Statovci | Bolla | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Statovci Bolla

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-26594-6
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-641-26594-6
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie lebt man ein Leben, das sich nicht nach dem richtigen anfühlt? Eine unmögliche Liebe vor dem Hintergrund des Balkankriegs: Zwei Männer auf der Suche nach Heimat und einem selbstbestimmten Leben.
Pristina, 1995: Arsim ist zweiundzwanzig und frisch verheiratet mit einer Frau, die ihm die Welt zu Füßen legt. Eine Welt, die jedoch mit jedem Tag gefährlicher wird, denn der Kosovo steht an der Schwelle zu einem grausamen Krieg. Als Albaner versucht Arsim in einer Atmosphäre der schleichenden Bedrohung, nicht aufzufallen und irgendwie sein Studium zu beenden. Doch dann trifft er Milo?, einen Serben. Und die zwei beginnen ein Leben im Verborgenen. Bis der Krieg Arsim zwingt, seine Familie und sich in Sicherheit zu bringen und alles zurückzulassen. Die Heimat, das Studium und den Mann, den er liebt.

'Bolla' erzählt davon, was es bedeutet, wenn das Zeitgeschehen ins Privatleben drängt, wenn eine ohnehin schon verbotene Beziehung sich mit noch unermesslicheren Gefahren auflädt und schließlich durch Krieg und Migration entzweit wird. Pajtim Statovci schreibt mit einer verstörenden Lebendigkeit von den 'Folgen von Trauma, Scham und Angst' (Observer).

Pajtim Statovci, geboren 1990, ist ein finnisch-kosovarischer Schriftsteller. Mit zwei Jahren zog er mit den albanischen Eltern aus dem Kosovo nach Finnland. Er lebt in Helsinki und hat Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Statovci wird als Shootingstar und großer europäischer Autor von der internationalen Kritik euphorisch gefeiert, sein Werk ist vielfach ausgezeichnet. Für den Roman 'Meine Katze Jugoslawien' erhielt er gemeinsam mit seinem Übersetzer Stefan Moster den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Helsinki.

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Pristina 1995


Zum ersten Mal sehe ich ihn beim Überqueren einer Straße. Was mir auffällt, ist der gesenkte Kopf, der sich kaum dreht, auch nicht auf der verkehrsreichen Kreuzung, danach der fadendünne Körper, den lange Schnurbeine mit sich ziehen. Durch den Mittelscheitel sehen seine Haare wie Krähenflügel aus, und er drückt einen Stapel Bücher an die Brust; die andere Hand wird mal hinter dem Körper, mal an der Seite vergessen, dann wieder schiebt er sie in die Hosentasche und zieht sich die ziemlich engen dunkelroten Cordjeans hoch.

Ich sitze im Schatten vor einem Café, und er geht mit der Sonne im Nacken in meine Richtung, ein erwachsener Mann im Körper eines Teenagers, und kurz darauf sehe ich ihn für einen Moment aus unmittelbarer Nähe, ich nehme das Zittern der Augen wahr, als er an mir vorbeigeht, die Sachen in seinen Hosentaschen, die zarte Nackenbehaarung und die rasierten Arme, und dann betritt er die Terrasse des leeren Cafés, bleibt für einen Augenblick neben einem Tisch stehen, meine Zigarette ist abgebrannt, und er wirkt verwirrt, als wüsste er, dass ihn jemand beobachtet. Er formt ein Gähnen mit dem ganzen Körper, das gleich darauf als dünnes Hauchen hinter der schüchternsten Faust ertrinkt, die ich je gesehen habe, die vor den Mund gehaltene Hand öffnet sich zur Straße hin, langsam wie eine aufgehende Blüte, und erst dann legt er die Bücher auf den Tisch und setzt sich.

Es ist Anfang April, und ich kann die Augen nicht von ihm abwenden. Er sieht schreckhaft und verirrt aus, als durchlebe er einen unangenehmen Traum, als folge er einem anderen Takt und anderen Gesetzen als alle um ihn herum, und seine Haltungen und Gesten – die Art, wie er vorsichtig ein Buch aufschlägt, als befürchte er, den Umschlag zu beschädigen, wie er den aus der Tasche gezogenen Stift hält, als wäre es die Scherbe eines zerbrochenen Kristallglases, wie er immer wieder die Finger an die Schläfen drückt und die Augen schließt, wie um einen konzentrierten Eindruck zu vermitteln, auch wenn ich den Verdacht habe, dass er nur versucht, sich vom Umschauen abzuhalten – haben etwas Nacktes und Ungezähmtes; etwas Unerklärliches und zugleich Vielsagendes.

Ich stehe auf und gehe zu ihm, ich weiß nicht, woher ich den Mut nehme, warum ich es unumgänglich finde, nähere Bekanntschaft mit ihm zu schließen.

