit von tierischen Häuten, Fellen, Knochen und Sehnen. Das Sammeln ist die Mutter einer nicht zu unterschätzenden, frühen technologischen Innovation: der Erfindung von Gefäßen (aus Flechtwerk, natürlich vorkommenden Formen wie Kokosnüssen, Bambus oder Rinde), um größere Mengen an Früchten ins Lager zurückzubringen, als man mit zwei Händen tragen kann. Und in diesem Kontext entstanden auch die verschiedensten Techniken, um Pflanzen genießbar zu machen. Während das frische Fleisch von Tieren nämlich – von ganz wenigen Ausnahmen wie etwa der Leber von Eisbären abgesehen – ohne Bedenken genossen werden kann, sind erstaunlich viele Nahrungspflanzen in ihrer Naturform, und sogar in ihrer kultivierten Form, mehr oder weniger giftig. Vom Verzehr der grünen Teile von Tomaten oder von grünen Kartoffeln wird regelmäßig abgeraten, Pilze fordern jedes Jahr in den mittleren Breiten ein paar Opfer und die Mehrheit der am weitesten verbreiteten Nahrungsmittelallergien beziehen sich auf pflanzliche Nahrungsbestandteile, wie ein rascher Blick auf die wohlbekannte Liste der vierzehn „EU-Allergene“ zeigt. Manche Leute kann man mit einer Erdnuss umbringen, dagegen braucht man vergleichsweise viel Fleisch, um denselben Effekt zu erzielen. Muscheln und Schalentieren sind hier die unrühmlichen Ausnahmen. Zu den Erfindungen, die wir wohl den Sammlerinnen zuschreiben dürfen, gehörten also zahlreiche Methoden, diese mehr oder weniger giftigen Früchte und Knollen zuzubereiten und genießbar zu machen. Joseph Henrich erzählt in seinem Buch mehrere warnende Beispiele, wie unsachgemäße Zubereitung von gängigen Nahrungspflanzen, wie etwa Maniok oder Nardoo, die aber zugewanderten Gruppen unbekannt waren, zum meist langsamen und elenden Ableben der Konsumenten führte. Dass also in vielen Kulturen das Symbol für die Weiblichkeit ein Gefäß, das der Männlichkeit ein Speer ist, hat nicht nur mit sexueller Metaphorik zu tun. Die bereits im vorhergehenden Kapitel angedeutete geschlechtliche Arbeitsteilung in Sammlerinnen und Jäger hat sich durch ein Äon tief in das kollektive Unterbewusste unserer Spezies eingeschrieben, vor allem auch, weil wir über diese lange Zeit kaum etwas anderes getan haben. Jagen, Sammeln und die Herstellung der dafür benötigten Werkzeuge und Waffen sowie die Instandhaltung des Lagerplatzes, des Feuers und der Kleidung waren die Tätigkeiten, mit denen wir über 97 Prozent der Menschheitsgeschichte fast ausschließlich beschäftigt waren. Und das war nicht einmal eine sehr aufwändige Lebensweise. Entgegen der noch immer populären Vorstellung vom primitiven Steinzeitmenschen, der beständig auf der Suche nach Nahrung ein elendes Dasein in kalten Höhlen fristete, wissen wir seit dem epochalen Werk von Marshall Sahlins, dass die steinzeitliche Jäger- und Sammlergesellschaft die erste Überflussgesellschaft (First Affluent Society) war. Mit relativ geringem Arbeitsaufwand – circa vier Stunden pro Tag – fanden unsere Verfahren ihr Auskommen. Das war unter anderem dadurch möglich, dass fett- und energiereiche Nahrung aus der Jagd einen wesentlichen Teil des frühmenschlichen Kalorienbedarfs deckte und man sonst recht energieschonend faul war. Unsere Vorfahren hatten daher sehr viel Zeit, sich mit dem zu beschäftigen, was sie gegenüber allen anderen Hominiden