Speier | HAUPT STADT STUDIO | Buch | 978-3-926677-84-6 | sack.de

Buch, Deutsch, 82 Seiten, GB, Format (B × H): 130 mm x 200 mm, Gewicht: 244 g

Reihe: Literatur, Musik, Bildende Kunst von Zeitgenossen

Speier

HAUPT STADT STUDIO


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-926677-84-6
Verlag: Aphaia Verlag

Buch, Deutsch, 82 Seiten, GB, Format (B × H): 130 mm x 200 mm, Gewicht: 244 g

Reihe: Literatur, Musik, Bildende Kunst von Zeitgenossen

ISBN: 978-3-926677-84-6
Verlag: Aphaia Verlag


Im neuen Gedichtband HAUPT STADT STUDIO von Michael Speier sind es die Topografien und fragilen Raum-Zeit-Ordnungen europäischer und amerikanischer Metropolen, die der Dichter neu vermisst und deren historische Schichtungen und Überlagerungen er dechiffirert. Die Großstadtbilder von Berlin, New York City oder Budapest rufen noch einmal die Mythen und Sehnsuchts-Topoi der Metropolen auf, um sie in grotesken Alltagsszenen oder unspektakulären Momenten von großer Komik zu entzaubern.

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Flüchtige Balance – Ein paar Sätze zu den Gedichten von Michael Speier von Michael Braun

