Spender Der Tempel
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86300-128-5
Verlag: Männerschwarm, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 302 Seiten
ISBN: 978-3-86300-128-5
Verlag: Männerschwarm, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Große Freiheit 1929
Zehn Jahre nach dem Ende des 1. Weltkriegs betritt Paul Schoner Feindesland: in Hamburg besucht er Ernst Stockmann, den er in Oxford kennen gelernt. Die Brutalität des ersten Weltkriegs hatte die Menschen in vielerlei Hinsicht traumatisiert. Im prüden England ist jedermann verzweifelt bemüht, trotz allem die gewohnte Lebensweise aufrechtzuerhalten. Wie anders dagegen Deutschland: In Wandervogel und Körperkultur manifestiert sich ein Aufbruch der Jugend, der alle Welt in Staunen versetzt.
Pauls Hamburger Gastgeber entstammt einer reichen Patrizierfamilie, deren großbürgerliche Lebensweise sich dieser Entwicklung stur widersetzt. Schon bald entflieht Paul ihrer pompösen, aber finsteren Villa an der Alster. In Joachim Lenz, einem "missratenen" Kaufmannssohn, lernt er bald einen wirklichen Freund kennen, mit dem zusammen er Strandbäder und Nachtbars erkundet und schließlich –- zusammen mit einem gemeinsamen "Lover" – eine Wanderung entlang des Rheins unternimmt.
Joachim ist ein Repräsentant des "modernen" Deutschland: Er fotografiert, will sich aber nicht als Künstler verstanden wissen und er liebt junge Männer, die ihn sofort langweilen, wenn sie seine Gefühle erwidern. Während ihrer Wanderung gelingt es Paul und Joachim, das Lebensgefühl des anderen besser zu verstehen; sie wünschen sich, dass diese Reise niemals enden möge. Als die Nazis in Deutschland immer stärker werden und sogar Joachims Studio verwüsten, verlässt Paul Hamburg, um in Berlin seinen Studienfreund Bradshaw zu besuchen.
Spender hat dieses ungemein plastische Porträt einer Epoche unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland geschrieben. Paul Schoner ist darin das Alter Ego des Autors, Joachim Lenz ist als der Fotograf Herbert List und Spenders Freund Bradshaw als Christopher Isherwood zu erkennen. Auch Ernst Stockmann wurde nach einer realen Figur gezeichnet, die für den Fall einer Veröffentlichung allerdings mit rechtlichen Schritten drohte – einer von mehreren Gründen, aus denen der Roman zunächst nicht gedruckt wurde. 1986, fast am Ende seines Lebens, hat Spender diesen frühen Entwurf überarbeitet, sodass sein Buch die authentische Frische des eigenen Erlebens mit dem Wissen verbindet, was später geschah. Ein großer Roman über den Freiheitsdrang einer jungen Generation und Deutschland am Wendepunkt der Zwischenkriegszeit.
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ENGLISCHES VORSPIEL Was Paul an Marston liebte, war seine (wie er leidenschaftlich glaubte) offensichtliche Unschuld. Er hatte diese Eigenschaft gleich bemerkt, als er ihn zu Beginn ihres ersten gemeinsamen Trimesters in Oxford zum ersten Mal sah. Eines Nachmittags stand Marston im Collegehof ein paar Meter entfernt von seinen Kameraden aus dem Footballteam. Diese gaben sich einer ihrer nachmahlzeitlichen Orgien hin, rannten wie die Wahnsinnigen im Kreis herum und warfen sich einen Brotlaib zu, den sie in der Küche gestohlen hatten, um ihn als Football zu benutzen. Mit dem Ruf «Fass ihn!» stürzten immer wieder zwei oder drei gebückt aufeinander los und griffen sich in die Geschlechtsteile. Marston schien sich nicht klar zu sein, ob er bei diesem Spiel mitmachen sollte oder nicht. Er stand am Rand und sah mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln zu. Sein Schädel war rund, das kurzgeschnittene Haar saß wie ein Helm über seinen ruhigen Zügen. Er hatte das leicht verwirrte Aussehen desjenigen, der sich unter seinen Kameraden verloren vorkommt und sich vermutlich selbst die Schuld dafür gibt, sich