Sperling | Jenseits der Zarenmacht | Buch | 978-3-593-38766-6 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 16, 477 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 670 g

Reihe: Historische Politikforschung

Sperling

Jenseits der Zarenmacht

Dimensionen des Politischen im Russischen Reich, 1800-1917

Buch, Deutsch, Band 16, 477 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 670 g

Reihe: Historische Politikforschung

ISBN: 978-3-593-38766-6
Verlag: Campus


Das Zarenreich wird oft als despotische Autokratie gesehen, innerhalb derer die 'Gesellschaft' um Partizipation rang. Dieser Sichtweise treten die Autoren dieses Bandes entgegen. Sie untersuchen Formen politischer Teilhabe in Dörfern und Kleinstädten und nehmen Bauern und Angestellte, Liberale, Konservative und Terroristen als politische Akteure in den Blick. Der Raum des Politischen, so das Ergebnis, war im Zarenreich sehr viel weiter gesteckt als bisher angenommen.
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Inhalt

Jenseits von ›Autokratie‹ und ›Gesellschaft‹: Zur Einleitung
Walter Sperling

Repräsentationen

Das Arkanum zwischen Herrschaftsanspruch und Kommunikationspraxis vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert
Angela Rustemeyer

"Eigentum! Heiliges Recht! Seele der Gesellschaft!": Adel, Eigentum und Autokratie in Russland im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Martina Winkler

›Geschichte‹ in der politischen Kommunikation konservativer Eliten im Zarenreich, 1860-1890
Vera Urban

Kommunikationsräume

Die ›Schicksalsfrage‹ der Kleinstadt: Eisenbahn, Raum und Industrialisierung in der russischen Provinz, 1850-1914
Walter Sperling

Russische Herrschaft in Warschau: Die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale im Konfliktraum politischer Kommunikation
Malte Rolf

"Russland den Russen": Ultrarechte in der Lokalpolitik, 1905-1917
Kirsten Bönker

Visionen und Grenzen einer ›neuen‹ Gesellschaft

Volksaufklärung oder Islam? Verstaatlichung des Schulwesens und Bittschriftenkampagnen von Muslimen im Wolga-Ural-Gebiet, 1860-1900
Marsil' Farchšatov

›Selbstbildung‹ und Gemeinwohl: Das Aushandeln eines besseren Russlands in bäuerlichen Briefen und Autobiographien
Julia Herzberg

Bauern in Kreditgenossenschaften: ›Träume‹ und ›Albträume‹ der Staatsbank-Inspektoren, 1905-1917
Stephan Merl

Die Politisierung der Angestellten im späten Zarenreich
Alexander P. Kaplunovskiy

Die Feuerwehr und der Fotograf: Zur Visualisierung von ›Gesellschaft‹ im späten Zarenreich
Nigel Raab

Gewalt als politische Kommunikation

Pogrom und Politik: Gewalt, Kommunikation und die Neuausrichtung jüdischer Erwartungshorizonte im Zarenreich
Alexis Hofmeister

Gewalt als Sprache der Straße: Terrorismus und seine Räume im Zarenreich
Anke Hilbrenner

Die Bombe als "Notwendigkeit": Terrorismus und die Debatten der Staatsduma um die Legitimität politischer Gewalt
Lutz Häfner

Register

Autorinnen und Autoren


Jenseits von ›Autokratie‹ und ›Gesellschaft‹: Zur Einleitung
Walter Sperling

"Ich habe schon immer vermutet, daß Hunde bedeutend klüger sind
als Menschen, und davon daß sie sprechen können, war ich überzeugt.
Nur ein gewisser Eigensinn hält sie vom Sprechen ab.
Sie sind ausgezeichnete Politiker. Sie wissen einfach alles,
beobachten jeden Schritt des Menschen."
Nikolai Gogol, Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, 1835

