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E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Stamm Hohe Berge
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8270-8057-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis Fulda 2023
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-8270-8057-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Silke Stamm, geboren 1968, studierte Mathematik und Physik in Freiburg und Edinburgh und unterrichtet heute als Lehrerin in der Nähe von Hamburg. Sie wurde 2013 mit einem Förderpreis für Literatur der Stadt Hamburg ausgezeichnet. 2020 erhielt sie für einen Auszug aus »Hohe Berge« den Hamburger Literaturpreis. 2017 erschien ihr Buch »Besser wird es nicht. Achtundneunzig Arten, eine Antwort zu erhalten«.
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Erster Tag
Im Zug an lang gezogenen, glitzernden Seen vorbeizufahren, die zwischen frühlingsgrünen Hügeln liegen, auf denen schon die ersten Bäume rosa Blüten tragen und hinter denen die Berge aufragen, farblos, fast zweidimensional, als wären sie nachträglich ins Bild geklebt; probehalber schon einmal ein Harscheisen auf die neue Bindung zu montieren und sich zu ärgern, als das nicht auf Anhieb klappt.
Kaum geschlafen zu haben in der Nacht, weil es im Zug keine Liegewagen gab; sich auf einen Zweiersitz gelegt zu haben, was jedoch nicht möglich war, ohne mit Kopf und Knien gegen Armlehne und Vordersitz zu stoßen; die ganze Zeit über gefroren und nach und nach fast alle Kleidungsstücke, die sich im Rucksack fanden, übereinander angezogen zu haben, schließlich sogar in den Seidenschlafsack gekrochen zu sein, trotz der Befürchtung, ihn dabei zu zerreißen; mit angewinkelten Beinen schlaflos in der dünnen, weißen Hülle gelegen zu haben, dem vom Geratter der Räder unterstrichenen Unbehagen ausgeliefert, mit Material, das noch nicht einmal für eine Zugfahrt ausreicht, für die Tour nicht gut gerüstet zu sein; als der Zug nach Mitternacht fast eine Stunde lang in der Stille einer dunklen, menschenleeren Gegend stehen blieb, Angst bekommen zu haben, den Anschluss zu verpassen und nicht einmal den Startpunkt der Tour rechtzeitig zu erreichen.
Frühmorgens dann doch beinahe pünktlich hinter der Grenze angekommen zu sein, und in den wenigen Minuten, die für den Weg die Treppe hinauf, an Stehcafés und Imbissen vorbei und wieder zum anderen Gleis hinunter blieben, die Ski zwar hauptsächlich an Menschen in Jeans oder Geschäftskleidung vorbeigetragen zu haben, sich dabei in Skistiefeln aber schon weniger deplatziert vorgekommen zu sein.
Später am Vormittag an einem kleinen Bahnhof auszusteigen, und unter denen, die mit aussteigen, auch aus den Augenwinkeln die anderen Teilnehmer sofort an ihrer Ausrüstung zu erkennen und daran, dass sie sich ebenfalls vorsichtig umsehen.
Im gleißenden Sonnenlicht die Augen zusammenzukneifen und auf einen der Männer zuzugehen, während die anderen noch umständlich ihre Ski auf dem Bahnsteig positionieren und sich nur mit Halbblicken streifen; den Mann, der weißliche Spuren von Sonnencreme auf dem Nasenrücken hat und trotz der Wärme eine rote Mütze trägt, auf die Durchquerung anzusprechen, woraufhin er sofort die Hand ausstreckt, sich als Luke vorstellt und anschließend ein paar Worte in Mundart an einen Mann mit schulterlangen, grau melierten Locken richtet, der mit schlenkernden Schritten näher kommt und auch, als er stehen bleibt, nicht aufhört, auf den Ballen zu wippen, dabei nickt und etwas erwidert, was nicht zu verstehen ist, vermutlich seinen Namen; auch die beiden anderen, die nun herantreten und sich vorstellen, Hans-Ruedi und Jean-Pierre, vom Dialekt her gleichfalls Einheimische, mit festem Handschlag zu begrüßen; mit im Kreis zu stehen, sich aber beim ersten Abgleich der vier Männer, welche Touren sie jeweils schon gemacht haben und wie gut sie die Gegend kennen, nicht zu beteiligen; zu beobachten, wie Hans-Ruedi nebenbei in ein großes, gelbes Stofftaschentuch schnäuzt, es danach wieder zusammenfaltet, in der Hosentasche verstaut und dabei konzentriert und keinesfalls betulich wirkt.
Zur Bahnhofstoilette zu gehen, in dem kühlen, weiß gekachelten Raum die Trinkflasche aufzufüllen, das kalte Wasser über die Handgelenke laufen zu lassen und direkt aus dem Strahl zu trinken; sich das Gesicht zu benetzen, mit nassen Händen durch die Haare zu fahren und froh zu sein, dass es keinen Spiegel gibt; zurückzugehen auf den Bahnsteig, sich mit in den Schatten zu stellen, Berichte über Gipfel anzuhören, ohne etwas beizutragen, und auch nichts gefragt zu werden.