nicht einfügen zu können. Paul, der diese Szene von der Vorhalle aus beobachtete, durchbrach die Barrieren seiner eigenen Schüchternheit und lud Marston zu einem Drink auf sein Zimmer ein. Bei einem Bier fragte er ihn aus. Marston antwortete freimütig. Er erzählte Paul, sein Vater sei ein erfolgreicher Chirurg, habe ein Leberleiden und sei deshalb oft wütend auf seinen Sohn. Paul konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwer unter irgendwelchen Umständen wütend auf Marston werden konnte. Dr. Marston hatte gewünscht, dass sein Sohn dem Boxklub der Universität beiträte. Also hatte er sich aus sanftmütiger Fügsamkeit, seinem Vater zu gefallen (dachte Paul), zum Mitglied der Wettkampfriege hochgeboxt. Trotzdem, wie er Paul ziemlich munter erzählte, versetze ihn jeder Kampf in Angst und Schrecken. «Vorher wird mir übel, und ich sehe die ganze Zeit über ziemlich grün aus, alter Knabe.» Paul fragte ihn, was er vom Kapitän des College-Achters halte, der bei seinen Freunden Hell Trigger hieß. Vom Hof herauf war seine Stimme zu hören, die deftige Flüche ausstieß. «Er scheint ein ganz anständiger Kerl zu sein, aber ich glaube kaum, dass ich ihn sehen oder mit ihm gesehen werden will, sobald das Tor der Uni sich hinter mir geschlossen hat.» Paul entwickelte sich zu einem reichlich aufdringlichen Vertrauten Marstons. Er stellte ihm Fragen und bekam ehrliche Antworten. Paul war sich nie sicher, ob es Marston gefiel, so viel von sich zu erzählen. Einmal sagte Marston, sein größtes Vergnügen sei es, alleine zu segeln; vielleicht sei es sogar noch schöner, alleine zu fliegen. Er gehörte dem Fliegerklub der Universität an und hatte den Ehrgeiz, Pilot zu werden. Er unternahm auch gern lange, einsame Wanderungen in den ländlichen Gegenden Englands, die er für die schönsten der Welt hielt. (Er war einmal in Jugoslawien gewesen und einmal zum Skifahren in den Alpen.) Er liebte den Westen Englands. Zögernd schlug Paul vor, in den Osterferien eine gemeinsame Wanderung zu unternehmen. Marston war begeistert. Schon immer habe er die Wye entlangwandern wollen, sagte er. Er zog Karten hervor. Sie legten einen Tag fest – den 26. März –, an dem sie den Bus von London nach Ross-on- Wye nehmen wollten. Die Wanderung dauerte fünf Tage und ging restlos daneben. Paul glaubte, Lyrik würde Marston langweilen, und hatte in der Woche, bevor sie loszogen, Bücher über Segeln, Flugzeuge und Boxen durchgeackert. Nach einer Tasse Kaffee in Ross-on-Wye folgten sie dem Treidelpfad am Flussufer entlang. Kaum waren sie aufgebrochen, begann Paul von neuen Flugzeugtypen zu reden. Marston gab sich zwar höflich, doch er schien gelangweilt, und als Paul das Thema wechselte und von Segelbooten anfing, schien ihn das fast ebenso wenig zu interessieren. Als sie am Morgen des zweiten Tages durch eine Gegend wanderten, wo die Blätter wie Flämmchen an den Zweigspitzen züngelten, sagte Marston, er habe Magenschmerzen. Wenn Marston Schmerzen eingestand, konnte das nach Pauls Meinung nur heißen, dass er Qualen litt. Die nächste Stunde beobachtete er ihn, sagte aber nichts, weil er befürchtete, das Antworten könnte ihn zu sehr anstrengen. Endlich fragte er ihn ängstlich: «Hast du noch immer Schmerzen? Sollen wir in ein Dorf gehen und versuchen, einen Arzt aufzutreiben?» – «Ach, halt doch die Klappe», sagte Marston. «Du machst ein Getue um mich wie eine alte Glucke! Na», fügte er hinzu, «ich glaube, ich scheiß‘ mal unter die Bäume da», und ging weg. Am dritten Tag gab es eine Ablenkung durch einen Hund, der sich an sie hängte und ihnen den ganzen Tag durch grün sprießende Felder nachlief, bis sein Besitzer, ein Bauer, sie bei Einbruch der Dämmerung einholte und schrie, sie hätten seinen Hund gestohlen, er werde sie wegen Diebstahls anzeigen. Er schrieb ihre Namen und Anschriften auf. Das