In den mittlerweile zwanzig Jahren, in denen ich – bei seltener werdenden Gelegenheiten – mit Michael Speier über die sich wandelnden Bewusstseinsformationen der zeitgenössischen Poesie diskutiere, hat sich die Tonlage unserer Diskurse sehr verändert. Je offener und ungeschützter sich unser Gespräch im Lauf der Zeit an die neuesten Stimmungslagen der Lyrik herantastete, desto größer wurde unser Sarkasmus. Unser Enthusiasmus hatte Mühe, sich gegen eine übermächtig werdende Ironie zu behaupten. Aber diese Sarkasmen halfen auch, um so manche Phase der literaturkritischen Ratlosigkeit zu überstehen.
Ende der 1980er Jahre bin ich Michael Speier das erste Mal begegnet – und ich wahrte zunächst einen respektvollen Abstand zu jenem Autor, den ich als diskreten Fürsprecher Stefan Georges wahrnahm. Ich war damals schon begeisterter Leser der von Speier herausgegebenen Lyrikzeitschrift Park, die eine aristokratische Aura umwehte.
Der Titel der Zeitschrift zitiert im Gestus einer starken Reminiszenz eine berühmte Gedichtzeile Stefan Georges. „komm in den totgesagten park und schau“. So beginnt jenes kanonische George-Gedicht, das seinen Band Das Jahr der Seele (1897) einleitet. In seiner Neigung zum ästhetischen Fundamentalismus, oder besser: zum ästhetischen Absolutismus beschwor George ein künstliches Paradies – den Park, die gebändigte und exakt komponierte Natur, als Ideallandschaft. Keine wilde Natur, keine unkontrollierten Regungen, keine „fremden Stimmen“ sollten die symmetrische Ordnung dieser Park-Landschaft stören.
„komm in den totgesagten park und schau“: Michael Speier hat im zarten Alter von 26 Jahren diesen Vers Georges sehr ernst genommen – und hat selbst die Tore zu einem eigenen Park geöffnet: Er hat nämlich 1976 seine Zeitschrift Park gegründet, eine kleine, aber feine Institution, die internationale Gegenwartspoesie in Erstdrucken präsentiert.
Gegenüber den wirren Buntheiten einer postmodern sich aufspreizenden Zeitschriftenszene setzte Speier damals ein strenges asketisches Weiß auf den Umschlag seines Heftes: das Weiß als die Elementarfarbe der symbolistischen Dichtkunst und einer Avantgarde, die immer wieder die ästhetischen Voraussetzungen ihrer Arbeit befragt.
Anders jedoch als die als inner cercle arbeitende George-Gemeinde ist Michael Speier von jedem Dogmatismus frei und hat seine Zeitschrift, die er seit über 35 Jahren im Alleingang herausgibt, unterschiedlichsten Strömungen der Gegenwartspoesie geöffnet. Mit dem Namen Paul Celan ist ein zweites Wirkungsfeld markiert: Seit 1987 ist er Herausgeber des Celan-Jahrbuchs und wir verdanken ihm zahlreiche luzide Aufsätze zur Herkunfts- und Wirkungsgeschichte von Celan-Gedichten.
Inwiefern gibt es nun ästhetische Wechselwirkungen zwischen den von ihm analytisch erschlossenen Dichtern George und Celan und seiner eigenen Poesie?
Wie George situiert Michael Speier sein Gedicht in einer bestimmten Vorstellung von Musikalität. „Den wert der dichtung“, so hat einst George postuliert, „entscheidet nicht der sinn, sondern die form jenes tief erregende in maass und klang.“ Und auch für Speier ist die klangliche Verzauberung das Maß aller Dinge. So setzt auch der Dichter seine Tonwerte. In seinem Essay über die „Daseins-Essenz“ des Gedichts heißt es: „So folgt man – das letzte Ziel ist zweifelhaft – den Verläufen der Sprache, vertraut ihrer Strömung, bis jeder Laut, jedes Zeichen den nur ihm gemäßen Platz findet, alles haargenau in eine tobende Ordnung gebracht (Artaud)“. Es gibt also in den Gedichten Michael Speiers einen poetischen Resonanzraum, in den immer wieder die Energien der großen Dichter der Moderne einstrahlen. Aber für seine lyrischen Daseinsentwürfe hat er längst ein eigenes Maß gefunden.
In seinem Band HAUPT STADT STUDIO sind es – wie in dem voran gegangen Band welt/raum/reisen (2007) – die Topographien und fragilen Raum-Zeit-Ordnungen europäischer und amerikanischer Metropolen, die der Dichter neu vermisst und deren historische Schichtungen und Überlagerungen er dechiffriert.
Die Großstadtbilder von Berlin, New York City oder Budapest rufen noch einmal die Mythen und Sehnsuchts-Topoi der Metropolen auf, um sie in grotesken Alltagsszenen oder auch unspektakulären Momenten von großer Komik zu entzaubern.
„Gedichte“, sagt Michael Speier, „sind Weltempfänger – im Miniformat.“ Und der Ton- und Hallraum dieser „Weltempfänger“ nimmt die Turbulenzen der Großstadt auf und ver- knüpft diese Bewusstseinsreize auf ganz eigene Weise. Es ist eine Großstadtdichtung, die um die Flüchtigkeit all der Mythisierungen und Stilisierungen weiß, von der unsere Wahrnehmung der Metropole lebt. Michael Speier geht in seinen Gedichten stets auf Halbdistanz, wenn er die Charakteristika des Urbanen erfasst – und er zeigt auch sehr präzis, wie auch das lyrische Subjekt selbst jenen Prozess der Dissoziation reflektiert. Das kann man etwa im Gedicht ivy league (S. 45) beobachten. Der lyrische Protagonist genießt hier das Treiben auf dem Campus des Dartmouth College in New Hampshire, Teil der „Ivy League“ und damit eine der traditionsreichsten Universitäten der USA. Zugleich ahnt das Ich die Vergänglichkeit all dieser (Selbst)Spiegelungen, die im nächsten Moment zerfallen. Die „Muster“ verlieren ihre Form und auch das Ich selbst spürt den Sog der Dissoziation. Michael Speier, als Lyriker wie als Literaturwissenschaftler mit den Maskeraden des Ich vertraut, illustriert hier aus ironischer Distanz das „geflunker“ der hier zirkulierenden Heilsbotschaften.
In einem schönen Wolken-Gedicht (S. 41), Teil des Zyklus „le paysan de New York“ – eine Anspielung auf Louis Aragons Le paysan des Paris –, liefert der Dichter die prägnanteste Cha-rakteristik der Ich-Figuration, die seine Gedichte prägt: „nicht fixiert aufs fixieren flüchtige / balance zwischen zerstäuben und zentrieren (wie das ich) wie dateien/ die man nicht wiederherstellen kann / wie die zeit zwischen copy & past“.
Es ist also ein fluides Ich, das sich in diesen Gedichten bewegt in einer „flüchtigen balance zwischen zerstäuben und
zentrieren“, verwandt jenem Flaneur-Subjekt, wie es dereinst Walter Benjamin in seinen Essays über Großstadtwahrnehmung und Baudelaire beschrieben hat.
Dass der Sarkasmus, der in meinen Gesprächen mit dem Dichter immer wieder aufflackert, auch in seine Gedichte eingewandert ist, zeigen einige boshafte Anspielungen auf den Kult um Paul Celan, dem sich einige seiner Jünger verschrieben haben. Im großen Berlin-Zyklus wischt der Autor diese Apologeten vom Tisch: „an langen tischen zechen die celanisten / in der hand das metall geschmolznen / goldzwirns, erwecker / mit schlummertasten-funktion / und den wahlmöglichkeiten von / bahnhofsimbissen“.
Und auch im New York-Gedicht verschmilzt der Autor in einigen besonders intensiven Zeilen Melancholie, Sinnlichkeit und Sarkasmus. Ein gemeinsames Austern-Essen in Manhattan wird als erotische Szenerie ausgebaut und dann nach Art einer Überschreibung mit verfremdeten Zitaten Rilkes und Celans aufgeladen (S.39).
Es erscheint fast als blasphemischer Vorgang, wenn dieser sinnliche Prozess des Austernessens mit einer Wiederholungsfigur beschrieben wird („wir schlürfen und schlürfen“), die eine berühmte Fügung aus Celans Todesfuge zitiert („wir trinken und trinken“). Von der frivolen Celan-Kontrafaktur arbeitet sich das Gedicht dann zu sehr bewegenden elegischen Versen vor über das Werden und Vergehen des Daseins: „wir aber schlürfen / und schlürfen, ist luxus wirklich nur mangel an notwendigkeit / das schöne nur des schönen anfang, sind wir in not, / wird es sich wenden? erscheinen und verschwinden der / lebenden, salz in der tusche, alte wasserkunst, die frohen austern.“
Michael Speier weiß sehr genau, dass nicht erst seit Rilkes Duineser Elegie das Schöne des Schrecklichen Anfang ist. Und seine federnd ironische Großstadtpoesie hat das nicht vergessen – und changiert zwischen sinnlicher Momentaufnahme, flüchtiger Impression und leichthändigem Traditions-Zitat. Und bis auf weiteres ist auch der Sarkasmus unabkömmlich.


