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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 53, 252 Seiten

Reihe: Prosa bei Lektora

Sperling Mittelmeersplitter

Eine Geschichte vom Liebenlernen und Sterbenwollen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95461-089-1
Verlag: Lektora GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Geschichte vom Liebenlernen und Sterbenwollen

E-Book, Deutsch, Band 53, 252 Seiten

Reihe: Prosa bei Lektora

ISBN: 978-3-95461-089-1
Verlag: Lektora GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit einem Menschen sieben Stunden täglich in einem Raum zu sitzen, ohne jemals von ihm angesehen zu werden, ist ein komisches Gefühl. Und derjenige, der es durchhält, tagelang niemanden anzusehen, ist ein ziemlich beängstigender Freak. Deshalb gab man Levian lieber auf und kehrte in den sicheren Schulalltag zurück. Soweit ich mich erinnern kann, war ich die Einzige, die nicht das Interesse an Levian verlor. Im Gegenteil. Alles an ihm zog mich an. [...] Das war der Moment, in dem ich hätte gehen sollen. In dem jeder normale Mensch gegangen wäre. Aber ich ging nicht. Hinter diesen eisblauen Augen und unter dieser Haut, die sich über Levians zitternde Muskeln spannte, steckte ein Junge mit einem Herz so groß wie ein Wolkenkratzer. So glaubte ich. Und wenn es mir gelang, dass er sich in mich verliebte, dann würde diese harte Hülle aus Muskeln und blauem Eis und Wut aufspringen und ein Lächeln freigeben, das mein Leben verändern würde. Wie konnte ich mir damals nur so sicher sein? Annika verliebt sich in den jähzornigen Außenseiter Levian. Trotz aller Warnsignale kommen die beiden sich immer näher. Vielleicht viel zu nahe. Doch wer das Meer wirklich liebt, muss einmal ganz hinabgetaucht sein. Denn wie kann man etwas lieben, das man immer nur von außen betrachtet, weil es eigentlich kalt und gefährlich ist?