war eine Aufregung, die ihnen für zwei Stunden die Langeweile vertrieb. Die Nacht verbrachten sie in einer Pension, in der sie das Bett miteinander teilen mussten. Keiner von beiden schlief. Am anderen Morgen sagte Marston beim Aufstehen: «Zu zweit in diesem Bett zu schlafen hat mir ein ziemlich grausiges Bild von der Ehe vermittelt, mein Alter.» Schweigend aßen sie ihr Frühstück. Später machte Paul, der seine Brownie-Boxkamera mitgenommen hatte, eine Aufnahme von Marston, wie er am Flussufer saß und über einer Landkarte brütete, die auf seinen Knien ausgebreitet war. Als sie wieder in London ankamen, sprang Marston als erster aus dem Bus auf den Bürgersteig. Ohne sich noch einmal umzudrehen oder sich zu verabschieden, ging er rasch fort. Paul schaute noch auf Marstons Rücken, als er ihn eine Melodie aus dem amerikanischen Musical Good News pfeifen hörte. Die Fotografie war blass: graugetönte Felder, knospende Weidenruten wie Peitschenschnüre, die sich schwarz abhoben gegen den schimmernden Fluss mit den Tigerstreifen kleiner Wellen. Ein neunzehnjähriger Junge in alter grauer Flanelljacke und -hose saß auf einer grasbewachsenen Uferböschung und beugte sich über eine Landkarte, die ihr Glück hätte bedeuten sollen. Er sah aus wie ein englischer Flieger aus dem Ersten Weltkrieg, der auf französischem Boden eine Karte der Westfront studierte. Außer dem helmförmigen Hinterkopf waren nur die Wangenlinie und das Profil der Nase von ihm zu sehen. Er schien merkwürdig allein. Für Paul war das Foto ein Brennglas, in dem sich das Unvergessliche jenes englischen Frühlingsmorgens konzentrierte. Es war ein ganz gewöhnlicher Schnappschuss, so simpel in seinen drei oder vier Elementen, dass er die Teile später jederzeit im Gedächtnis zusammensetzen konnte. Im Sommertrimester nach dieser Wanderung lernte Paul einen neuen Freund kennen, dessen Persönlichkeit sich vollkommen von der Marstons unterschied. Es war der Dichter Simon Wilmot, Sohn eines Arztes, der auch Psychoanalytiker war. Während Marston völlig unschuldig wirkte, wusste Wilmot alles über Freudsche Schuldkomplexe bei sich und anderen – Schuldgefühle, die durch die Überwindung von Hemmungen bewältigt werden mussten, wie er mit Nachdruck vertrat. Man dürfe nichts verdrängen. Verdrängung führe zu Krebs. Wilmot war am Christ Church, dem College derer von Geblüt, von Vermögen und von Adel, denen er sich jedoch nur bei der Andacht und zu den Mahlzeiten anschloss. Außerhalb seines Colleges galt er als exzentrisches «Genie». Andere Dichter der Universität waren seine Freunde. Sie suchten ihn in seinen Räumen auf, jeder einzeln, zu einem verabredeten Zeitpunkt. Wilmot war zwar furchtbar schlampig in seinem Äußeren, in der Ordnung seiner Bücher und Papiere und auch mit den Mahlzeiten, aber geradezu pingelig in seiner Zeiteinteilung. Paul hatte Wilmot auf einem Gartenfest des New College kennengelernt. Wilmot, dem Pauls Ruf, verrückt zu sein, gerüchteweise zu Ohren gekommen war, warf ihm aus Augen, die vielleicht ein wenig zu eng beieinander standen, einen kurzen, prüfenden Blick zu und lud ihn für den folgenden Nachmittag um halb vier zu sich in seine Räume am Peckwater Quadrangle ein. Am nächsten Tag klopfte Paul um zwanzig vor vier an Wilmots Tür. Wilmot machte auf und sagte: «Ach, du bist es. Du kommst zehn Minuten zu spät. Na gut, komm rein.» Es war noch heller Nachmittag, doch die Vorhänge in Wilmots Wohnzimmer waren zugezogen. Wilmot saß in einem Lehnstuhl, hinter sich eine Stehlampe. Er bedeutete Paul, auf dem Stuhl gegenüber Platz zu nehmen. Paul setzte sich und beobachtete Wilmot. Licht schien auf sein sandfarbenes Haar über der Stirn, deren Haut ihm so glatt vorkam wie unbeschriebenes Pergament. Mit seinen engstehenden rosageränderten Augen war er fast ein Albino. Sobald Paul etwas sagte, das als...