E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Stamm An einem Tag wie diesem
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-401025-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-10-401025-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«, »Das Archiv der Gefühle« und zuletzt »In einer dunkelblauen Stunde« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen 2014 seine Bamberger Poetikvorlesungen sowie 2024 die Züricher Poetikvorlesungen »Eine Fantasie der Zeit«. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde mit dem Schweizer Buchpreis 2018 ausgezeichnet. Literaturpreise: Rheingau Literatur Preis 2000 Bodensee-Literaturpreis 2012 Friedrich-Hölderlin-Preis 2014 Cotta Literaturpreis 2017 ZKB-Schillerpreis 2017 Solothurner Literaturpreis 2018 Schweizer Buchpreis 2018
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Andreas liebte die Leere des Morgens, wenn er am Fenster stand, eine Tasse Kaffee in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand, und auf den Hof hinausschaute, den kleinen, aufgeräumten Hinterhof, und an nichts dachte als an das, was er sah. In der Mitte des Hofes ein mit Efeu bepflanztes, viereckiges Beet, darin ein Baum, aus dem in der Mitte und oben ein paar dünne Äste wuchsen, zurechtgestutzt nach dem wenigen Raum, der zur Verfügung stand. Die leuchtend grünen Container, Glas, Verpackungen, Restmüll, das regelmäßige Muster der Zementplatten, von denen einige etwas heller waren, vor Jahren ersetzt aus irgendeinem Grund. Die Geräusche der Stadt waren nur leise zu hören, ein homogenes Rauschen, dazwischen entfernte Vogelrufe und sehr deutlich das Geräusch eines sich öffnenden und wieder schließenden Fensters.
Dieser besinnungslose Zustand hielt nur wenige Minuten lang an. Noch bevor Andreas die Zigarette zu Ende geraucht hatte, fiel ihm der gestrige Abend ein. Was er denn unter Leere verstehe, hatte Nadja gefragt. Für sie bedeutete Leere einen Mangel an Beachtung, an Liebe, die Abwesenheit von Menschen, die sie verloren hatte oder die sich nicht genug um sie kümmerten. Die Leere war ein Raum, der einmal ausgefüllt gewesen war, oder von dem sie glaubte, er könnte ausgefüllt sein, das Fehlen von etwas, das sie wohl selbst nicht genau hätte bezeichnen können. Er habe keine Ahnung, hatte Andreas gesagt, er interessiere sich nicht für abstrakte Begriffe.
Die Abende mit Nadja verliefen immer gleich. Sie kam eine halbe Stunde zu spät und gab Andreas das Gefühl, er sei es, der sich verspätet habe. Sie hatte sich schön gemacht, trug einen kurzen, eng anliegenden Rock und schwarze Netzstrümpfe. Mit einer theatralischen Geste ließ sie den Mantel auf den Parkettboden fallen. Sie setzte sich aufs Sofa und schlug die Beine übereinander. Für sie schien das der Höhepunkt des Abends zu sein, ihr Auftritt. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund. Andreas gab ihr Feuer und machte ihr ein Kompliment. Er holte aus der Küche zwei Gläser Wein. Nadja musste schon etwas getrunken haben, sie war in aufgekratzter Stimmung.
Meistens aßen sie in einem Lokal in der Nähe. Das Essen war gut genug, und der schwule Kellner schäkerte mit Nadja und setzte sich manchmal, wenn nicht viele Gäste da waren, zu ihnen an den Tisch. Nadja trank und redete zu viel und machte sich zusammen mit dem Kellner darüber lustig, dass Andreas Vegetarier war und dass er immer dasselbe bestellte. Er sagte, er sei kein Vegetarier, er esse einfach selten Fleisch. Spätestens beim Dessert fing Nadja an, über Politik zu reden. Sie war PR-Beraterin und arbeitete gelegentlich für Unterorganisationen der Sozialistischen Partei, deren Ansichten sie auf eine Art vertrat, die Andreas ärgerte. Er sagte dann nicht mehr viel, und sie fragte mit einem aggressiven Unterton, ob sie ihn langweile.
