Sperling | Vor den Ruinen von Grosny | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 675 Seiten

Sperling Vor den Ruinen von Grosny

Leben und Überleben im multiethnischen Kaukasus
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7518-2005-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Leben und Überleben im multiethnischen Kaukasus

E-Book, Deutsch, 675 Seiten

ISBN: 978-3-7518-2005-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Was war der Vielvölkerstaat Sowjetunion, der immerhin sieben Jahrzehnte lang das Leben von über zweihundert Millionen Menschen bestimmte? Wie funktionierte das Miteinander der multiethnischen Gemeinschaften, die in einer Vielzahl von sowjetischen Städten über Jahrzehnte bestanden? Anders gefragt, wie gelang es den Menschen, nach den Exzessen der Gewalt – Revolution, Bürgerkrieg, Terror, Zweiter Weltkrieg – einander wieder in die Augen zu schauen und neues Vertrauen zu fassen? Oder waren die gemeinsam verlebten Jahrzehnte nach Stalins Tod nichts weiter als ein Ausharren, ein Warten auf das ›Ende der Geschichte‹?« Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führte Walter Sperling in dieser mitreißend erzählten Alltagsgeschichte an den Rand der ehemaligen Sowjetunion, nach Grosny. Dort bündelt sich wie in einem Brennglas das Kräftespiel von Widerstand und Integration, im Ringen des russischen Imperiums und der Peripherie, der Kolonisatoren und Kolonisierten. Erst Garnisonsort, dann Boomtown des Erdöls, nach der Oktoberrevolution Baustelle des Sozialismus, wenig später Frontstadt im Visier der deutschen Wehrmacht. Nach der Deportation der Tschetschenen und Inguschen 1944 und deren Rückkehr 1957 hörte man lange nichts mehr von dem beschaulichen Städtchen im Kaukasus, das beharrlich um seinen sozialen Frieden rang. Bis zum ersten russischen Tschetschenienkrieg, als Grosny erneut in Ruinen endete. Die Eskalation und die Radikalisierung zeichnet Walter Sperling nach. Vor allem aber macht er die Bemühungen sichtbar, Brücken zu schlagen und zu vermitteln, weil die Eliten der multiethnischen und multireligiösen Peripherie wussten, was der Preis von Entfesselung ist.