Auf die Ankunft des Bergführers zu warten, von dem die anderen vermuten, dass er aus der Gegenrichtung eintreffen müsste, was dann auch so geschieht; sofort genauer hinzuschauen, als er mit einem weiteren Teilnehmer aus der Unterführung hochkommt, mehrere Stufen auf einmal nimmt, dabei schlaksig wirkt und zugleich durchtrainiert, und, oben angekommen, rasch beginnt, das Mietmaterial aus seiner großen Plastiktasche zu verteilen; ein Lawinenverschüttetensuchgerät von ihm überreicht und dessen Handhabung in knappen Worten erklärt zu bekommen, während er bereits Hüftgurte und Steigeisen an einige der anderen ausgibt und dann, ohne viel mehr als seinen Namen, Aaron, preisgegeben zu haben, losgeht, in den hellen, heißen Tag hinaus.
Mit den Ski in der Hand und dem Poltern der Stiefel im Ohr ein Stück auf der asphaltierten Straße zu marschieren, bald jedoch ins Gelände abzuzweigen, wo der Schnee sämtliche Geräusche dämpft; es Aaron, als er seinen Rucksack absetzt, nachzutun, die Ski so auf dem Gepäckstück zu platzieren, dass die Unterseiten nach oben zeigen und trocken bleiben, den Beutel mit den Steigfellen auszupacken und in dem Moment froh zu sein, daran gedacht zu haben, ihn griffbereit ganz oben zu verstauen; die Felle auf die Laufflächen zu kleben, fest anzudrücken, die Ski dann in den Schnee zu legen und in die Bindungen zu steigen; im Geräusch, mit dem sie einrasten, die Entschiedenheit eines Startsignals mitzuhören und sich zu freuen, dass es jetzt losgeht.
Die ersten fünfhundert Höhenmeter wie Aaron ohne Pause durchzugehen, während die anderen Teilnehmer, die kürzere Anreisewege hatten und noch in ihren Betten schlafen konnten, ab und zu stehen bleiben, um Fotos zu knipsen oder etwas auszuziehen, und dann wieder aufschließen; im Kopf ihre Namen zu wiederholen, Luke mit der roten Mütze, Jean-Pierre, gebräunt mit Schnauzer, Hans-Ruedi, Fippu, der zusammen mit Aaron ankam und dessen Augenlider gerötet sind, und den eigenen Vordermann, den mit den grau gesträhnten Locken.
Während die Sonne weiter steigt, darauf zu achten, dass sich der Abstand von einer Skilänge zum Vordermann nicht vergrößert; ihm die Bitte zuzurufen, seinen Namen noch einmal zu sagen, aber eine andere Antwort von ihm zu erhalten als vorhin Luke, und zwar Thomas.
Bei jedem Schritt zu spüren, dass der Körper sich erinnert, was zu tun ist, dass die Knie genau den richtigen Druck erzeugen, damit abwechselnd die Ski gleiten und die Felle greifen; das Gleichmaß der Bewegungsabläufe zu genießen, die Weite der Landschaft, die mächtig und statisch wirkt, jedoch beim Gehen wieder und wieder mit neuen Ausblicken überrascht, und nicht nur Felsen und Wolken viel Raum schenkt, sondern auch den Gedanken; die am Morgen im Zug verfasste Nachricht an die Tochter, Bin bereits bald bei Bergen, im Kopf immer wieder aufzusagen, ohne dies eigentlich zu wollen, und dabei die Alliterationen im Gehrhythmus zu betonen, deren Zauber sie bereits in der ersten Klasse für sich entdeckt und dann mehrere Jahre lang in kleinen Briefchen angewendet hatte, die sie auf den quadratischen Abreißblock in der Besteckschublade schrieb, wo sie zum Teil noch immer liegen; auf den vorhin abgeschickten Text noch keine Antwort bekommen zu haben und auch keine mehr zu erwarten, weil es hier oben vermutlich nirgendwo Empfang gibt.
Später, als das Tal enger und der Anstieg steiler wird, hintereinander in einer einzigen Spur zu gehen, ohne dass sich noch jemand unterhält; die Reihe weiterhin nie zu verlassen und deshalb zuletzt direkt hinter Aaron zu gehen, der sich nach einer Biegung umwendet und in die Stille der Berge hinein sagt, Lue, itz gsehsch scho d Hütte, auf die Rückfrage hin nur lacht und entgegnet: Ja, es isch a dir, se z finde; beim Weitergehen minutenlang die Hänge abzusuchen und sich zu freuen, als sie sich dann endlich zeigt, aus grauem Stein an einen der ins Weiße gesprenkelten Felsen geschmiegt; nach einer letzten etwas steileren Passage unmittelbar unterhalb der Hütte, von der Aaron sagt, das sei jetzt die Schlüsselstelle des heutigen Tages, und ins Gelächter aller hinein betont, er meine das durchaus ernst, hier sollte nicht gerade jemand stürzen, da gehe es dann weit hinunter, das Gebäude zu erreichen, vor dem er stehen bleibt, bis zuletzt auch Hans-Ruedi angekommen ist, und Aaron jedem Einzelnen mit Handschlag gratuliert, obwohl es ja kein Gipfel-, sondern nur der Hüttenaufstieg war. ...