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E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Stamm Seerücken

Erzählungen
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-400991-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-10-400991-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Ein brillanter Erzähler.« Der Spiegel »Was das Scheitern anbelangt, das leise Scheitern im Alltag, dem kein dramatisches Leiden folgt, darin ist der 1963 geborene Schweizer Peter Stamm ein literarischer Meister. (...) Auf geradezu prekäre Weise sind die Erzählungen auch darin stimmig, dass sie die Verzagtheit zum natürlichen Lebenszustand der Menschen erklären.« Karl-Markus Gauss, Die Zeit Peter Stamm erzählt ungeheuer kunstvoll und scheinbar so einfach von Leben, die nicht gelebt, die aufgeschoben, erinnert und schließlich verpasst werden. In lakonischen Sätzen und unauffällig stimmungsvollen Szenen findet er - leicht lesbar, aber schwer verdaulich - die kaum spürbaren Eruptionen, die sich im Rückblick als Erdbeben erweisen. Die Einsamkeit im gemeinsamen Urlaub. Ein verlassenes Hotel in den Bergen. Ein Mädchen im Wald. Ein Pfarrer, der die Vögel füttert. Die erste Liebe mit Gewicht. Peter Stamm zeigt sich auch in »Seerücken« wieder als Meister der Kurzgeschichte.

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«, »Das Archiv der Gefühle« und zuletzt »In einer dunkelblauen Stunde« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen 2014 seine Bamberger Poetikvorlesungen sowie 2024 die Züricher Poetikvorlesungen »Eine Fantasie der Zeit«. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde mit dem Schweizer Buchpreis 2018 ausgezeichnet. Literaturpreise: Rheingau Literatur Preis 2000 Bodensee-Literaturpreis 2012 Friedrich-Hölderlin-Preis 2014 Cotta Literaturpreis 2017 ZKB-Schillerpreis 2017 Solothurner Literaturpreis 2018 Schweizer Buchpreis 2018
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Der Lauf der Dinge


Ich sage nicht, sie haben uns belogen, sagte Alice, aber sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt. Das ist doch immer so, sagte Niklaus seufzend und legte einen Finger zwischen die Seiten des Reiseführers, in dem er geblättert hatte, es ist immer anders, als man es sich vorgestellt hat. Es ist immer anders, als die Leute im Reisebüro behaupten, sagte Alice, es ist immer schlechter. Meinetwegen, sagte Niklaus. Die Diskussion hatten sie schon mindestens fünfmal geführt, seit sie hier waren. Alice hatte sich das Ferienhaus größer vorgestellt, schöner eingerichtet und mit einem gepflegteren Garten. Sie hat sich ihr Leben anders vorgestellt, dachte Niklaus, das ist das Problem, nicht ein durchgesessenes Sofa oder ein schmutziger Backofen. Der Backofen starrt vor Schmutz, sagte Alice. Fünf Minuten bis zum Meer!, sagte sie mit einem höhnischen Lachen. Du benutzt den Backofen doch sowieso nie, sagte Niklaus. Und ob es fünf oder zehn Minuten sind zum Meer, was spielt das für eine Rolle, wir sind in den Ferien. Natürlich ging es nicht um fünf Minuten. Es ging darum, dass Alice sich betrogen vorkam, übervorteilt, und dass Niklaus sich wieder einmal nicht für sie einsetzte und alles einsteckte. Du lässt dir alles gefallen, sagte sie. Er sagte, wir könnten nach Siena fahren.

Ursprünglich war Siena eine etruskische Siedlung, sagte Niklaus. Unter den Römern hieß die Stadt Sena. Den Höhepunkt ihrer Geschichte erlebte sie im dreizehnten Jahrhundert. Damals wurde die Universität gegründet und das Rathaus gebaut.

Sie waren auf der Flucht vor dem Strom der Touristen in enge Nebengassen ausgewichen und hatten sich verirrt. Niklaus hatte gezögert, den kleinen Stadtplan im Reiseführer zu konsultieren, obwohl sie ohnehin jeder als Touristen erkannte. Als er es endlich doch tat, hatten sie die Altstadt längst verlassen und standen an einer dichtbefahrenen Straße, die auf dem Plan nicht zu finden war. Das ganz normale Leben, sagte er, das ist doch auch mal interessant. Aber Alice hatte alles gesehen, was sie sehen wollte, den Palazzo Pubblico, das Kunstmuseum, den Campo und die Kathedrale. Das normale Leben konnte sie auch zu Hause haben. Jetzt taten ihr die Füße weh, und der Regen konnte jeden Moment wieder einsetzen. Du hast keine Ahnung, wo wir sind, nicht wahr? Ich glaube, sagte Niklaus und drehte den Plan auf den Kopf, wir müssten ungefähr hier sein. Alice winkte einem Taxi. Es fuhr, ohne abzubremsen, an ihnen vorbei.