Die Historiographie des Zarenreiches, wie sie zwischen Berlin und Berkeley gelehrt und geschrieben wird, trägt schwer an ihrem Subjekt. Sie leidet an der Dichotomie von ›Autokratie‹ und ›Gesellschaft‹, deren Antagonismen die historische Meistererzählung in ähnlicher Weise teleologisch bestimmen wie einst die modernisierungstheoretische "Interpretationsfigur" Rückständigkeit und Fortschritt. Die Geschichte, die in abgewandelten Varianten erzählt wird, nimmt ihren Anfang im Zeitalter des Absolutismus, als Russland wie seine westlichen Nachbarn noch keine Gesellschaft besaß und, im Unterschied zu Westeuropa, über keine Stände verfügte. Alles Gute kommt in dieser Erzählung aus dem aufgeklärten Westen und deshalb fällt der Verwestlichung, dem Kulturtransfer seit dem 18. Jahrhundert die Rolle des Brandstifters im autokratischen Russland zu. Die ›Keime‹ des politischen Fortschritts gingen spätestens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, als kleine Gruppen von verklärten Gardeoffizieren ihre Stimmen unüberhörbar gegen den neuen Zaren Nikolaus I. erhoben. Mit ihren Hinrichtungen und Verbannungen nach Sibirien legte aber der ›Gendarm Europas‹ den Grundstein für die Gesellschaft als Opposition. Je mehr Gesellschaft es fortan in Russland geben sollte, desto vernehmbarer wurden diese Gegenstimmen zur Autokratie und dem Staat, seinem Handlanger. Was darauf in Überblicksdarstellungen und Abhandlungen zu Einzelfragen folgt, ist die Meistererzählung eines unaufhaltsamen Vordringens der ›Gesellschaft‹ auf Kosten der ›Autokratie‹, die der englische Historiker Christopher Read in einem Forschungsüberblick als Historiography of Autocratic Decline überschrieb. Jegliche Entwicklung wird daran gemessen und daraufhin bewertet, inwieweit Gesellschaft Raum gewinnen und die Autokratie, wider den Fortschritt, diesen Raum zurückerobern konnte. Dies ist eine Erzählung darüber, wie die Autokratie unter dem Druck der Moderne ›Politik‹ machte und ihr Monopol auf ›Politik‹ gegen die Gesellschaft erbittert verteidigte. Die Geschichte endet siegreich, auch wenn die Hauptfiguren der Gesellschaft die Bühne als tragische Helden verlassen müssen. Denn der Abdankung des letzten Zaren folgte die Oktoberrevolution und mit ihr die radikalen Elemente, die sich die ›dunkle Seite‹ der russischen Zivilisation zunutze machten. Der wenige Monate dauernden Phase der Demokratie in Russland folgte das bittere Ende der Gesellschaft: Emigration, Liquidierung oder Überführung in eine sowjetische Funktionselite.

Dieser Sammelband hat nicht zum Ziel, Erfolg und Scheitern einer Modernisierungsgeschichte zu beschreiben. Er geht nicht der Frage nach, warum, wie Christoph Schmidt es formulierte, die ›Gesellschaft‹ im Zarenreich nicht weit genug kam, "um die Autokratie zu verjagen und die Revolution zu verhindern". Die ›Autokratie‹ steht hier kein weiteres Mal vor Gericht. Vielmehr stellt der Band die Frage nach dem Verhältnis von Herrschaft und Bevölkerung im Russischen Reich aus kultur- und kommunikationsgeschichtlicher Perspektive neu. Die Autorinnen und Autoren laden ein, über eine vertraute Erzählung hinaus zu blicken und die Chancen und Grenzen für das Handeln von Menschen, den eingangs zitierten Gogolschen Hunden und anderen ›Politikern‹ im Rahmen einer autokratisch verfassten Ordnung neu zu bewerten. Die Metapher des Jenseits gilt dabei als Selbstaufforderung, eingetretene Pfade zu verlassen und Dimensionen des Politischen selbst in jenen Bereichen des Sozialen zu entdecken, die wie das autobiographische Schreiben oder das Moskauer Wirtshaus vordergründig als unbedeutend und ›unpolitisch‹ erscheinen mögen.

In der Einleitung möchte ich erstens zeigen, dass wir seit Generationen ein und dieselbe Geschichte erzählen. Mit wissenschaftshistorischem Gespür ist nachzuvollziehen, aus welchen Meistererzählungen diese Geschichte sich speist. Welche Rolle spielen entliehene und bequem gewordene Interpretationsfiguren beim Aufbau des historischen Arguments in konkreten empirischen Arbeiten? Wie werden Eindeutigkeiten geschaffen, wo Zweifel obliegen, wie Ambivalenzen ausgeblendet und die Mehrstimmigkeit der Quellen zum Schweigen gebracht? Wie entfalten Historiker durch das moderne Narrativ der ›zivilen Gesellschaft‹ diskursive Macht, zu deren Geiseln sie sich letztendlich selbst machen? Mit der begriffsgeschichtlichen Annäherung an das Bedeutungs- und Aushandlungsfeld ›Politik‹ wird zweitens eine Ebene eingeführt, die die Geschichte von zarischer Unterdrückung und gesellschaftlicher Selbstbefreiung erweitern soll. Am zunehmenden Gebrauch des Politikvokabulars von konkurrierenden Akteursgruppen lassen sich Allianzen und Brüche innerhalb der sozialen Ordnung nachzeichnen, die über die Frontstellung von Autokratie und Gesellschaft hinaus weisen. Drittens werden Dimensionen des Politischen herausgearbeitet, die durch Kommunikationen zwischen staatlichen, halbstaatlichen und nichtstaatlichen Akteuren hergestellt, verfestigt und wieder verworfen wurden. Hier interessieren Ordnungskonzepte und ihre Repräsentationen, Aushandlungsorte und Kommunikationsräume, Visionen des Neuen und ihre Fürsprecher, die Möglichkeiten und die Grenzen des Machbaren sowie Gewalt als Gegenstand, Mittel und strukturierendes Element der politischen Kommunikation.


Walter Sperling, Dr. phil., promovierte an der Universität Bielefeld; 2019 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter am DHI Moskau.


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