»Ich langweile dich«, sagte sie.
Nein, sagte er, aber er sei Ausländer, er verstehe die französische Politik nicht, interessiere sich nicht dafür. Er halte sich an die Gesetze, er trenne seinen Müll, er erfülle den Lehrplan. Ansonsten wünsche er in Ruhe gelassen zu werden. Nadja ärgerte sich über sein Desinteresse, sie hielt ihm einen Vortrag, es gab Streit. Andreas versuchte, das Gespräch auf andere Themen zu bringen. Dann begann Nadja jedes Mal, von ihrem Exmann zu erzählen, von seiner Lieblosigkeit und Unaufmerksamkeit, und es schien Andreas, als gälten die Vorwürfe ihm. Nadja konnte nicht aufhören sich zu beklagen. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, und ihre Stimme wurde weinerlich. Die anderen Gäste waren längst gegangen, und der Kellner hatte die Aschenbecher geleert und die Kaffeemaschine gereinigt. Wenn er an ihren Tisch trat und fragte, ob sie noch etwas wünschten, war Nadja wie verwandelt. Sie lachte und flirtete mit ihm, und es dauerte noch einmal eine Viertelstunde, bis Andreas die Rechnung bezahlen konnte.
Auf dem Nachhauseweg war Nadja schweigsam. Sie hatten sich den ganzen Abend nicht berührt. Jetzt hakte sie sich bei Andreas unter. Vor dem Haus, in dem er wohnte, blieb er stehen. Er küsste sie auf die Wangen und dann auf den Mund. Manchmal küsste er sie auf den Hals und kam sich lächerlich vor dabei. Ihr schien es zu gefallen. Vermutlich entsprach es dem Bild, das sie von sich hatte. Die Geliebte, der die Männer zu Füßen liegen, die auf den Hals geküsst wird, die ihre Verehrer verlacht. Am liebsten wäre Andreas jetzt allein gewesen, aber er fragte sie trotzdem, ob sie mit hinaufkomme. Sie sagte, ja. Es klang wie eine Kapitulation.
Nadja gehörte nicht zu jenen Frauen, die schöner wurden, wenn man mit ihnen schlief. Ihre eng anliegenden Kleider waren wie eine Rüstung, wenn sie nackt war, schien sie jeden Halt zu verlieren und sah alt aus, älter, als sie in Wirklichkeit war. Sie ließ alles mit sich geschehen, ließ sich Andreas’ Zärtlichkeiten gefallen, ohne sie zu erwidern. Das, hätte er sagen sollen, verstehe er unter Leere. Diese Abende mit ihr alle zwei Wochen, die Wiederholung des immer gleichen Abends, der immer gleichen Nacht, ohne sich je näher zu kommen. Aber er sagte es nicht. Er mochte die Leere der Wiederholung. Er genoss das Gefühl, dass Nadja mit ihren Gedanken anderswo war, dass sie ihm ihren Körper nur zur Verfügung stellte, bis sie nach einer oder zwei Stunden plötzlich ungeduldig wurde, ihn wegschob und sagte, er solle ihr ein Taxi rufen. Die Leere, das waren diese Abende mit ihr, die Nachmittage mit Sylvie oder die Wochenenden, die er allein zu Hause verbrachte in seiner gemütlichen, gut geheizten Wohnung, an denen er fernsah oder ein Computerspiel spielte oder las. Die Leere war sein Leben, waren die achtzehn Jahre, die er in dieser Stadt verbracht hatte, ohne dass sich etwas verändert hatte, ohne dass er sich eine Veränderung wünschte.
Die Leere sei der Normalzustand, hatte er gesagt, er fürchte sich nicht davor, im Gegenteil.
