Stangl Was kommt
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-85420-923-2
Verlag: Literaturverlag Droschl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-85420-923-2
Verlag: Literaturverlag Droschl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von den zahllosen Lebenden und Toten, die Wien bevölkern, hebt Thomas Stangl in seinem dritten Roman zwei Personen heraus: Emilia, 17, die wir im Sommer 1937 kennenlernen, am Vorabend der historischen Katastrophe, und Andreas, den Pubertierenden, der vierzig Jahre später, Ende der 70er Jahre, wie Emilia allein mit seiner Großmutter lebt und ebenfalls in eine private? politische? Katastrophe gerät. Geschichte ist nicht nur das, was sich schon ereignet hat, 'Geschichte heißt, das kommt erst', schreibt Thomas Stangl. Für seinen Roman bedeutet das, dass sich verborgene Motive, kaum merkliche Anklänge, Wiederholungen, Blicke, ja auch Menschen quer durch das Buch und die Zeiten ziehen, das Wiedergänger-Motiv, Elemente der Gespenstergeschichte spielen schon in Ihre Musik eine gewisse Rolle (wie wir auch Emilia Degen schon aus diesem Roman kennen, als die ältere der beiden Frauen). In überwältigenden, auch schockierenden Bildern hält Stangl das fest, was sich der Beschreibung – zumindest in der gegenwärtigen Literatur – entzieht und wofür wir höchstens den Film als zuständig erachten: er schafft Räume des Übergangs, der Unschärfen, der Ahnungen und Déjà-vus, Räume für die Lebenden und die Toten, die Geschichte und ihre Opfer, Sterben und Verschwinden, Wirklichkeit und Traum. Thomas Stangls Sätze sind ein Rausch der Wahrnehmung, der die Grenzen zwischen Innen und Außen auflöst und eine befreiende Wirkung hat wie wenige Bücher, ein barock-romantisches Meisterwerk.Der immer gegenwärtige Alptraum der Geschichte und der Skandal des Todes: ein literarisches Meisterwerk.
Autoren/Hrsg.
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I.
»Jedesmal, wenn sie mich fragten, wie ich es denn
gemacht hätte, in einer so fernen Zeit zu leben,
stieg ein ganz unerträglicher Ärger in mir auf.«
Felisberto Hernández, Lucrezia
In dem Film The Wedding March von Erich von Stroheim erscheint ein seltsamer ausgeschnittener Ort. Angeblich ist der Schauplatz Nußdorf in Wien, das Tor und der Garten einer Heurigenstube waren eben noch im Hintergrund zu sehen, auf der anderen Seite wird eine Fleischerei Gestalt annehmen, mit weißgetünchten Mauern, an die für ihn schwer lesbare Graffiti in Kurrentschrift gekritzelt sind, dazwischen die Zeichnung eines Gehängten, Schweine und Gänse laufen durch den Schlamm, ein Schäferhund zerrt an seiner Kette. Das Bild kapselt sich ab, als könnte man diese Grenzregionen in ihrer Bedeutsamkeit, ihrer Bedrohlichkeit vergessen, als gäbe es dieses Feindesland nicht. Das Licht zieht im Bildraum kleine Schleier und Netze, die die Apfelblüten in den Bäumen, die Uniformknöpfe, die weißen Gesichter verbinden, verhüllen, halten und löschen. In einem windschiefen, verrottenden Holzkarren schmiegen sich ein Mann und eine Frau aneinander, ein Prinz und Offizier, ein armes Mädchen, Klischeefiguren, die sich in ihren Blicken aus dem Klischee lösen, der Karren, der der Traumort des Mädchens war, eine Hochzeitskutsche oder ein Boot am Fluss (warum nicht am Meer), wird zum gemeinsamen Traumort. Ein Obstgarten mit Apfelblüten aus Wachs, vom detailversessenen Regisseur an den Zweigen angebracht, es sind Apfelblüten und zugleich ist es flirrendes Licht und weiße Leinwand; gleich daneben fließt die Donau, wie ein reißender hochwasserführender Strom, schwemmt Treibgut, Äste mit sich und schickt ihre Gespenster über die Szene (der Traumort wird zum Ort eines Alptraums), den Eisernen Mann, der von der harmlosen Dekorfigur am Wiener Rathaus zum handelnden, unheilbringenden Monster wird (das Mädchen hebt