»«, sage ich auf Serbisch.

»Hallo«, sagt auch er mit heller Stimme, die mich fast an meine Frau erinnert, den Blick auf das aufgeschlagene Buch gerichtet, dessen Text so dicht und klein gesetzt ist, dass ich die Sprache nicht erkennen kann.

»Darf ich mich setzen?«, frage ich und ziehe den Stuhl unter dem Tisch hervor.

»Sicher«, antwortet er, blickt sich um, nickt dann in Richtung des Stuhls und schaut mir in die Augen, und ich denke, was für ein wahnsinnig, erstaunlich schöner Mann er ist, seine Iriden sehen aus wie ein Himmel, der sich auf einen Sturm vorbereitet, und der sauber gestutzte Dreitagebart harmoniert mit den rötlich braunen, gut gepflegten Haaren, sein Rücken ist lang wie bei einem Pferd und das Gesicht wohlproportioniert und liebenswürdig, und ich weiß gar nicht mehr, wie viel Zeit seit seiner Antwort vergangen ist, wie lange ich ihn nur angestarrt habe und er mich, wie einen Freund, von dem man Jahrzehnte getrennt war.

»Ich bin Arsim«, sage ich und reiche ihm die Hand.

»Miloš«, antwortet er und ergreift meine Hand mit kalten, knochigen Fingern. »Freut mich, dich kennenzulernen«, sagt er, und ich löse den Griff und fließe in seine alten, traurigen Augen, auf denen schwere, runzlige Lider lasten.

Die folgende Stunde ist so angenehm wie keine andere zuvor in meinem Leben. Wir bestellen noch einmal Kaffee, senken die Stimmen, und als ich seine englischsprachigen Bücher bemerke, wechseln wir die Sprache. Es kommt mir natürlich vor, denn wenn wir Englisch sprechen, sind wir nicht Albaner und Serbe, sondern losgelöst von der Umgebung, aus einem Roman herausgerissene Seiten.

Ich erfahre, dass er ein Jahr älter ist als ich, fünfundzwanzig, dass er an der Universität Pristina Medizin studiert und sich höchstwahrscheinlich auf Chirurgie spezialisieren will, dass er aus der kleinen Stadt Kuršumlija von jenseits der Grenze stammt, dreißig Kilometer nordöstlich von meiner Heimatstadt Podujevo, die wiederum dreißig Kilometer nordöstlich von Pristina liegt, dass er außer seiner Muttersprache und Englisch fließend Deutsch und sogar ein bisschen Albanisch spricht.

Auch ich erzähle ganz gewöhnliche Dinge von mir, wie man sie einem neuen Bekannten eben erzählt, nenne mein Alter und meine Heimatstadt, erzähle, dass mein Vater als Englischlehrer mein Interesse für Fremdsprachen geweckt habe und dass ich hoffe, eines Tages als Lehrer für Literatur oder Korrekturleser für eine Zeitung tätig sein zu dürfen, und während ich rede, spüre ich den Leim seines Blicks auf meinen Wangen, wie er jede kleinste meiner Regungen beobachtet, mit gekrümmtem Rücken und schief gelegtem Kopf konzentriert zuhört, als versuchte er, alles, was ich erzähle, auswendig zu lernen.

Ich sage, ich studiere ebenfalls an der Universität, Literatur, Geschichte und Englisch, oder habe zumindest einmal dort studiert, ich weiß nicht, es ist mir peinlich, davon zu erzählen, denn die Universität, an der ich mich vor Jahren eingeschrieben habe, ist nicht mehr dieselbe wie die, an der er studiert, diejenige, an der wir ungefähr zur gleichen Zeit das Studium aufnahmen.

Nachdem wir den Kaffee getrunken haben, schauen wir einander eine Weile an, und das kommt mir richtig und echt vor, im Gegensatz zu Pristina, den auf die Straßen drängenden Truppen mit ihren Sturmgewehren, den Schlangen von Panzern und Militärfahrzeugen, die aussehen, als wären sie aus dem Weltall hier gelandet.

Er lächelt, und auch ich lächle, es macht mir keine Angst, wie wir in diesem Augenblick von außen betrachtet wirken mögen, und ihm auch nicht, denn wir waren dazu bestimmt, uns zu begegnen, denke ich, und er denkt es vielleicht auch, wir sind aus gutem Grund zur gleichen Zeit in diesem Café gelandet.

Irgendwann bittet er die Bedienung um die Rechnung, zahlt auch meinen Kaffee und sagt, er müsse vor seiner nächsten Vorlesung noch in die Bibliothek.

»Möchtest du mitkommen?«, fragt er.