überlegen machen sollte, nämlich nachzudenken, zu beobachten, zu kuscheln, sich auszutauschen, voneinander zu lernen und soziale Bande zu knüpfen. Wenn die Beute am Ende der Jagd erlegt war, haben wir sie aufgeschlitzt, abgehäutet, ihre Knochen geknackt, um an das Mark heranzukommen, ihre nahrhaftesten Organe wie Leber und Hirn oft noch roh an Ort und Stelle verzehrt (weil man die nicht zubereiten musste und sie auf dem Heimweg leicht verderben konnten) und den Rest des Kadavers zurück zum Lagerplatz geschleppt, wo er zerteilt, gekocht und verzehrt wurde. Vor allem Letzteres hat uns aber nicht zu blutrünstigen Egomanen gemacht, wie es die Vertreter der Killeraffen-Hypothese noch sehen wollten, sondern zu besonders kooperativen, harmoniesüchtigen und fürsorglichen Hominiden. Im 20. Jahrhundert noch untersuchte Sammler- und Jägerpopulationen haben uns gezeigt, dass im Zuge des Verteilens der Beute im Lager ein System von sozialen Interaktionen entstand, das sehr wesentlich prägt, wie wir Menschen insgesamt miteinander umgehen. Es geht schon damit los, dass niemand die Beute verteilt. Wie Ethnologen bei Gruppen von jagenden Homo sapiens beobachten konnten, verteilt nicht ein erfolgreicher Jäger seine Beute. Dieses Konzept existiert schlicht und ergreifend nicht, weswegen es in den Sprachen dieser Ethnien oft auch keine besitzanzeigenden Partikel gibt. Vielmehr wird das Beutestück, wenn es gemeinschaftlich erjagt wurde sowieso, aber auch, wenn es ein Einzelner erbeutet hat, nach der Rückkehr von der Jagd in der Mitte des Lagers abgelegt. Sodann beginnen mehrere Personen – die Kinder werden hier oft mit einbezogen – damit, die Beute zu zerteilen. Irgendwer schleppt eventuell ungefragt ein Stück weg, oder es werden die Teile ohnehin auf einem zentralen, gemeinschaftlichen Feuer gebraten – „rare“ scheint übrigens die bevorzugte Zubereitungsart der meisten Sammler und Jäger zu sein. Es gibt keine Hackordnung, keine dominanten Männchen, die sich das beste Stück aussuchen, und keine Bevorzugung von Partnern oder Nachkommen. Alle nehmen sich ihren Anteil, ohne zu fragen und ohne eine Geste des Dankes. Wie Forscher feststellten, gibt es in den Sprachen vieler heute noch existierender Sammler und Jäger gar keine Möglichkeit, Dank auszurücken. Der erfolgreiche Jäger wird auch nicht gelobt oder gibt gar mit seinem Erfolg an – eine Idee, die so fest in unserer Vorstellungswelt verankert ist, dass sie nur schwer aus diversen Erklärungsversuchen wegzubekommen ist. Vielmehr neigen Jäger in ethnologisch untersuchten Sammler- und Jägergesellschaften dazu, ihre Leistung herunterzuspielen. Understatement, nicht Protzertum, zeichnet den erfolgreichen Homosapiens-Jäger aus. Und wenn das männliche Ego doch einmal affig wird, holen die Frauen der Gruppe den Macho meist schnell auf den Boden zurück. Denn obwohl die geschlechtliche Arbeitsteilung durch die Jagd beim Menschen kulturell verankert wurde, gibt es in keiner noch bestehenden Sammler- und Jägergruppe – und wir haben keinen Grund anzunehmen, dass es bei unseren steinzeitlichen Vorfahren anders war – eine Hierarchie der Arbeiten. In einer Gesellschaft, in der niemand irgendjemandem etwas vorschreibt – nicht einmal Eltern ihren Kindern –, schreibt auch niemand einer Frau vor, dass sie sammeln müsse, oder...