Sonnemann Negative Anthropologie. Schriften 3
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-86674-358-8
Verlag: zu Klampen Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Spontaneität und Verfügung. Sabotage des Schicksals
E-Book, Deutsch, 590 Seiten
ISBN: 978-3-86674-358-8
Verlag: zu Klampen Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrich Sonnemann, geboren 1912 in Berlin, studierte Philosophie, Sozialwissenschaften und Psychologie und promovierte 1934 in Basel. Er emigrierte in die Vereinigten Staaten, lehrte als Professor für Psychologie in New York. 1955 kehrte er nach Deutschland zurück und lebte bis 1969 als freier Schriftsteller in München. In dieser Zeit schrieb er u. a. Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, das ein Jahr lang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, und sein philosophisches Hauptwerk, die Negative Anthropologie. Von 1969 bis 1974 war er Dozent an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film, danach Professor für Sozialphilosophie an der Gesamthochschule Kassel. Er starb 1993.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Die Aktualität der ›Negativen Anthropologie‹
Aus zwei Kasseler Hochschulseminaren (1987/88)
»Gegen viele Bitten und Anregungen, die immer wieder kamen«, habe er, teilte Sonnemanns zu Anfang mit, »seit Beginn meiner Kasseler Tätigkeit, 1974, gezögert, mein eigenes– erstes– philosophisches Hauptwerk zum Gegenstand einer Lehrveranstaltung zu machen. So etwas setzt sich unvermeidlich auch Mißverständnissen aus, und es ist ja auch ein sehr schwieriges Buch. Ich tue es jetzt, weil der letzte solche Vorschlag mit dem der Assistenz dabei und auch der dazugehörigen Qualifikation verbunden war« (Ulrich Sonnemann richtete beide Seminare in Zusammenarbeit mit Christoph Tholen aus). »Was dem Vorschlag zusätzlich das Wort redete, war und ist, daß manche der Positionen der ›Negativen Anthropologie‹, die 1969 und 1981«, bei ihrem ersten und zweiten Erscheinen, »noch etwas Fernes, Esoterisches zu haben schienen, inzwischen so akut, ja auf so brennende Weise virulent geworden sind, wie die zeitgeschichtliche Situation demonstriert.«
Einführung1
Die These, daß ein angemessener Begriff vom Menschlichen sich nur als Negation des menschlich Faktischen, Gegebenen, erschließt, aus der Abwesenheit und Verleugnung von Menschlichkeit, erfährt jetzt täglich weit drastischere Bestätigungen als ich wahrscheinlich selbst damals zu befürchten schon pessimistisch genug war. Das muß auch nicht falsch gewesen sein, denn es handelt sich nicht um Pessimismus oder Optimismus. Es handelt sich um das Problem richtiger Praxis und ihres Verhältnisses zu ihrer eigenen Spur, die Geschichte ist und die merkwürdige Tendenz hat, sich selbst zu verdecken: als Sediment, Ablagerung ihrer Bewegung das Bewegende an dieser selbst so aus dem Blick zu bringen, daß jeweils das, was uns zu eigener neuer Praxis unserer Situation bewegen möchte, einer bewußten Anstrengung bedarf, um seine eigene Einbettung in die Kontinuität dieser Bewegung und umgekehrt deren Angewiesenheit wiederum auf sie, unsere eigene Praxis, erkennen zu können; zunächst scheint das, was in der Welt geschieht, ja nur unendlich weit, nur seinem eigenen quasi-naturhaften Gesetz folgend, von ihr entfernt. Und damit und zugleich, mit betonterer thematischer Direktheit, ist das Buch ein Angriff auf jede positive Anthropologie, weil keine imstande ist, das Erkenntnisverhalten ihres Urhebers, das ja klar zu seinem eigenen Thema gehört, in ihre Rechenschaft über einzubeziehen. Terminologisch ist hier nur zu klären, daß die gemeinten Anthropologien die philosophischen sind, sowohl die, die sich ausdrücklich so nennen und die implizite Tendenz haben, die Geschichtlichkeit des menschlichen Wesens zu verleugnen, als auch solche, die sie nicht verleugnen, sie aber unzulänglich, nämlich eben ohne Berücksichtigung ihrer eigenen Rolle im Prozeß ihres Gegenstands theoretisiert haben, wie der Marxismus. Dagegen gilt diese kritische Stoßrichtung nicht notwendig Wissenschaftskomplexen, die sich ja auch Anthropologien nennen, aber tatsächlich mehr sind, wie sie die Ethnologie in ihrer beschreibenden Art produziert, jedenfalls dort, wo die Theorieansätze so vorsichtig sind wie sie es nach Einsicht vor allem George Devereux’ heute sein sollten.2
Die ›positiven Wissenschaftsdoktrinen vom Menschen‹3
These 1.Exemplarisch für alle positive Anthropologie sind die betrachteten Lehren Marxens, Freuds und des Schweizer Analytikers Binswanger auf Gesetze aus, insofern folgen sie der Tradition von Wissenschaft als Gegenstandswissenschaft, genauer, als deren theoretischer Teil, der sich dem jeweils empirischen, der die Bestandsaufnahme von Daten ist, nachordnet. Aufgabe von Theorie in diesem Verständnis ist es, einen für die Daten geltenden ihnen gemeinsamen Sachverhalt abzuspiegeln. Das ist dann das Gesetz. Die Nachordnung selbst gilt für die Selbstdarstellung des Verfahrens, insofern diese das Postulat einer Wissenschaftslogik erfüllen muß, die prinzipiell daran festhält, daß sich Theorie nur aus Erfahrung als deren in ihr selbst aufzufindende Ordnung ergeben könne; in Wahrheit ist zweifelhaft, ob nicht umgekehrt ein jeweiliger theoretischer Vorgriff bereits die Auswahl und auch qualitative Bestimmung der Daten steuert, also die Wirklichkeit des Verfahrens und seine Selbstdarstellung qua präsentiertes System auseinanderklaffen.