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EINLEITUNG
Die Mythen der Völkerfreundschaft Eine Stadt an der imperialen Peripherie Die Spuren und Quellen einer Geschichte Alltag und Zivilisation: Fragen an Grosny »If history creates complexities, let us not try to simplify them.« Salman Rushdie, Imaginary Homelands1 »Es wäre an der Zeit, die Sache in all ihren Verstrickungen zu studieren.« Sultan Jaschurkaew, Auf Splittern gekratzt. Grosny 19952 Das Ende der Sowjetunion haben Millionen gefeiert. Im Osten wie im Westen haben sich Menschen über das Ableben des Regimes gefreut. Doch genauso gab es Millionen, die dem sowjetischen Staat nachgetrauert haben, die idyllischen Bilder der sozialistischen Gesellschaft vor Augen, den Geruch und Geschmack der sowjetischen Kindheit und Jugend im Sinn. Es ist diese Sehnsucht nach der zerfallenen Sowjetunion, die immer wieder auf Verwunderung stößt.3 Die Sowjetunion war ein Imperium, kann man bei Zeitzeugen und Historikern nachlesen, das letzte seiner Art.4 Nirgends tritt dies heute so deutlich zutage wie in Moskau, das mit seinen unter Stalin entworfenen Prospekten, Hochhauskathedralen und Blockbaufassaden immer noch den Anspruch einer Weltmacht vermittelt. Das Imperium hat sich vor Jahrzehnten aufgelöst, doch die Ambitionen, die Übermacht und die Abhängigkeiten sind geblieben. Menschen aus den ehemaligen Republiken der Sowjetunion strömen noch immer in Russlands Metropole, um dort ein Auskommen zu finden, weil die Wege sich historisch ergeben haben und weil die Wirtschaft im Kaukasus, in Zentralasien und im Fernen Osten sie nicht ernährt. So war es zumindest bis zu Russlands Einmarsch in die Ukraine.5 Bei einer Reise nach Moskau 2011 fallen mir am Flughafen unweigerlich junge Männer aus Tadschikistan auf. Dicht gedrängt stehen sie vor den Schaltern des Zolls. Eine Grenzbeamtin keift sie an, beschimpft sie lauthals als »Schafsköpfe« und »Horde Vieh«. »Sollen die ›Schwarzen‹ doch bleiben, wo sie sind«, zischt mir ein Bekannter wenige Jahre später in einem hippen Moskauer Café zu, als wir auf die Wanderarbeiter aus dem Kaukasus zu sprechen kommen. »Schauen Sie doch nach Europa«, gibt mir 2018 eine gebildete Dame nach einem Vortrag in der Moskauer Bibliothek für Ausländische Literatur zu bedenken, »das liberale Projekt des Multikulturalismus hat doch auch dort ein totales Fiasko erlebt.« Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Orientalismus – unbefangen geäußert und öffentlich zur Schau gestellt. Als Historiker des Zarenreiches und der Sowjetunion überrascht mich das nicht. Doch aufgewachsen als Enkel von deutschen Deportierten in einer sowjetischen Industriestadt inmitten der kasachischen Steppe, umgeben von Nachbarn, die aus der Ukraine, dem Ural und dem Kaukasus stammten, kann ich nicht aufhören, Trauer darüber zu empfinden, dass die sowjetische »Völkerfreundschaft« heute lediglich in meiner Kindheitserinnerung existiert, dass der Zerfall der Sowjetunion auch etwas im Gesamtdiskurs des multiethnischen Miteinanders zerbrochen hat: die Sagbarkeit im öffentlichen Raum, das behördliche Regulativ, die sowjetische Form einer political correctness, die an den »Internationalismus«, an die Solidarität, an das »brüderliche« Miteinander der »Völker« appelliert. Die Mythen der Völkerfreundschaft
Über diese Verlusterfahrung sprach ich immer wieder mit meiner Familie, meinen Freunden und Bekannten aus dem postsowjetischen Raum. Sie antworteten mir mit nostalgischen Erinnerungen an den Urlaub an der abchasischen Schwarzmeerküste, mit Reminiszenzen an die georgischen Filme und an den Jazz aus Baku. Da war von einer Nähe die Rede, vom gemeinsamen cultural space und von einem geteilten Schicksal. Doch immer wieder fiel auch das Wort »Mythos«. Während wir über die George-Washington-Brücke auf Manhattan zufahren, erzählt mir ein aus Leningrad stammender amerikanischer Kollege: Mitte der 1980er Jahre habe er in der sowjetischen Armee gedient und dort keine Anzeichen für eine wie auch immer geartete Völkerfreundschaft gesehen. Einen Schmelztiegel habe es da bestimmt nicht gegeben, denn die Wehrpflichtigen hätten sich spontan zu nationalen Gemeinschaften zusammengeschlossen. Als Nationen hätten sie dann miteinander darum gerungen, wer der Stärkere sei und welche Gruppe in der Kaserne jenseits der Offiziere das Sagen habe. Abbildung 1: »Völkerfreundschaft der UdSSR – eine große Errungenschaft der Lenin’schen Nationalitätenpolitik«. Eine Amateuraufnahme fügt die Behauptung des Regimes ein in die Poetik des Alltags. Die Banalität des Parteislogans an der Hausfassade verbindet sich mit einem romantischen Sujet der Stadtfotografie, das Private und das Politische im multiethnischen Grosny auf eigentümliche Weise verquickend. Im Lermontow-Garten an den Ufern der Sunscha. (um 1980) Von einem Mythos spricht auch die wissenschaftliche Literatur. Sie handelt die sowjetische Völkerfreundschaft als Propaganda ab und als ein Herrschaftsmittel des Regimes.6 Keine Frage, auch die Nation ist ein Mythos – von Intellektuellen im 18. Jahrhundert erfunden, von den Institutionen des europäischen Nationalstaates im 19. Jahrhundert durchgesetzt. Dass die Nationsbildung in Europa ein langer Vorgang der Disziplinierung war, hat etwa der Historiker Eugen Weber in den 1970er Jahren anschaulich beschrieben. Sein Buch Peasants into Frenchmen gehört zu den Grundlagenwerken der europäischen Geschichte, steht auf der Literaturliste eines jeden Nationalismus-Seminars.7 Und obwohl Kritik am Nationalismus heute selbstverständlich ist, wird der Mythos der Nation akzeptiert, nicht zuletzt, weil er sich mit völkerrechtlicher Souveränität, mit territorialer Staatlichkeit und mit politischer Repräsentation verbindet. Die Projektion des Multiethnischen und Multinationalen in der Sowjetunion steht dagegen grundsätzlich im Verdacht, Moskaus Hegemonie zu verschleiern. Dabei hat der Zerfall der Sowjetunion 1991 ein Konvolut an Forschungsarbeiten hervorgebracht, die zeigen, dass die Oktoberrevolution 1917 in ihrem Anspruch eine antiimperiale Veranstaltung war, dass das Selbstbestimmungsrecht der Nationen für die Bolschewiken nicht Floskel, sondern Glaubenssatz war und dass sie danach strebten, Nationen zu schaffen, wo noch keine existierten. Um den Gang der evolutionär gedachten Geschichte zu beschleunigen, haben sie »bourgeoisen Nationalismus« bekämpft und sozialistische Nationen und deren Kulturen gefördert, haben nationale Schriftstellerunionen gegründet und Unsummen in die Schaffung, Übersetzung und Verbreitung der nationalen Literaturen ins Russische gesteckt.8 Was war also der Vielvölkerstaat Sowjetunion, der immerhin sieben Jahrzehnte lang das Leben von über 200 Millionen Menschen bestimmte? Wie funktionierte die Sowjetunion als multinationale Gesellschaft? Und wie gestaltete sich das Miteinander der multiethnischen Gemeinschaften, die in einer Vielzahl von sowjetischen Städten über Jahrzehnte bestanden? Anders gefragt, wie gelang es den Menschen, nach den Exzessen der Gewalt – Revolution, Bürgerkrieg, Terror, Zweiter Weltkrieg – einander wieder in die Augen zu schauen und neues Vertrauen zu fassen? Oder waren die gemeinsam verlebten Jahrzehnte nach Stalins Tod nichts weiter als ein Ausharren, ein Warten auf das »Ende der Geschichte«, das der Politologe Francis Fukuyama mit dem Zerfall der Sowjetunion anbrechen sah? Eine Stadt an der imperialen Peripherie
Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, begab ich mich an die ehemalige sowjetische Peripherie. Nicht nach Zentralasien, das mir aus der Kindheit vertraut war, sondern in den Nordkaukasus, wo die Spuren von Moskaus Gewalt nicht zu übersehen sind und ebenso wenig die Geldmittel, die Russland aufbringt, um die Eigenständigkeitsbestrebungen im Keim zu ersticken. Meine Fragen verlangten nach einem konkreten Ort und einem städtischen Milieu, in dem sich die Jahrzehnte der sowjetischen Geschichte wie in einem Brennglas spiegelten. Kein anderer Ort schien mir dafür besser geeignet als Grosny: Die Stadt verdankt ihre Geburt dem Zarenreich. Sie entstand als Festung des russischen Imperiums, das sich Ende des 18. Jahrhunderts den Kaukasus einzuverleiben begann. Als hundert Jahre später das Erdöl zum weltweit begehrten Rohstoff wurde, verwandelte sich das Garnisonsstädtchen in eine Boomtown. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war Grosny auf den europäischen Börsenparketts der Inbegriff von Rendite versprechender Investition. Unter den Bolschewiken wurde Grosny eine Industriestadt – ein regionales Zentrum der Ölförderung und -verarbeitung, das die deutsche Wehrmacht 1942 zu erobern versuchte. Nach der Deportation der Tschetschenen und Inguschen nach Zentralasien 1944 und ihrer Rückkehr 1957 im Zeichen von Chruschtschows Tauwetterpolitik verlor die Welt Grosny aus den Augen. Erst Russlands 1994 begonnener Krieg gegen die um internationale Anerkennung ringende Republik...