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Freakbankfiasko
Den ganzen Winter lag eine dicke Eisdecke über dem See im Park. Eines Tages im Februar begann das Eis unter der kleinen Brücke endlich zu schmelzen und man konnte darunter das schwarze Wasser sehen. Das Eis wurde so dünn, dass es das Gewicht eines kleinen, neugierigen Mädchens nicht mehr hätte tragen können. An diesem Tag kam Levian in unsere Klasse. Mitten im Schuljahr. Auf dem Schulhof stand er abseits, in der Klasse saß er allein. Den Blick starr nach vorne gerichtet, auf die Tafel oder auf die Lehrkraft. Keiner konnte herausfinden, ob er wirklich aufpasste, denn er meldete sich nie und wurde auch nicht aufgerufen. Frau Mint hatte uns gebeten, ihn in Ruhe zu lassen und rücksichtsvoll zu behandeln. Er sei gerade umgezogen und es gehe ihm nicht gut. Wir mochten Barbara, so nannten wir Frau Mint hinter ihrem Rücken, also taten wir ihr den Gefallen. Es war ohnehin nicht besonders schwer, Levian in Ruhe zu lassen, denn er war an keinem von uns interessiert und verweigerte jede Art der Kontaktaufnahme. Trotzdem musste ich ihn die ganze Zeit anstarren. Alle mussten ihn anstarren. Sogar die Jungs. Vielleicht weil Levian viel älter wirkte als die anderen in unserer Klasse. Er war einen Kopf größer und auffällig breitschultrig. Während der kurzen Pausen war es seit Levians Ankunft peinlich still in unserem Klassenraum. Levian saß auf seinem Platz, legte die Materialien für die nächste Stunde bereit und blätterte in einem Schulbuch oder in seinem Collegeblock. Das hatte natürlich nichts mit fachlichem Interesse zu tun, sondern es war einfach nur die unkomplizierteste Art, uns zu ignorieren. Die anderen unterhielten sich leise über möglichst unverfängliche Themen: Sport, Fernsehserien, versoffene Wochenenden, die neuesten Spiele. So, als wollten sie Levian zeigen, dass sie nicht über ihn sprachen und dass sie ihn in Ruhe ließen. Ich hörte mit halbem Ohr zu, ohne mich an den Gesprächen zu beteiligen. Stattdessen starrte ich Levian an, suchte seine Augen, die immer halb hinter seinen hellbraunen Locken verborgen blieben und nie irgendjemanden in der Klasse ansahen. In den großen Pausen kursierten zunächst die wildesten Gerüchte: Seine Mutter sei ermordet worden. Sein Bruder sei von der italienischen Mafia entführt worden und werde immer noch vermisst. Seine Eltern seien bei einem Autounfall umgekommen, nur Levian habe überlebt und lebe jetzt in einer betreuten Wohngruppe in der Jahnstraße. Ich stand daneben und dachte darüber nach, was wohl wirklich mit Levians Familie geschehen war. Mit ziemlicher Sicherheit stimmte keine einzige dieser Geschichten. Der Hype um Levian ebbte schon nach einigen Tagen ab. Die anderen hatten sich damit abgefunden, dass er mit niemandem Kontakt aufnahm. Mit einem Menschen sieben Stunden täglich in einem Raum zu sitzen, ohne jemals von ihm angesehen zu werden, ist ein komisches Gefühl. Und derjenige, der es durchhält, tagelang niemanden anzusehen, ist ein ziemlich beängstigender Freak. Deshalb gab man Levian lieber auf und kehrte in den sicheren Schulalltag zurück. Soweit ich mich erinnern kann, war ich die Einzige, die nicht das Interesse an Levian verlor. Im Gegenteil. Alles an ihm zog mich an. Diese ernsthaft überlegene Coolness, diese lässige Kontrolliertheit seiner Bewegungen, diese kompromisslose Gleichgültigkeit gegenüber uns und dem, was über ihn geredet wurde. Wollte nicht eigentlich jeder von uns genauso sein wie er? In sich ruhend und wahrhaft unabhängig? Und weil seine Augen immer noch etwas gleichgültiger erschienen als alles andere an ihm, begannen meine Gedanken um Levians Blick zu rotieren. Sie zogen immer schnellere, immer engere Kreise um seine Augen, bis die Vorstellung, dass unsere Blicke sich womöglich niemals treffen könnten, mich krank machte: Morgens vor der Schule war mir übel, im Laufe des Vormittags bekam ich richtige Magenkrämpfe und abends schraubte sich der Schmerz von der Speiseröhre direkt in meinen Schädel. Anatomisch unmöglich, ich weiß, aber so war es. Natürlich konnte nichts von all dem mich davon abhalten, in die Schule zu gehen, denn ich war besessen von der Hoffnung, Levian könnte mich doch eines Tages ansehen. Außerdem kam jeden Tag ein bisschen mehr über sein wahres Leben ans Licht: Er wohnte tatsächlich in der Jahnstraße, allerdings nicht in einer Wohngruppe, sondern bei seinem Vater. Sein Vater schien nicht viel Geld zu haben, denn die Gegend um die Jahnstraße herum war eher ärmlich. Da die Schüler, die bei Levian in der Nähe wohnten, bisher weder Levians Mutter