MICHAEL SPEIER, geb. 1950, lebt als Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Übersetzer in Berlin. Sein lyrisches Werk ist in über 40 Anthologien und neun Gedichtbänden veröffentlicht, zuletzt erschien:

welt/raum/reisen (2007). Neben der von ihm gegründeten Lyrikzeitschrift Park und dem Paul-Celan-Jahrbuch hat er mehrere Lyrikanthologien im Reclam Verlag herausgegeben und ist seit 1995 Redaktionsmitglied der Zeitschrift PO&SIE (Paris). Er hat an internationalen Poesiefestivals, u.a. in Medellín, Buenos Aires, Belgrad, Novi Sad, Zürich, Malmö und Luxemburg teilgenommen und leitete 2007 das Poesiefestival Mailand. Nach Studium
und Promotion lehrte er bis 1989 an der Freien Universität Berlin, danach an verschiedenen Universitäten in den USA und in Deutschland sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Seit 1997 Professur am German Department der University of Cincinnati (USA).
Michael Speier ist Mitglied im P.E.N. Er erhielt zahlreiche Arbeits- und Aufenthaltsstipendien, u.a. der Kulturstiftung Amsterdam, das Döblin-Stipendium der Akademie der Künste Berlin sowie das Hesse-Stipendium, und arbeitete als Poet in residence in USA, Frankreich, Italien und Ungarn. 2007 war er Preisträger der Deutschen Schillerstiftung Weimar, 2012 erhielt er den Literaturpreis der A + A Kulturstiftung, Köln.



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