Auf dem Weg zurück beklagte sich Alice über die Touristen, die die Altstadt verstopften, nur um ein paar hässliche Souvenirs zu kaufen. Sie hätten keine Ahnung von den Schätzen der Museen und der Schönheit der Architektur. Was man nicht weiß, erkennt man nicht, sagte sie. Du weißt ja nicht, was sie suchen, sagte Niklaus, irgendetwas werden sie davon haben, sonst würden sie nicht hierherreisen. Sie kommen, weil alle kommen, sagte Alice. Und wenn sie wieder zu Hause sind, erzählen sie, die Toiletten seien sauber gewesen oder schmutzig. Und das Essen preiswert oder teuer. Darauf reduziert sich ihr Leben, essen und ausscheiden. Sie lachte bitter. Du hast ja recht, sagte Niklaus. Er bereute es, den Ausflug vorgeschlagen zu haben.

Am nächsten Tag regnete es in Strömen. Alice und Niklaus lasen den ganzen Morgen. Als der Regen gegen Mittag aufhörte, gingen sie kurz an den Strand, aber der war voller lärmender Familien und Beachvolleyballspieler. Sie waren noch nicht lange da, als es wieder anfing zu regnen. Alice reichte Niklaus seinen Schirm und spannte ihren auf. Sie schauten den Badegästen zu, die hastig ihre Sachen zusammenräumten und lachend an ihnen vorbeirannten, um unter den Vordächern der Restaurants Schutz zu suchen. Geschieht ihnen recht, sagte Alice. Ihre Laune schien sich etwas gebessert zu haben.

Auf dem Weg zurück kauften sie im kleinen Lebensmittelladen an der Hauptstraße ein. Als sie wieder auf der Straße standen, machte Alice sich über die Leute lustig, die den Ladeninhaber in aller Selbstverständlichkeit auf Deutsch ansprachen und sich zu wundern schienen, dass er sie nicht verstand. Wenigstens die paar Worte könnten sie lernen, sagte sie, und und Guten Tag und Danke.

Vor dem Nachbarhaus stand ein schwarzglänzender Offroader mit getönten Scheiben und einem Stuttgarter Kennzeichen. Der Laderaum war offen. Auf der Straße standen Koffer und Taschen, ein Kinderfahrrad und ein Dreirad. Ein Mann kam aus dem Haus auf sie zu. Alice grüßte auf Italienisch. Der Mann gab keine Antwort. Vielleicht hat er dich nicht gehört, sagte Niklaus, als sie durch den Garten zum Haus gingen. Alice zuckte mit den Schultern. Hoffentlich sind die Kinder auch so schweigsam.

Im Haus war es klamm, und es roch nach alten Möbeln und nach kaltem Zigarettenrauch. Es sollte verboten sein, in Ferienhäusern zu rauchen, sagte Alice. Wenn wenigstens der Kamin funktionieren würde, dann könnten wir ein Feuer machen. Sie holten die Steppdecken aus dem Schlafzimmer und verbrachten den Nachmittag lesend auf dem Sofa.

In den folgenden Tagen war kaum etwas von den neuen Nachbarn zu sehen. Das Wetter war gut, und wenn Alice und Niklaus auf der Terrasse vor dem Haus frühstückten, war der Geländewagen schon weg, und erst wenn sie abends vom Abendessen zurückkamen, stand er wieder da, und im Nachbarhaus war Licht. Die Frau und die Kinder hatten Alice und Niklaus noch nie gesehen. Vielleicht gibt es sie gar nicht, sagte Niklaus. Sie waren den ganzen Tag durch die Hügel im Landesinneren gefahren, auf der Suche nach Weingütern, und hatten ziemlich viel Wein eingekauft und Olivenöl. Als sie gegen fünf zurück zum Ferienhaus kamen, war der schwarze Wagen nicht da, aber im Garten des Nachbarhauses lag eine schöne junge Frau auf einem Liegestuhl. Sie trug einen knappen Bikini mit Blumenmuster und löste Sudokus. , sagte Alice, aber die Frau reagierte ebenso wenig wie vor einigen Tagen ihr Mann. Nachdem Niklaus und Alice sich frischgemacht hatten, gingen sie ebenfalls in den Garten, um vor dem Abendessen noch ein wenig zu lesen. Kaum hatten sie sich hingesetzt, fuhr das Auto des Nachbarn vor, und der Mann und zwei kleine Kinder stiegen aus und gingen in den Garten. Niklaus sah, wie der Mann sich über die Frau im Liegestuhl beugte und ihr einen schnellen Kuss gab, dann verschwand er im Haus. Die Kinder begrüßten die Mutter nicht, sie waren schon streitend aus dem Wagen gestiegen und stritten sich weiter über eine Belanglosigkeit. Die Mutter schien nicht die Absicht zu haben, etwas gegen den Lärm zu unternehmen. Sie lag auf dem Liegestuhl und grübelte über ihren Rätseln. Einmal sagte sie mit gehässiger Stimme und in breitestem Schwäbisch, hört endlich auf, aber sie sah noch nicht einmal hoch dabei, und der Streit ging unvermindert weiter.