Weiterungen9
Negative Anthropologie kann kein Rezept des Handelns und Verhaltens liefern, unmißverständlich aber zielt sie darauf ab, den Platz, zunächst im jeweils persönlichen Leben, dann in der Gesellschaft für eine mögliche produktive, eingreifende, die Situation selber verändern könnende Praxis so freizuräumen wie angesichts einer Weltsituation aus ständig anwachsenden Ungereimtheiten, Zerstörungen, Gewalteskalationen, dieser immer deutlicheren Vorkriegszeit sich allerdings entschieden empfiehlt, und dafür ist eben alles, was in irgendeinem Sinne Vorstellungen weiterschleppt von einer bestimmten Ordnung, Gesetzmäßigkeit, Zielbestimmtheit, auf die noch nicht geschehene Geschichte, anfangend mit der je eigenen Lebensgeschichte, bereits festgelegt sei, bloß ein hinderlicher, störender Ballast, noch insofern solche positiven Anthropologien einen orientierenden Dienst leisten, und sie tun das, kann Ziel des Dienstes nur die eigene Aufhebung, Brechung, Entkräftung sein: ihre bestimmte Negation in einem mit der des schlechten Zustands, auf den sie der Versuch einer Antwort sind. Dieses Ziel kann, als Ereignis, mögliche Geschichte, die ja keine wäre, ließe sie sich intratheoretisch vorwegnehmen, auch nicht innerhalb Negativer Anthropologie qua Theorie liegen, da sie aber auch ihre eigene Geschichte nicht vorwegnehmen kann, präjudiziert sie auch keine Möglichkeit ihres eigenen Übergehens in Praxis; als Kritik, Arbeit des Wegräumens, Aufklärung, ist sie im Gegenteil immer schon selbst Praxis, mindestens deren Beginn.
Schließlich: die Sprache16
Eine sehr einschneidende theoretische und didaktische Rolle spielt im Aufbau der ›Negativen Anthropologie‹ das Kapitel ›Geschichtskritische Anwendung. Konvergenz des Mechanismus- und des Ideologiebegriffs‹, es handelt sich ja um Zentralbegriffe einerseits der Marxschen Gesellschaftskritik, Ökonomie-Kritik, anderseits der Psychoanalyse. Zuvor hat das Buch begründet, warum diese beiden Theoriewelten sich nicht einfach zusammenfügen lassen, sondern eher, was in der Geschichte ihres Verhältnisses sich ja sehr reichlich gezeigt hat, sich widersprechen, das heißt aber gerade, daß dieses Verhältnis in dem Sinn produktiv sein kann, daß sie einander ins Wort fallen, die gegenseitigen kritischen Regulative sind, anders gesagt, einander daran können, zu selbstherrlichen Totaltheorien zu verkommen, die in der Konsequenz ihres Glaubensgestus ihren eigenen Gegenstand, zunächst das Problem ihres eigenen prozessualen Verhältnisses zu ihm, ausgrenzen. Aber dieses Regulationsverhältnis wäre selber nicht möglich, wenn sie in entscheidenden Momenten nicht doch miteinander koinzidieren könnten, daher ist es für dieses Verhältnis wichtig, daß ein Mechanismus wie etwa die Freudsche Verschiebung sich auf ideative Inhalte fixiert, die unzweideutig falsches Bewußtsein sind, Ideologie sind, und daß es umgekehrt unter gesellschaftskritischem Aspekt keine Ideologiebildungen gibt, die in sich selbst, ihrem Quasi-Theoretischen, aufgehen, nicht einen psychischen Gesamtprozeß involvieren, an dem immer schon das Unbewußte mit Mechanismen in Freuds Sinne beteiligt ist. Diese von Ideologie und Mechanismus zeigt sich in dem einen Element, in dem sie beide gar nicht umhin können, aufs untrüglichste zu erscheinen: der . Grob gesprochen führt sie in ihr immer zu einer Unbeweglichkeit, an der ein Widerspruch sich erkennen läßt zwischen ihrer syntaktischen Mobilität, die dabei zu kurz kommt, und dem, was sie zu kurz kommen läßt und in der Regel eine Tendenz zu sich verselbständigenden substantivischen Abstracta ist, die sich als überwertige Fetischbildungen selbst an die Stelle der wirklichen schieben, die sie doch bloß repräsentieren sollen. Unter dem Kriterium Negativer Anthropologie ist damit das Gesamtproblem dieses Verhältnisses des Menschen zum Menschlichsten eröffnet, eben der Sprache. Während es über das Buch weit hinausführt, führt, was darüber hinausführt, dessen Projekt Negativer Anthropologie selber weiter, darum werden wir uns in den letzten Sitzungen mit Texten befassen, die nicht in...