Sous Roxy
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-88747-319-8
Verlag: Transit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 140 Seiten
ISBN: 978-3-88747-319-8
Verlag: Transit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zeit: Die allerbeste, nämlich Mitte siebziger Jahre.
Ort: Eine Kleinstadt mit Fußgängerzone, Kino und Autobahnanschluss irgendwo zwischen Köln und Aachen.
Held: Roxy (eigentlich Paul), knapp achtzehn Jahre, Außenseiter, Analphabet (deswegen Radio- und Schulfunk-Fan), Hilfsarbeiter, Deserteur und schließlich Zivi im Krankenhaus; verliebt sich ziemlich aussichtslos in Sonja, Tochter aus gutem Hause.
Personal: Sonja, Gymnasiastin, trifft bei Hausarbeiten über den Röhmputsch auf Roxy, der alles darüber weiß. Herr Kessler, Fabrikant, erklärt Roxy zum Arbeiterdenkmal, schmeisst ihn raus und trifft ihn, angeblich todkrank, im Krankenhaus wieder. Franz Kafka, Autor der Erzählung »Die Verwandlung«, die Roxy als Vorlage für erste Schreibübungen nutzt. Zippi, Wohngenossin von Roxy und Kämpferin für die Anerkennung der DDR. Schuppe, immer ohne Geld, aber einfallsreich, vermietet seinen Balkon an Voyeure. Han, sehr kleine und sehr höfliche Koreanerin, schützt Roxy vor dem Chefarzt. Adamski, der sich Weihnachten aus Angst vor Einsamkeit ins Krankenhaus schmuggelt. Und viele andere mehr: Mütter, deren Liebhaber, ein Swimming Pool, eine Milchbar, Studenten, die Musik aus Sklavenhalterstaaten nicht mögen, Zigaretten namens Güldenring, Ernte 23, Milde Sorte - und natürlich Roxy Music.
Ein Roman über das unangepasste Leben junger Leute, »outcasts« am Rande einer scheinbar sehr heilen Gesellschaft. Geschrieben wie ein Roadmovie: schnell, witzig, schroff und manchmal melancholisch. Mit seltsamen Vögeln, die einem zufliegen, als hätte man sie schon lange gekannt. Mit Geschichten, die so schräg und witzig sind, dass man sie gerne weiter erzählt. Und mit einem Plot, dessen Ende dem Helden trotz hohen Risikos unglaubliches Glück einspielt. Ein Buch, vor dem man warnen muss: Es macht süchtig!
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2
Nach dem Wochenende war Kroll nicht wiederzuerkennen. Etwas war in ihn gefahren, er war ein Anderer geworden. Die rechte Hand des Chefs, wie er sich gern nannte, war lädiert, griff ins Leere, lahmte. Kroll, das Vorbild, der Hundertzehnprozentige, erschien zu spät zur Arbeit, viel zu spät. Die anderen Gärtner meinten, Krolls Alte sei abgehauen, deshalb der Schlendrian. Kroll hatte oft damit angegeben, sich nicht mal ein Ei kochen zu können. Weiberkram. Vielleicht, mutmaßten die Kollegen, konnte er sich auch den Wecker nicht stellen, weil seine durchgebrannte Frau das immer für ihn getan hatte. Ich musste die Wartezeit überbrücken, indem ich am Montag den Mercedes des Chefs putzte, am Dienstag den Karmann Ghia der Chefin und am Mittwoch die Ente der Tochter. Ich führte den Hund aus, saugte Staub im Umkleideraum und flickte einen Fahrradreifen. Wenn Kroll dann endlich irgendwann eintraf, machte er ein Gesicht, als sei er jahrelang Kohlenschaufler auf B. Travens Totenschiff gewesen. Müde, apathisch, neben der Spur. Er regte sich nicht mehr auf, wenn ich beim Rasenmähen mal einen Gang zurückschaltete. Frühstückspause war von neun bis Viertel nach neun. »Wie spät ist es?