den Kopf, eine Sekunde zu spät), den Fleischhauer und Nachbarn, der vielleicht nichts als sein Stellvertreter in der wirklichen Welt ist. Der Christus am Holzkreuz, der sich ins Bild und zwischen die Liebenden schiebt, ist eines der Gespenster: sein starrer Blick nimmt weder das Licht noch die Menschen wahr; er scheint zu erwarten, dass sie sich in allen ihren Bewegungen vor ihm beugen, so wie sich die Stadt vor dem Dom in ihrer Mitte beugt (es ist nicht einfach, auszuweichen, sich in der Bewegung zurückzuhalten und sich dann gleich hinter sich zu lassen). Während der Zuschauer sich im Kinosessel zurücklehnt, mit einem warmen winzigen Schmerz im Rücken, breitet sich eine Idee vom Glück und von der Vollendung in seinem Kopf aus, der dunkle Raum pulsiert um seinen Körper, und das Vorher und das Nachher sind ihm egal; als wäre die Außenwelt wegzuschließen; sie ist es im Moment, in der Lüge, für die Dauer der Vorstellung, in der die Liebenden im Bild durch das Netz aus Licht miteinander verbunden sind und die bedrohlichen Zeichen fast unsichtbar (Lüge und Vollendung, und gleich auch schon die Bedrohung, gehören für ihn zusammen). Er lernt sich zu bewegen, erinnert sich, der Moment, die Lüge des Moments wird zur Wahrheit und saugt ganze Leben in sich auf, er spürt seinen Körper, sieht, so klar wie Schatten, die Körper. Wenn er den Blick auf die Fensterscheiben richtet, erscheinen hinter den Gardinen oder dem nackten Glas Gesichter, im Licht der Schreibtischlampen, der Nachtkästchenlampen, der Lüster, im Sonnenlicht, Körper in ihren Wohnungen, in den Korridoren, den Klassenzimmern, in die Bankreihen gebeugt, mit einer Zigarette zwischen den Fingern an einem Kaffeehaustisch, am Küchentisch, vielleicht spüren sie, als ein winziges Zucken, den Übergang (sie hebt den Kopf, eine Sekunde zu spät).
Emilia Degen taucht an einem Tag im Frühling 1937 auf, der Geruch in ihrem Zimmer unterscheidet sich von den Gerüchen der Stadt; die Dinge teilen ihren Duft mit, man kann es genießen, fremd in seinem eigenen Körper zu sein. Alles um sie verliert an diesem Tag seine Selbstverständlichkeit. Später, noch am Leben und doch schon lange tot, wird sie davon träumen, plötzlich in einer Schublade des Schranks (nein, eigentlich gleich auf dem Küchentisch – wie konnte sie sie bisher übersehen) Schwarzweißfotos von der Wohnung aus dieser früheren Zeit zu finden. Menschenleere, leicht körnige Fotos, die aus einem anderen Universum zu stammen scheinen: als etwas vage Körperliches, eine in ihrem Innern ständig den Ort wechselnde kleine Pein und nicht als klarer Gedanke, nagt dann die Idee an ihr, sie würde gleichzeitig noch und für immer in diesem anderen Universum leben, eine schwarzweiße Figur, im leichten Nebel zwischen den Dingen gefangen. Sie weiß, wo sie vor vielen Jahrzehnten geschlafen hat, in einem alten Nachthemd, zwischen Möbeln und Tapeten aus der Kaiserzeit, sie erinnert sich an die Blicke, die sich selbstverständlich jeden Morgen auf sie richteten, sobald sie, im Schlafrock oder schon voll bekleidet, in den langen Röcken, die sie damals trug, aus ihrem Zimmer kam, ihr Bild in diesen Blicken hat sich längst verloren. Seit alles zwecklos und bedeutungslos geworden ist, kann sie (zunächst nur im Traum einer Nacht, im Schrecken eines nächtlichen Erwachens) meinen, sich selbst zu begreifen. Sie zuckt noch einmal zurück und tut als würde sie weiterleben; der Schmerz verschiebt sich an den Rand ihres Bewusstseins: ein Ort, wo die Toten zwischen den Möbelstücken und den Tapeten, auf den weichen Teppichen, den Parkettböden ihre langsamen Bewegungen vollführen und ihre sinnlosen Selbstgespräche weiterlaufen lassen, auf sie warten, auf ihre Rückkehr, nach und nach gleitet ihr eigenes Denken an den Rand ihres Bewusstseins, gleicht sich diesen Selbstgesprächen an.