Sperling, Walter
Walter Sperling, 1975 in Karaganda geboren, emigrierte in seiner Kindheit aus der UdSSR in die Bundesrepublik Deutschland. Nach einem Studium der Geschichtswissenschaft, der Osteuropa¨ischen Geschichte und der Slawistik an der Universität Bielefeld, mit Auslandsaufenthalten in Jaroslawl’ und St. Petersburg, promovierte er 2010 und wurde Akademischer Rat an der Fakulta¨t fu¨r Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universita¨t Bochum. 2016 hatte er eine Vertretungsprofessur fu¨r die Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas an der Ludwig-Maximilians-Universita¨t in München. 2018 war er Stipendiat am Deutschen Historischen Institut Moskau und arbeitete dort ab Juni 2019 im DFG-Projekt zur Geschichte der deutschen Beuteakten in sowjetischen und russischen Archiven. Er ist Fellow der Max Weber Stiftung.

Walter Sperling , 1975 in Karaganda geboren, emigrierte in seiner Kindheit aus der UdSSR in die Bundesrepublik Deutschland. Nach einem Studium der Geschichtswissenschaft, der Osteuropa¨ischen Geschichte und der Slawistik an der Universität Bielefeld, mit Auslandsaufenthalten in Jaroslawl’ und St. Petersburg, promovierte er 2010 und wurde Akademischer Rat an der Fakulta¨t fu¨r Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universita¨t Bochum. 2016 hatte er eine Vertretungsprofessur fu¨r die Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas an der Ludwig-Maximilians-Universita¨t in München. 2018 war er Stipendiat am Deutschen Historischen Institut Moskau und arbeitete dort ab Juni 2019 im DFG-Projekt zur Geschichte der deutschen Beuteakten in sowjetischen und russischen Archiven. Er ist Fellow der Max Weber Stiftung.



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