E-Book, Deutsch, 132 Seiten
Reihe: Picus Lesereisen
Sotscheck Lesereise Irland
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7117-5324-3
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grüner Fels in wilden Zeiten
E-Book, Deutsch, 132 Seiten
Reihe: Picus Lesereisen
ISBN: 978-3-7117-5324-3
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwischen alten Traditionen und katholischer Kirche, zwischen Geistern aus Spukschlössern und den Geistern aus vergangenen Konflikten beschreibt Ralf Sotscheck ein Land, dessen Bewohner mit viel historischem Ballast leben müssen, darüber aber das Feiern nicht vergessen. In Irland werden Heiratsfestivals abgehalten, und der Croagh Patrick hat als wichtiger heiliger Berg für Pilger immer noch jedes Jahr im Juli Hochsaison. Ralf Sotscheck erzählt kundig und pointiert vom schwarzen Gold der Iren, dem Guinness, vom irischen Wetter, von Veteranen und Friedhofsgärtnern, von Schlossführern und Eremiten, von ungeliebten Delfinen und einem "Stammesweisen".
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Als wäre man ein Muezzin
Hinter der Eingangstür ist kein Weiterkommen. Die Menschen stehen dichtgedrängt am Tresen, nur die Musiker haben Anrecht auf einen Sitzplatz am einzigen Tisch gleich neben dem Eingang. Die beiden fiddler, der Gitarrist, die Blechflötistin und der Dudelsackspieler kämpfen gegen Stimmengewirr und Gläserklirren an – O’Donoghue’s am Wochenende. Der Pub in der Dubliner Baggot Street gilt als »Wiege des Balladen-Booms und Brutstätte der singing pubs«, wie es in einem Reiseführer heißt. Declan Barden ist der Einzige, der in dem Chaos den Überblick behält. Zwar glänzt seine Halbglatze vor Schweiß, doch das weiße Hemd und die Krawatte sitzen tadellos. Barden, der Besitzer, steht auf einer Trittleiter hinter dem Tresen wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke. Von der obersten Stufe aus nimmt er die Bestellungen der hinten stehenden Gäste entgegen, die es nicht schaffen, sich bis zum Tresen durchzukämpfen. Das Stammpublikum hat eine Zeichensprache entwickelt, mit der man auch beim größten Lärm seine Bestellung aufgeben kann. »Ein Finger heißt ein Pint Guinness«, erklärt Ian, ewig schon Stammgast. »Zwei Finger heißen zwei Guinness, beide Zeigefinger bedeuten ein Guinness und ein Smithwick’s.« Und ein Gin and Tonic? »Da hilft nur Brüllen«, sagt Ian und schüttelt lachend seine dichten braunen Locken. Er arbeitet gleich um die Ecke, und nach Feierabend schaut er meist auf ein Pint herein – jene 0,56 Liter, in denen das Bier gemessen wird. Manchmal bleibt er bis zur Sperrstunde um halb zwölf, sonntags und im Winter wird schon um elf geschlossen. »Das Dekor hat sich in all den Jahren kaum verändert«, erzählt er. »Nur auf der Platte, die vor der Eingangstür in den Fußboden eingelassen ist, stand früher ›O’Higgins Outfitters‹ in schöner, alter Schrift. Der vorige Besitzer, Dessie Hynes, ließ das herausreißen und seinen eigenen Namen als Mosaik einsetzen. Was kann man von einem Landei aus Longford schon anderes erwarten.« Plötzlich stimmt einer der Musiker »The Town I Loved So Well« an, ein melancholisches, politisches Lied über Derry in Nordirland. Im Nu kehrt Ruhe ein. Wer spricht, wird von den Umstehenden mit einem energischen »Psst« zum Schweigen gebracht. Selbst im lautesten Pub wird einem Sänger diese Höflichkeit entgegengebracht – wohl deshalb, weil er es schwerer als die Instrumentalmusiker hat, sich gegen den Lärm durchzusetzen. O’Donoghue’s gehört bei den Anhängern irischer Volksmusik zu den bekanntesten Dubliner Wirtshäusern. Hier hat man den US-Senator Robert Kennedy zu einem Lied überredet, und hier haben sich die »Dubliners« kennengelernt und zum ersten Mal zusammen gesungen. In der Ecke hinter dem Musikantentisch hängen die gerahmten Porträtzeichnungen der bärtigen Bandmitglieder. An der gegenüberliegenden Wand klebt das Werbeplakat ihrer Deutschlandtournee im November 1976. »The Dubliners, Irlands berühmteste Folkgruppe«, steht da auf Deutsch. Die Rundreise führte die Band damals nach Münster, Köln, Kiel, Hannover, Berlin und in dreizehn weitere deutsche Städte. Die »Dubliners«, von denen keins der Gründungsmitglieder noch am Leben ist, sind im Ausland auch heute noch das Aushängeschild der irischen Musik und tingeln nach wie vor um den Globus. Sie erwecken mit ihren rauen Trinkliedern und rebel songs den Eindruck, als seien sie die authentischen Vertreter einer kontinuierlichen Tradition. Irland verfügt zwar über die lebendigste Musiktradition Europas, doch