Am Ende wird der Geruch nach Kohle, nach Karfiol, der durch die Fenster hereindringt, das Bild der Linoleumböden auf den Gängen, der weichen Wände mit ihrem fahlen Blümchenverputz, die im Nachhinein wie aus Butter scheinen, der Geruch nach Essig, nach Karfiol, nach Urin, der durch die Wohnungstür dringt, stärker sein als das, was sie für das eigene Leben gehalten hat, ihre Handlungen, ihre Überzeugungen, die Spuren, die sie hinterlassen würde, falls sie Spuren hinterlassen würde, sie oder irgendjemand. Dann wird ihr Körper durch die faltige Haut einen Geruch nach Kohle, nach Kar-fiol, nach Butter, Essig und Urin ausdünsten, nichts kann den Geruch überdecken, nichts kann ihm widerstehen, es ist der Geruch der Erinnerung, der Geruch dieser Stadt; die Gestalten der Nachbarn, die Gestalten an der Schule, an der Universität, denen sie immer ausgewichen war, kommen ihr nah, sie kann ihren Atem riechen, beinahe schmecken.
Sie taucht an einem Tag im Frühling 1937 auf, vor der Zeit der Betäubung, der Geruch in ihrem Zimmer unterscheidet sich von den Gerüchen der Stadt; die Dinge teilen ihren Duft mit, man kann es genießen, fremd in seinem eigenen Körper zu sein. Alles um sie verliert an diesem Tag seine Selbstverständlichkeit, jeder Schritt, vom Aufstehen am Morgen an, jeder Punkt des Tagesablaufes, die Kleider, in die sie sich hüllt, die Abfolge von Gesten im Badezimmer (ein eigenes Badezimmer, mit Wanne und Wasserklosett, eine Vielfalt von Zimmern, für zwei Frauen, die nicht arbeiten, oder eine alte Frau und ein Mädchen, die nicht arbeiten), der Kaffee zum Frühstück, echter Bohnenkaffee, sie hat keine Ahnung, wie viel er kostet, das Dienstmädchen kauft für sie ein: sie spürt die Leere in diesen Räumen, die Leere zwischen ihnen, wachsende Entfernungen, Jahrzehnte von Leere, ein leichter Nebel, der die Dinge auseinanderzieht und sie, jede von ihnen, in sich gefangensetzt. Sie stellt sich vor, das Dienstmädchen (der einzige Mensch, der sie seit ihrer frühen Kindheit bis jetzt, bis zu dem einzigen Sommer ihrer Jugend je nackt gesehen hat) auf den Mund zu küssen, die Zunge dieser anderen Frau mit ihrer Zunge zu liebkosen, ihren Speichel einzusaugen, ich bin so froh, dass ich bei Ihnen (bei Eahna) bin und nicht bei Juden (und ned bei an Jud), wird das Dienstmädchen zur Großmutter sagen, Emilia schaut aus dem Fenster, schaut auf die gut geputzte Scheibe des geschlossenen Fensters, der Satz wird in ihrem Körper steckenbleiben, ein verrostender Nagel, sie trägt verrostende Nägel in ihrem Körper.
Ihr Bett steht in dem Zimmer links von der Eingangstür, in dem einmal, in vielen Jahrzehnten, ihre Tochter schlafen wird, an der Seitenwand, der Kopfteil (eine walnussbraune Holzplatte mit geschwungenem Giebel und Säulchen mit Kapitell, an der sie das Kissen hochrichten, an der sie, auf dem Rücken liegend, den Nacken geknickt, den Hinterkopf abstützen kann) neben dem von gestreiften Gardinen verhängten Fenster; in die Leintücher sind die Initialen der Großmutter, ihres Mädchennamens gestickt (sie selbst wird von der Geburt bis zum Tod den gleichen Namen tragen: die anderen Leben, die in dem ihren aufgehoben sind – keines, das darüber hinausreicht –, ändern nichts daran). Sie schläft in Seitenlage, Strähnen ihres langen Haars umspielen und umschlingen wie Seetang ihre Wangen, ihren Nacken, ihren Hals, legen sich wie gestrandet, aus der Bewegung gerissen in zufälligen Mustern am Kissen und am Leintuch ab. Unter der Bettdecke ist ihr weißes Nachthemd über die Knie hochgerutscht; ein Zucken durchläuft ihre Beine; sie kann sich im Traum so daliegen und schlafen sehen, im Schwindel eines Traums immer wieder in den Schlaf, in ihren Körper, als wäre er unverwandelbar ihrer, hinabstürzen (alle ihre Leben sind ihr eigenes, keines, das da-rüber hinausreicht, es gibt keine Zukunft, so sehr sie, von dem einen Moment an, an den sie sich erinnert, von dieser Nacht, diesem Morgen, diesem Tag an lange Zeit an die Zukunft glauben, auf sie setzen wird, auf eine andere...