Ich habe keinen Grund, in die Bibliothek zu gehen, sage aber, ohne zu zögern, ich würde ihn begleiten, und so gehen wir ein kurzes Stück, überqueren die Straße und erreichen den Campus, betreten einen Rasen, der mit grauen, erodierenden Wegplatten gesprenkelt ist, von denen die Jahre ganze Brocken abgebissen haben, wir steigen ein paar Stufen zum Eingang eines Gebäudes hinauf, das aussieht, als wäre es in ein Fischernetz gewickelt, und treten in eine große, vom Licht geöffnete Halle wie in den entzündeten Rachen einer altertümlichen Bestie. Die Böden bestehen aus imposanten Marmormosaiken, und an den Wänden sind runde Metallrosetten angebracht, die überwachende Blicke zu werfen scheinen, wie Augen von Göttern.

Er geht ein kleines Stück vor mir her, und plötzlich greife ich nach seiner Schulter, wie ein Wahnsinniger, mitten in der Eingangshalle der Bibliothek, genauso, vollkommen entgegen meiner Natur, ohne zu überlegen, in der Menschenmenge, die dem Gebäude entströmt, im Herzen eines ins klebrig Warme gekippten Nachmittags fasse ich ihn allen Ernstes an, und er bleibt stehen, und erst einen Moment später dreht er den Kopf, schaut zuerst auf meine Hand auf seiner Schulter, auf meine Fingerspitzen, die auf dem Bogen seines Schlüsselbeins ruhen, und dann auf mich, und während dieses kurzen Zeitraums bin ich ganz und gar ein anderer Mann – so lebendig, denke ich, so lebendig bin ich noch nie gewesen.

Er ist Serbe, und ich bin Albaner, und darum sollten wir Feinde sein, aber jetzt, da wir einander berühren, steht nichts zwischen uns, was dem anderen ungewöhnlich oder fremd wäre, und ich habe das unerschütterliche Gefühl, wir beide, wir sind nicht wie die anderen, und dieses Gefühl trifft mich so stark, so undurchdringlich deutlich, dass es wie eine von oben gesandte, für mich geschriebene Botschaft ist; und wir achten nicht darauf, wie manche der Leute die Augen verdrehen oder uns bitten, nicht den Weg zu versperren, wie manche zu lachen scheinen, als sie an uns vorbeigehen, vielleicht darüber, dass wir keine Worte zu bilden vermögen, weder für sie noch füreinander.

Denn als er mich schließlich fragt, ob ich Zeit hätte, ihn nächste Woche wieder zur Mittagszeit im selben Café zu treffen, und er seinem Gesicht das Ausrutschen in ein Lächeln gestattet, das er unverzüglich zu bändigen versucht wie einen ungehörigen Lachanfall und auf das ich mit meinem Lächeln und den Worten, , antworte, spüre ich, wie mein Leben entzweibricht, in das Leben vor ihm und in das Leben nach ihm, wie mein bisheriges Leben auf einmal ein kaum noch bedeutsames Detail in meinem neuen Leben ist, wie es zurückbleibt wie eine auf die Schnelle erfundene Notlüge.

Es ist Anfang April, und ich will diesen Mann so unbestreitbar und deutlich, dass er für den ganzen Rest des Tages in den Gebeten ist, in denen ich Gott schamlos um ihn bitte.

Am selben Abend serviert mir meine Frau Bohnensuppe, gebratene Paprika in Sahnesoße, Feta, Tomaten, Gurken und . Während ich esse, sitzt sie mir gegenüber und wirkt besorgt, als hielte sie den Atem an oder befände sich in unangenehmer Gesellschaft.

Ich habe sie jung geheiratet, im Frühsommer vor vier Jahren, mit gerade mal zwanzig, das einzige Kind meiner Eltern, auf Anweisung meines Vaters,...


Moster, Stefan
Stefan Moster, geboren 1964 in Mainz, lebt als Autor und Übersetzer in Berlin. 2001 erhielt er den Staatlichen finnischen Übersetzerpreis und 2023 wurde er mit dem finnischen Alfred-Kordelin-Preis ausgezeichnet. Er übertrug unter anderem die Werke von Petri Tamminen, Rosa Liksom, Selja Ahava und Hannu Raittila vom Finnischen ins Deutsche.

Statovci, Pajtim
Pajtim Statovci, geboren 1990, ist ein finnisch-kosovarischer Schriftsteller. Mit zwei Jahren zog er mit den albanischen Eltern aus dem Kosovo nach Finnland. Er lebt in Helsinki und hat Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Statovci wird als Shootingstar und großer europäischer Autor von der internationalen Kritik euphorisch gefeiert, sein Werk ist vielfach ausgezeichnet. Für den Roman »Meine Katze Jugoslawien« erhielt er gemeinsam mit seinem Übersetzer Stefan Moster den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Helsinki.



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