Alice ließ die Zeitung auf ihren Schoß sinken und hob den Kopf zum Himmel. Niklaus tat, als läse er. Nach einer Weile warf sie die Zeitung auf den Boden und verschwand im Haus. Niklaus wartete einen Moment, bevor er ihr folgte. Er fand sie im Wohnzimmer am Tisch sitzen und ins Leere starren. Er setzte sich ihr gegenüber und schaute sie an, aber sie senkte den Blick. Sie atmete heftig, und plötzlich fing sie an, wütend zu schluchzen. Niklaus ging um den Tisch herum und blieb hinter ihr stehen. Er wollte ihr die Hand auf die Schulter legen oder ihren Kopf streicheln, aber dann sagte er nur, stell dir vor, das wären unsere Kinder.

Alice hatte nie Kinder gewollt. Als Niklaus das herausgefunden hatte, war er erleichtert gewesen und hatte gemerkt, dass er nur aus Konvention davon ausgegangen war, irgendwann eine Familie zu haben. Wenn sie gelegentlich über das Thema sprachen, war es nur, um sich gegenseitig zu versichern, sie hätten die richtige Entscheidung getroffen. Vielleicht stimmt etwas nicht mit mir, sagte Alice dann mit selbstzufriedenem Gesicht, aber ich finde Kinder anstrengend und langweilig. Vielleicht fehlt mir ein Gen. Sie arbeiteten beide gerne und viel, Alice als Kundenberaterin in einer Bank, Niklaus als Ingenieur. Hätten sie Kinder gehabt, hätte einer von ihnen auf seine Karriere verzichten müssen, und dazu war keiner von ihnen bereit. Sie reisten in exotische Länder, hatten eine Trekking-Tour in Nepal gemacht und eine Kreuzfahrt in die Antarktis. Sie gingen oft ins Konzert oder ins Theater, und auch sonst waren sie viel unterwegs. Das alles wäre mit Kindern nicht möglich gewesen. Nur manchmal dachte Niklaus, dass eine Familie vielleicht nicht nur Unfreiheit bedeute, sondern auch Freiheit, dass er und Alice unabhängiger voneinander geworden wären, wenn erst ihre Liebe und später ihr Überdruss nicht so ausschließlich gewesen wären.

Alice war als Einzelkind aufgewachsen, Niklaus’ Geschwister waren alle kinderlos geblieben, so hatten Alice und er fast nur Kontakt zu Erwachsenen. Waren Freunde von ihnen Eltern geworden, war der Kontakt meist bald abgebrochen. Kamen doch einmal Familien zu Besuch, waren Niklaus und Alice angespannt und ungeduldig und reagierten hilflos auf die Annäherungsversuche der Kinder. Dann schämte sich Niklaus. Er hatte es nie bedauert, keine Kinder zu haben, aber manchmal vermisste er es, nicht einmal den Wunsch verspürt zu haben.

Von nun an war die Familie aus Stuttgart oft im Garten. Die Hälfte der Zeit stritten sich die Kinder, wenn sie keinen Streit hatten, waren sie nicht weniger laut. Das Ältere war ein Mädchen von vielleicht sechs Jahren. Von Zeit zu Zeit stieß sie ohne ersichtlichen Grund schrille Schreie aus. Ihr Bruder war wohl halb so alt wie sie. Er konnte sich eine Viertelstunde lang damit vergnügen, mit irgendeinem Gegenstand auf einen anderen zu hauen. Er hörte erst auf, wenn der Vater ihn anschrie. Darauf keifte die...


Stamm, Peter
Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt 'Agnes' 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane 'Weit über das Land', 'Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt' und 'Das Archiv der Gefühle' sowie die Erzählung 'Marcia aus Vermont'. Unter dem Titel 'Die Vertreibung aus dem Paradies' erschienen seine Bamberger Poetikvorlesungen. 'Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt' wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

Literaturpreise:

Rheingau Literatur Preis 2000
Bodensee-Literaturpreis 2012
Friedrich-Hölderlin-Preis 2014
Cotta Literaturpreis 2017
ZKB-Schillerpreis 2017
Solothurner Literaturpreis 2018
Schweizer Buchpreis 2018

Peter StammPeter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt 'Agnes' 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane 'Weit über das Land', 'Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt' und 'Das Archiv der Gefühle' sowie die Erzählung 'Marcia aus Vermont'. Unter dem Titel 'Die Vertreibung aus dem Paradies' erschienen seine Bamberger Poetikvorlesungen. 'Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt' wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.


Literaturpreise:

Rheingau Literatur Preis 2000
Bodensee-Literaturpreis 2012
Friedrich-Hölderlin-Preis 2014
Cotta Literaturpreis 2017
ZKB-Schillerpreis 2017
Solothurner Literaturpreis 2018
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