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E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Stauffer Pilgerreise


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86391-023-5
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-86391-023-5
Verlag: Verlag Voland & Quist
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Bela Schmitz, von seiner Frau verlassen, schmeißt hin, beginnt zu wandern, und zwar so richtig, bis ihm die Füße schmerzen. Er spaziert durch neblige Landschaften, trinkt Schnaps und isst riesige Schinkenbrote, verteilt goldene Pilgervisitenkarten an die Menschen, die er unterwegs trifft, und hofft, sowohl zu vergessen als auch zu sich zu finden.

Michael Stauffer, geboren 1972 in Winterthur (CH), schreibt Prosa, Theaterstücke, Lyrik und macht Hörspiele fürs Radio und Spoken-Word-Performances. Er unterrichtet am Schweizerischen Literaturinstitut der Hochschule der Künste Bern. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Open-Mike-Preis der Literaturwerkstatt Berlin, dem Förderpreis Komische Literatur zum Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor und dem Literaturpreis des Kanton Bern. Zuletzt erschienen die Romane 'Normal. Vereinigung für normales Glück' und 'Soforthilfe'. 'Dichterstauffer' lebt und arbeitet in der Schweiz und Europa.
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KAPITEL II


Ein Mann in Socken auf einer kalten Steintreppe,

das ist nicht schön.

Ich habe dich verletzt,

und dann habe ich versucht, mich, obwohl du verletzt warst,

sinnlos zu verteidigen.

Es gibt jetzt keine offene Türe mehr,

die Türe ist endgültig zugemauert.

Ich bewege mich kaum, und es ist klar,

das Arschloch unter der Glocke bin ich.

Ich komme in Bewegung


Ich steige aus dem Zug, gehe los und bin bald ganz verschwitzt. Ich habe mich lange nicht mehr richtig bewegt und muss ab und zu Pause machen.

Ich schreibe weiter alles auf.

An einer Kuhtränke erfrische ich mich. Ich schaue ein paar Kuhrücken genauer an und stelle fest, dass sie fast die Landschaft dahinter wiedergeben.

Später mache ich auf der Terrasse eines kleinen Bergrestaurants eine Pause und bestelle ein Bier, dazu esse ich Ringbrot und nehme aus dem Rucksack etwas Bienenhonig, den ich auf das Brot streiche.

Du wolltest auf Reisen nie etwas mit den anderen Touristen zu tun haben. Du hast immer so getan, als wärst du etwas Besonderes, kein richtiger Tourist.

Wenn dir ein Tourist entgegenkam und dich freundlich nach der Uhrzeit gefragt hat, hast du immer einen großen Schritt zur Seite gemacht, mürrisch irgendeine Uhrzeit gebrüllt und bist einfach weitergegangen. Oder du hast so getan, als seist du vollkommen in Gedanken versunken und als hätte dich der Tourist mit seiner Frage richtiggehend erschreckt.

Einmal sind wir in die Berge gefahren. Der Weg war steil, man konnte nur im ersten Gang fahren. Du wolltest unterwegs immer wieder aussteigen, hast getobt und geschrien. Ich wusste nicht mehr, was tun. Du hast nur noch die Abgründe gesehen.

Jetzt bin ich zum Glück allein mitten in dieser voralpinen Bergwelt und höre jedem zu, dem ich begegne. Ich glaube nämlich, dass ich eigentlich ein geselliger Mensch bin. Es ist mir nur eventuell etwas abhandengekommen in letzter Zeit.

Ich frage den Wirt, ob er Postkarten zu verkaufen habe, und kaufe dann gleich vier, damit ich nicht in Rückstand gerate mit schreiben.

Lieber Herr Lendel,

ich bin mit Ihnen eine kurze Strecke im selben Zug gefahren. Ich habe heute gesehen: rote Socken, Insekten, Kuhfladen. Gemäß Wanderwegweiser habe ich eine Stunde Vorsprung. Ich bin der beste Wanderer.

Herzliche Grüße

Ihr Bela Schmitz

Ich bleibe nicht lange allein am Tisch. Es kommt ein Mann mit zwei Gläsern zu mir.

„Roger Schaller, seit heute 49. Wollen Sie mit mir anstoßen? Ich bin allein unterwegs, und so wie es aussieht, Sie auch.“

Ich stoße gerne mit ihm an und schenke ihm eine meiner goldenen Pilgervisitenkarten. Er schaut die Visitenkarte an, und wir schweigen ein wenig. Rundherum ist es sehr laut.

Der Wirt kommt an unseren Tisch, um sich für den Baulärm zu entschuldigen. Wir tragen den Tisch von der Terrasse hinter das Bergrestaurant, um dem Lärm zu entgehen.

Später gehen wir zu zweit weiter, und der Mann fragt, ob wir nicht gemeinsam ein Nachtlager suchen wollen.

Der Mann erzählt von seinen fünf wunderbaren Kindern, davon, dass er mit seiner Frau keine Paarbeziehung mehr führe, dass sie dennoch jedes Jahr zwei Wochen gemeinsam in die Ferien fahren. Ich höre nur halb zu.

Auf den Urlaubsfotos, die ich von dir gemacht habe, sah man in deinem Gesicht immer, ob sie am Anfang oder gegen Ende des Urlaubs aufgenommen worden waren.

Gegen Ende sahst du immer erleichtert aus, weil du mir bald wieder ein wenig aus dem Weg gehen konntest.