noch seinen Bruder gesichtet hatten, kursierten die Gerüchte von tödlichem Autounfall, Mord und Entführung immer noch. In einer Pause Ende Februar, an einem Mittwoch nach Latein, kam dann der Augenblick, in dem – so glaube ich – das Schicksal seinen Lauf nahm. Die Eisdecke auf dem See war längst geschmolzen und die Wintersonne wanderte durch unser Klassenzimmer. Sie tauchte im Laufe des Morgens fast jeden von uns für einen herrlich langen Moment in warmes, helles Licht. Weil sie so niedrig stand, leuchtete sie bis in die letzte Ecke des Klassenzimmers, und ich wartete gedankenverloren darauf, dass sie Levian erreichte, der seinen Platz direkt an der Tür hatte. Plötzlich stieß mich Lisanne heftig in die Seite und rief viel zu laut: »Annika! Hör endlich auf, ihn die ganze Zeit anzustarren.« Ich lief innerhalb von Sekunden rot an. Schnell warf ich Levian einen verstohlenen Blick zu. Doch er hatte sich nicht bewegt. Keinen Zentimeter. Wie versteinert saß er da und las im Mathebuch, seine linke Hand war schon halb ins gleißende Licht der Sonne getaucht. Aber ich wusste, dass er Lisanne gehört hatte, dass er mich auch wahrnahm. Dass er vielleicht genau wie ich hinter den dunkelblonden Strähnen, die mir ständig ins Gesicht fielen, nach meinen Augen suchte. Ich brauchte bis Mitte März, um den Mut zu fassen, Levian anzusprechen. Es war alles wieder ein bisschen leichter, wenn man nicht mehr so fror, weniger anhatte und sich schon ein bisschen auf den Sommer freuen konnte. Mir blieb eigentlich auch gar keine andere Wahl, denn langsam, aber sicher begann ich durchzudrehen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an Levians Augen, als hüteten diese das größte Geheimnis meines Lebens. Levians Augen waren, obwohl ich nicht einmal wusste, welche Farbe sie hatten, allgegenwärtig. Bei den Hausaufgaben, beim Essen, beim Klavierspielen, beim Musikhören, beim Tanzen. Gleichzeitig war es so peinlich, in den Freak der Schule verliebt zu sein, dass ich unmöglich mit irgendjemandem darüber sprechen konnte. Nicht einmal mit Lisanne. Wenn ich mit ihr telefonierte oder im Chat war, ließ ich sie reden. Das war ganz leicht, denn sie sprach ohnehin ununterbrochen. Sie lästerte über die Lehrer (»ungerecht und viel zu streng«), über die Mädchen in unserer Klasse (»oberflächlich«) und die Jungs (»Arschproleten«), über die Frühlingskollektion in den Läden (»tussig«), über das Essen in der Mensa (»Brechmittel«), über ihre Mutter (»hysterisch«) und natürlich über Marvin (»sexbesessen«). Normalerweise war ich froh, wenn mir die Details der Marvin-Lisanne-Dauer-Sexaffäre erspart blieben, aber nun ließ ich Lisanne im Detail davon plaudern. Ihr schien es nicht einmal aufzufallen, dass ich die letzten zwei Wochen praktisch kein Wort mehr gesprochen hatte. Als ich sie endlich mal wieder zu mir nach Hause einlud, hechelte sie erst einmal durch die üblichen Themen, bis sie schließlich bemerkte, dass sie einen endlosen Monolog führte. Sie brach mitten im Satz ab, verdrehte die Augen und sagte: »Sogar ein gehörloses Meerschweinchen wäre ein dankbarerer Gesprächspartner als du.« »Charming!«, konterte ich. Ich fand, dass wir lange genug befreundet waren und sie eigentlich eine Verbindung zwischen den Vorfällen mit Levian und meinem Zustand hätte erkennen müssen. »Es reicht ja, wenn eine redet«, murmelte ich. »Sehr witzig«, erwiderte sie spitz. »Schon gut. Ich weiß einfach nicht, worüber ich reden soll. Außerdem habe ich Kopfschmerzen.« »Du mit deinen Kopfschmerzen.« Lisanne guckte besorgt. »Vielleicht gehst du einfach mal zum Arzt. Das könnte auch ein Hirntumor sein.« »Ja, genau.« Lisannes medizinische Diagnosen ließen mich kalt. In der zweiten Klasse hatte Lisanne mal behauptet, meine Krämpfe in den Zehen seien ein Zeichen für Multiple Sklerose. Daraufhin verbrachte ich heimlich die zwei schrecklichsten Stunden meines Lebens im Internet: Die erste Stunde brauchte ich, um herauszukriegen, wie man diese Krankheit überhaupt schreibt, die zweite Stunde, um mich als Leseanfängerin durch die ersten drei Bildschirmseiten eines zehnseitigen Wikipedia-Eintrags zu quälen. Als ich endlich begriffen hatte, was die Krankheit bedeutete, heulte ich so lange, bis...


"Ihre Texte waren – Wie soll man es bezeichnen? – auf eine brutale Art poetisch. Hatten Moral, ohne moralinsauer zu sein. Hatten einen fließenden Rhythmus. Und der von eigenen Erfahrungen und tiefschürfenden Gedanken geprägte Inhalt brachte bei jedem der gebannt Lauschenden eine Saite zum Klingen." (Westfälische Nachrichten)



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