«, fragte ich unruhig. »Scheißegal«, antwortete Kroll und starrte in seinen leeren Kaffeebecher. Es war bestimmt schon halb zehn. Ich riss mich nicht darum, hinter dem Rasenmäher herzulaufen, hatte aber Angst, schon wieder entlassen zu werden. Ich war noch in der Probezeit. Wir saßen auf einer Bank vor dem Krankenhaus, in dem ich geboren worden war und mit sechs fast gestorben wäre. Gelber Ziegelsteinbau, sieben Stockwerke. Patienten in Bademänteln spazierten in Begleitung eines rollbaren Infusionsständers durchs Gelände, zogen gierig an einer Zigarette. Krolls Gleichgültigkeit verschwand, wenn eine hübsche Krankenschwester an uns vorbeiging. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Ein Rettungswagen machte Radau. Auf der Bank nebenan fütterte eine alte Frau die Spatzen und redete dabei mit sich selbst. Am Himmel ein Flugzeug, das ein langes Band hinter sich herzog, darauf Buchstaben und Zahlen. Es war zehn Uhr, wenn nicht später, als der Chef auftauchte, eine Bohnenstange mit ein paar quer über die Glatze gekämmten Haaren. Von weitem rief er Krolls Namen wie ein Hundehalter. Kroll erhob sich schwerfällig, kratzte sich am Hals und ging los, als hätte man ihm Eisenkugeln an die Füße geschmiedet. »Ich bin die Ruhe selbst!«, schrie ihm der Chef entgegen. »Und ich erst!«, antwortete Kroll in gleicher Lautstärke. Am nächsten Tag war er pünktlich wie immer. Während sich alle anderen noch umzogen, Fußballtabellen bequatschten, rauchten oder einfach nur vor sich hin gähnten, hatte Kroll auf dem Firmenhof bereits den Unimog mit Blausteinen und Schotter beladen und einen Kleinbagger auf den Anhänger gelenkt, dabei Nettigkeiten mit dem Chef ausgetauscht. Als wir losfuhren, verkündete Kroll euphorisch, dass nun Schluss sei mit dem verdammten Unkraut, dem vermaledeiten Gras. Dass wir auf einem Anwesen eine große Trockenmauer bauen würden, einen Springbrunnen und ein toskanisches Kräuterbeet. Gartenbau und Landschaftsgestaltung vom Allerfeinsten! Der Schauspieler Tony Curtis, wusste meine Mutter, eine Jet-Set-Kennerin ersten Ranges, besaß ein Haus mit fünf Badezimmern. Hätte mich nicht gewundert, wenn es in dieser weißen Villa am Stadtwald, vor der Kroll nach zwanzig Minuten Fahrt parkte, sechs gab. Das Dienstpersonal hatte wohl seinen freien Tag. Die Hausherrin empfing uns persönlich. Anfang vierzig, südländischer Typ, unübersehbarer Busen. Aber keine Stöckelschuhe, sondern Gummistiefel, und statt Samt- und-Seidekleid ein schmutziges T-Shirt, löchrige Jeans. Die Frau schwitzte. Sie hatte bereits Eisenpflöcke gesetzt und eine Schnur gespannt. »Aushub für das Fundament dreißig Zentimeter tief?«, fragte sie. »Vierunddreißig Komma siebenzwo«, antwortete Kroll. »Hab ich so gelernt in der Baumschule.« Er lachte, die Frau lächelte ansatzweise. Ich verkehrte zwar nicht in Sechs-Badezimmer-Kreisen, aber irgendwie kam sie mir bekannt vor. Vögel zwitscherten gutgelaunt, Laubbäume spreizten sich wie Sonnenschirme. »Sie füllen mit Schotter auf, nehme ich an?«, sagte die Frau und kämmte ihre halblangen Haare mit den Fingern. »Nein, mit Platin. Im Notfall auch mit Gold. Aber nur im Notfall, Frau Aston.« Jetzt lachte sie, und Kroll drückte keck sein Hütchen in die Stirn. Er war schon wieder ein Anderer. Wie er Frau Aston gesagt hatte, mit der schmachtenden Reibeisenstimme eines von Sexual-hormonen getriebenen, der Lebenslust verfallenen Chansonniers. Kroll musste im Sperrmüll auch ein kompetentes Handbuch fürs erfolgreiche Flirten gefunden haben. »Ach, übrigens«, sagte Frau Aston. »Haben Sie zufällig was gegen Brennnesseln dabei? Wir haben hier nämlich so eine Plage.« »Hab ich«, antwortete Kroll, zog seine Jacke aus und brachte seine Oberarmmuskulatur zur Geltung. »Hab ich.