von einer ungebrochenen Entwicklung kann keine Rede sein: Mitte des 20. Jahrhunderts war die traditionelle Musik in Irland fast ausgestorben. Die Dubliner Regierung hatte sie fast zu Tode geschützt: Hatten die englischen Besatzer die irischen Traditionen, die ihnen als Ausdruck eines Nationalbewusstseins suspekt waren und gefährlich erschienen, über Jahrhunderte unterdrückt, so machte sich der neue irische Freistaat nach seiner Gründung 1922 sogleich daran, die überlieferten Sitten und Bräuche zu pflegen – aber auf bürokratische Art und Weise. Die Regierung legte fest, welche Tänze, Lieder und Gesangsstile »unirisch« waren, und verbot sie kurzerhand. Genauso waren Instrumente wie Klavier, Schlagzeug und Banjo verpönt, weil sie das »Reinheitsgebot« der Regierung nicht erfüllten. Noch 1980 schrieb der Musikexperte Padraig O’Dufaigh in der Zeitschrift Treoir: »Nicht jedes Instrument passt zur irischen Musik. Geige, Blechflöte, Dudelsack, Querflöte und Akkordeon eignen sich am besten für echte irische Musik. Wir müssen einschreiten, wenn wir nicht wollen, dass die große Flut von außen, die unsere Heime überschwemmt, unsere Musik ertränkt.« Der Dudelsack gilt als typisch schottisches und irisches Instrument. Tatsächlich gibt es jedoch siebzig verschiedene Arten aus aller Welt. »Der Vorteil gegenüber dem schottischen Dudelsack liegt darin«, sagte der aus einer Familie von Fahrenden stammende berühmte piper Finbar Furey einmal, »dass man beim Spielen des irischen Dudelsacks Bier trinken kann.« Die Zeiten, als die Furey-Brüder bei Sessions – oder seisiúns, wie das mehr oder weniger spontane Musizieren im Irischen heißt – im Pub auftraten, sind vorbei. Heute füllen sie Konzertsäle. Es gibt aber eine ganze Reihe Nachwuchs-Piper, die, wenn man Glück hat, bei einer solchen Session auftauchen. Schon mit ihrer Lautstärke dominieren sie das Geschehen. Einundzwanzig Jahre dauert es, so sagt man, bis ein Musikant den Dudelsack beherrscht: sieben Jahre lernen, sieben Jahre üben, sieben Jahre vervollkommnen. Die besten Musiker Nordirlands – und dazu gehören zahlreiche piper – spielen im Crosskeys Inn, dem schönsten Pub der Grünen Insel. Er ist nicht leicht zu finden, obwohl es an der Straße von Portglenone nach Randalstown inzwischen ein kleines Hinweisschild gibt. Wie alt die Kneipe ist, weiß niemand genau. Es könnten gut zweihundertfünfzig Jahre sein, wie eine Untersuchung des strohgedeckten Daches ergeben hat. Früher führte die Hauptstraße von Belfast nach Derry am Pub vorbei. Dort, wo heute der Parkplatz ist, wechselte die Postkutsche die Pferde. Die gekreuzten Schlüssel sind Teil des Wappens von St. Patrick, dem Schutzpatron Irlands. Patrick war auch der Heilige des alten Ordens der Hibernier, der regelmäßig im Crosskeys Inn tagte. Damals gab es in dem Laden auch Lebensmittel sowie ein Postamt. Davon künden uralte Rechnungen im Schankraum. Am Nachmittag, wenn der Pub noch recht leer ist, wirkt er wie ein Museum: An der Decke hängen unter anderem ein hölzerner Zigarettenautomat, eine Gasmaske aus dem Ersten Weltkrieg, eine Muskete; im Flur gibt ein hundertfünfzig Jahre altes Plakat Ratschläge, wie man die Kartoffelpest besiegen kann, verblasste Reklametafeln werben für längst vergessene Genüsse. Doch abends, wenn sich der Pub füllt, ist von Museumsatmosphäre keine Rede mehr. Dann legen die Musiker im big room los. Touristen und Einheimische drängeln sich an den kleinen Tischen im Kerzenschein und bugsieren Tabletts voller Guinness oder Bushmills durch die Menge. Der Whiskey – in Irland schreibt man ihn im Gegensatz zu Schottland mit »e« – stammt aus der ältesten Brennerei der Welt an der Nordküste Irlands. Älter als Bushmills ist die Tradition der Schwarzbrennereien in den versteckten Stichtälern Nordirlands. An der Wand im Crosskeys Inn hängt ein Bleistiftporträt von Mickey McIlhatton, dem legendären Schwarzbrenner, der in den glens von Antrim hochwertigen, aber illegalen poteen – einen farblosen, starken Kartoffelschnaps – hergestellt hat. Der IRA-Mann Bobby Sands, der 1981 im Hungerstreik starb und kurz vor seinem Tod zum Unterhaus-Abgeordneten gewählt wurde, hat im Gefängnis ein Lied über den »King of the Glens« geschrieben. Christy Moore, Irlands Folksänger Nummer eins, hat den Song aufgenommen: »Im Glenravels-Glen, da lebt ein Mann, den manche als Gott bezeichnen würden; denn er heilt ihr Zittern, und eine Flasche von seinem Zeug kostet dich gerade mal dreißig Kröten: McIlhatton, bitte schön.« Wenn sich die Musikanten die Seele aus dem Leib...