Manchmal, wenn Andreas auf dem Weg zur Arbeit die Straße überquerte, stellte er sich vor, von einem Bus überfahren zu werden. Die Kollision war wie die Auflösung von dem, was gewesen war, und zugleich ein Neuanfang. Ein Schlag, der die Verworrenheit beendete und Ordnung schuf. Plötzlich war alles von Bedeutung, der Tag und die Stunde, der Name der Straße oder des Boulevards, jener des Busfahrers, Andreas selbst, das Datum und der Ort seiner Geburt, sein Beruf und seine Konfession. Es war ein regnerischer Morgen im Herbst oder Winter. Der nasse Asphalt reflektierte das Licht der Leuchtreklamen und der Autoscheinwerfer. Der Verkehr staute sich hinter dem Bus, der quer in der Fahrbahn stand. Eine Ambulanz kam. Passanten standen herum und gafften. Ein Polizist winkte den Verkehr an der Unfallstelle vorbei. Die Passagiere der vorüberfahrenden Busse reckten die Hälse, starrten aus den Fenstern. Sie begriffen nicht ganz, was geschehen war, und vergaßen es gleich wieder, wenn ein anderes Bild ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein zweiter Polizist versuchte, den Unfallhergang zu rekonstruieren. Er befragte den Fahrer des Busses, die Verkäuferin der Bäckerei, die alles gesehen hatte, eine weitere Zeugin. Dann würde er ein Protokoll erstellen in mehrfacher Ausführung, eine Akte, die in einem Archiv abgelegt würde, eingereiht in ein Alphabet von Todesfällen. Andreas stellte sich die Maßnahmen vor, die getroffen werden mussten, um ihn aus dem System zu entfernen. Man würde seinen Bruder benachrichtigen, der würde entscheiden müssen, was mit dem Leichnam geschehen soll. Andreas hatte der Versuchung widerstanden, ein Testament zu machen, er hatte es immer eitel gefunden, Anweisungen für den Fall des eigenen Todes zu geben. Vermutlich würde Walter sich für eine Einäscherung entscheiden, das wäre das Einfachste und Vernünftigste. Trotzdem wäre viel Papierkram zu erledigen, mit allen möglichen Ämtern Kontakt aufzunehmen. Man würde die Botschaft einschalten müssen.
Andreas fragte sich, ob eine genaue Abrechnung erstellt würde über die Tage, die er vor seinem Tod gearbeitet hatte. Die Verwaltung der Schule müsste wissen, was zu tun war. Vielleicht gab es ein Merkblatt, Maßnahmen im Falle des plötzlichen Todes ausländischer Lehrkräfte.
Und dann, nach einigen Tagen der Aufregung, nach Briefen und Telefonaten und leisen Gesprächen im Lehrerzimmer, würde es eine bescheidene Beisetzung geben, einen Kranz von der Schule, ein Gesteck von den Kollegen. Walter würde einen großen Strauß kaufen beim Blumendiscount an der Ecke. Er war aus der Schweiz angereist, hatte sich im Viertel ein billiges Hotel genommen und versuchte mit seinem schlechten Französisch alles zu organisieren. Er hatte Andreas’ Agenda gefunden, sein Adressverzeichnis. Für Todesanzeigen war die Zeit zu knapp, aber er rief einige von Andreas’ Bekannten an und bat sie zu kommen. Er wunderte sich über die vielen Frauennamen im Adressverzeichnis, vielleicht war er ein wenig neidisch auf Andreas’ Junggesellenleben. Abends telefonierte er mit seiner Frau und beklagte sich über die Umständlichkeit der Behörden und erkundigte sich nach den Kindern. Dann aß er in einem Restaurant in der Nähe und spazierte noch etwas auf der rue des Abbesses oder der rue Pigalle. Andreas fragte sich, ob sein Bruder in eine Peepshow gehen würde oder zu einer Prostituierten. Er konnte es sich nicht vorstellen.
An der Gare du Nord nahm Andreas den Vorortszug nach Deuil-la-Barre. Er nahm jeden Tag den gleichen Zug. Er betrachtete die Gesichter der Mitreisenden, Gesichter, denen man nichts anhaben konnte. Ein älterer Mann, der ihm gegenübersaß, starrte ihn mit ausdruckslosen Augen an. Andreas schaute aus dem Fenster. Er sah die Gleisanlagen, die Industriegebäude und...