« Die Frau hob die Augenbrauen, änderte dann aber plötzlich ihre Blickrichtung. »Sonja! Schon wieder verschlafen?« »Freitags erste Stunde frei. Weißt du doch, Mama!«, rief das Girl vom Monte genervt. Ich wünschte mir ein UFO, das mich aufsaugte und in eine andere Galaxie brachte. Oder wenigstens eine Pille, die mich unsichtbar machte. Es war die Polizei, die mir aus der Patsche half. Sie parkte unversehens mitten auf der Baustelle. Zwei Uniformierte stiegen aus, strichen nahezu synchron ihre Uniform glatt, bedeckten ihren Kopf. Ob ich Paul Weber sei? Ich nickte, und da sagte der Ältere der beiden: »Mitkommen! Zwangsvorführung!« Vor Schreck kriegte ich kein Wort raus. Die Beamten nahmen mich in fürsorgliche Begleitung. »Übrigens danke«, rief Sonja mir hinterher. »Ich hab eine Zwei in der Klausur!« Kroll stellte sich dem Polizeiwagen in den Weg und rief: »He, das muss’n verdammter Irrtum sein!« Die Polizisten drohten mit Verhaftung wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Da wich Kroll langsam zurück. Flatternde Angst. Mein schlechtes Gewissen verschwieg mir, weshalb es da war. Die Todesstrafe war 1949 in der Bundesrepublik Deutschland abgeschafft worden. Ganz so schlimm würde es also nicht kommen. Das beruhigte mich nicht. Das Wort Zwangsvorführung klang gefährlich. Aber keine Handschellen, kein Blaulicht. Sie hielten mich wohl für einen kleinen Fisch, einen Bleistiftdieb. Als gäbe es mich gar nicht, unterhielten sich der Fahrer und der Bewacher neben mir über Wochenenddienst, die aktuelle Hitzewelle und die Russen. Ich zwang mich, aus dem Fenster zu sehen, mich auf Häuser und Passanten zu konzentrieren, an denen wir vorbeifuhren. Im Parkverbot vor einem schäbigen alten Kasten war Endstation. Es ging vier quietschende Treppen hoch, muffige Luft. Dann durch eine schwere Tür ins kalte Licht eines Vorzimmers, in dem eine Deutschlandfahne und ein Foto des Bundespräsidenten hingen. Ein Ventilator schuftete. »Er wäre dann da«, sagte einer der beiden Polizisten zu einem Mann mit Ärmelschonern. »Soll warten!« Man wies mich in einen fensterlosen Raum, die Tür wurde hinter mir abgeschlossen. Waschbecken, grauer Metallschrank, eine Liege. Ein Arztkittel, über einen Drehstuhl geworfen. Auf einem Tisch ein Stethoskop und ein Blutdruckmessgerät. Skalpell, Betäubungsmaske und Verbandsmaterial waren nicht zu sehen, dennoch schlug mein Herz Alarm. Die alte Angst war wieder da. Im Krankenzimmer roch es nach überreifem Obst, Bohnensuppe, die es zu Mittag gegeben hatte, und dem Eau de Cologne von Müttern und Omas. »Wir wollen niemals auseinander gehn«, sang meine Mutter jetzt schon zum zweiten Mal, das war wohl ihr neuer Lieblingsschlager. »Da dürfen wir aber nicht mehr soviel Kuchen essen wie neulich auf deiner Geburtstagsfeier«, sagte ihr neuer Freund. Weit offenes Hemd, Haare auf der Brust bis unters Kinn. Meine Mutter und ihr Neuer lachten, obwohl ich hohes Fieber hatte und Nachblutungen. An meinem dritten Schultag hatte ich beim Turnen einen stechenden Schmerz gespürt, der nicht aufhören wollte. Ich fing an zu weinen. Herr Freitag, der Sportlehrer, sagte, ich solle mich nicht anstellen wie ein Mädchen, doch als die Stunde vorbei war, verstaute er mich im Beiwagen seines Motorrads und fuhr mit mir los. Die anderen sahen mir neidisch nach, aber richtig genießen konnte ich das nicht. Der Arzt wusste nach kurzem Abtasten Bescheid. Akuter Leistenbruch, musste sofort operiert werden. »Am vierzehnten Mai fünfundvierzig, heute vor fuffzehn Jahren,...