Es gibt ein Bild, da stehst du an einem sumpfigen See mit glatter Oberfläche. Im Hintergrund eine Hütte. Rund um den See schüttere Vegetation. Es ist schwierig, die Temperatur des Wassers abzuschätzen.

So habe ich dich gesehen, wie diesen See.

Der Mann erzählt weiter von seiner Trennung. Sagt gewisse Sätze zweimal, bis er sicher ist, dass ich ihm zuhöre.

„Ich habe immer gedacht, dass es nichts gibt, das so kaputt ist, dass man es nicht wieder reparieren kann. Aber ich und meine Exfrau, das ist wirklich unreparierbar.“

„Ja, was kaputt ist, ist kaputt“, sage ich unbeholfen.

Der Mann möchte lieber nur noch mit den Kindern allein in den Urlaub fahren. Er hat kürzlich ganz in der Nähe des Bergrestaurants ein altes Ferienhaus angeschaut.

Die Besitzerin hat ihm Schinken und Weißbrot gegeben und Limonade, gemischt mit altem, weit über den Verfall hinaus vergorenem Bier. Dann hat sie gefragt, ob er sich mit einem allfälligen Kauf ernsthaft beschäftige und ob er ihr jemanden nennen könne, der ihr bestätigen könne, dass er solvent sei.

„Das ist doch eine gottlose Frechheit, oder?“, meint der Mann.

„Sie haben recht. Ich könnte in einem solchen Dorf keine Sekunde wohnen. Oder nur wenn ich so reich wäre, dass ich gleich das ganze Tal kaufen könnte. Dann würde ich alles niederbrennen lassen und nur ein paar vereinzelte Attrappenhäuser wieder aufstellen lassen, aus denen dann Einheimische für die Touristen rauswinken könnten.“

Der Mann muss lachen. Ich bin froh, dass er solche Dörfer auch hasst.

Du fandest solche Dörfer immer gut zum Urlaubmachen. Ich hielt es kaum aus in solchen Orten, wo die Bewohner nicht sagen, was sie denken, und nicht machen, was sie wollen. Und wenn einer in einem solchen Dorf dann doch mal nicht mehr anders kann als er kann, dann muss er sich gleich umbringen, damit es überhaupt jemand merkt, dass er nicht mehr anders konnte.

Der Mann zahlt alle Getränke, weil es sein Geburtstag ist, und wir gehen gemeinsam weiter. Wir treffen einen Bauern, der Gras schneidet, zum abendlichen Verfüttern an die Kühe.

„Schönes Wetter heute“, begrüße ich ihn.

„Ja“, sagt der Bauer.

„Das Gras ist schön“, sagt mein Begleiter.

„Ja, es geht“, sagt der Bauer und wendet sich wieder seinem Mäher zu. Ich warte kurz, und als der Bauer das nächste Mal in unsere Nähe kommt, frage ich laut, ob er eine Übernachtungsmöglichkeit kenne. Der Bauer schüttelt den Kopf, und seine Arme vibrieren im Takt des Mähers.

Im nächsten Dorf frage ich wieder nach einer Unterkunft, diesmal eine Polizistin.

„Tourist?“, fragt sie zurück. Ich nicke.

„Man hört es aber kaum. Haben Sie so viel Trinkgeld erhalten?“

Ich verstehe nicht, was die Polizistin meint.

Vielleicht glaubt sie, dass ich im Gastgewerbe tätig und durch das viele Trinkgeld immer motivierter geworden bin und die Sprache immer noch besser gelernt habe und dann noch mehr Trinkgeld erhalten und dieses weiter in Sprachkurse investiert habe und dass jetzt das ganze Restaurant mir gehört und so weiter.

Wir gehen weiter, verlassen das Dorf und brechen dann in sehr lautes Gelächter aus.

Plötzlich bleibt der Mann neben mir stehen und erzählt, dass seine Frau nichts an Nähe zugelassen habe.

„Ich kam mir vor wie der große Bruder. Ich durfte sie gerade noch an die Schulter fassen, ohne dass sie sich wegdrehte“, sagte er.

„Oder ich konnte wie eine Großmutter Bananenrädchen schneiden, die Bananenrädchen auf Weißbrottoast legen, mit Zimtzucker bestreuen und alles überbacken, bis es ineinanderfließt, und es ihr dann zu essen geben.“

„War das mit den Bananen sexuell gemeint?“, frage ich.

„Nein, das Gegenteil. Das war nicht das Problem. Ich konnte mit ihr schlafen, während sie ein Buch las, das hat sie überhaupt nicht gestört!“

Ich frage lieber nichts mehr.

Die Luft wird dünner und mein Herzschlag heftiger. Ich trinke etwas Zitronenwasser. Eigentlich redet der Mann auch von mir. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. Als er weiterreden will, zeige ich auf den Boden.

Wir stehen vor einem Feld mit wunderbaren Blumen, die einen dicht gewobenen Teppich bilden, so dass wir gezwungen sind, bei jedem Schritt zu überlegen, wo wir hintreten...


Michael Stauffer, geboren 1972 in Winterthur (CH), schreibt Prosa, Theaterstücke, Lyrik und macht Hörspiele fürs Radio und Spoken-Word-Performances. Er unterrichtet am Schweizerischen Literaturinstitut der Hochschule der Künste Bern. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Open-Mike-Preis der Literaturwerkstatt Berlin, dem Förderpreis Komische Literatur zum Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor und dem Literaturpreis des Kanton Bern. Zuletzt erschienen die Romane "Normal. Vereinigung für normales Glück" und "Soforthilfe". "Dichterstauffer" lebt und arbeitet in der Schweiz und Europa.



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