Eine Baronin missioniert Europa
Buch, Deutsch, 400 Seiten, GB, Format (B × H): 133 mm x 203 mm, Gewicht: 456 g
ISBN: 978-3-96362-416-2
Verlag: Francke-Buch GmbH
Die hochgebildete, deutschbaltische Botschaftergattin Juliane von Krüdener (1764-1824) versetzte mit ihrem missionarischen Wirken halb Europa in Aufruhr: Durch ihre Botschaft, ihren Einfluss auf die europäische Politik als Vertraute von Zar Alexander I. sowie als Sozial-reformerin von West- bis Osteuropa.
Tauchen Sie ein in die Zeit der französischen Revolution. Entdecken Sie die vergessene Ge-schichte einer einflussreichen Schriftstellerin und Salondame, die die vorherrschenden Schranken durchbrach und im Auftrag Gottes mutige Wege beschritt.
Anhand neuster Forschungsergebnisse dokumentiert diese Biografie das Leben einer faszi-nierenden Zeitgenossin von Napoleon, Goethe und Pestalozzi, die durch einen Herrnhuter zum Glauben kam, und gibt ihr 250 Jahre nach ihrer Geburt ihren Platz in der Geschichte zurück.
Zielgruppe
Biografieleser, die sich für Geschichte, Mission & Literatur interessieren
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Kindheit & Jugend
einer Baronesse
1764-1782
'Die Einsamkeit der Meere, ihre ungeheure Stille oder ihr stürmisches Treiben, der unsichere Flug des Eisvogels, der melancholische Schrei des Vogels, der unsere erstarrten Gegenden liebt, die traurige und milde Klarheit unserer Nordlichter, all dies nährte die verschwommenen und bezaubernden Unruhen meiner Jugend'.2
Juliane von Krüdener in ihrem Roman Valérie
Geburt einer Baronesse
Während man im Westen gemäß neuer Zeitrechnung den 22. November 1764 schrieb, fiel der geschichtsträchtige Tag in Riga auf einen 11. November. Die Nachricht von der Geburt der kleinen Baronesse verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der livländischen Metropole und machte die klirrende Kälte des Novembertags erträglicher. Dabei war es weniger das neugeborene Mädchen, das der Ankündigung Gewicht verlieh, sondern vielmehr die Prominenz der Familie, in die es hineingeboren wurde. Das Volk fieberte nach Neuigkeiten aus dem Adelspalais der Familie von Vietinghoff. Baron Otto Hermann, der Vater der kleinen Baronesse, galt als einer der reichsten Männer Russlands und wurde in den Gassen von Riga und den Weiten der angrenzenden Provinzen ehrfürchtig König von Riga und Halbkönig von Livland genannt. Livland gehörte neben Estland und Kurland zu den drei russischen Ostseeprovinzen, aus denen sich später die heutigen Staaten Estland und Lettland bildeten. Riga, die stolze Hansestadt, das Herzstück des historischen Livlands, wurde somit zur Wiege der neugeborenen Baronesse. Eine Stadt der Kontraste, die eine Vielzahl von Kulturen, Konfessionen und Gesellschaftsschichten in sich vereinte, aber auch Extreme wie Reichtum und Armut. Gewissermaßen symbolisch für die Zukunft der neugeborenen Baronesse, deren Leben eine ähnlich faszinierende Verschmelzung unterschiedlichster Elemente und Kontraste werden sollte.
Nicht weniger als drei Edeldamen und ebenso viele Edelmänner standen wenige Tage später in der imposanten Domkirche zu Riga Pate, als die kleine Baronesse am 29. November im Rahmen einer würdevollen Feier auf das evangelisch-lutherische Bekenntnis getauft wurde. Einer ihrer Paten war kein Geringerer als der amtierende Gouverneur von Livland.
Die beiden deutschen Vornamen Barbara Juliana erhielt das kleine Mädchen zu Ehren zweier berühmter Frauen des mütterlichen Familienzweigs. Barbara wurde sie aus Wertschätzung zu Barbara Eleonora Gräfin Saltikowa (1691-1774) genannt, der zweiten Frau ihres weltberühmten Urgroßvaters Graf von Münnich. Juliana hieß sie nach ihrer Patin und Großtante Juliana von Mengden (1719-1786), die als Hofdame freiwillig die Verbannung der russischen Zarin Anna Leopoldowna geteilt hatte. Die schöne und zufriedene Juliana von Mengden hinterließ einen prägenden Eindruck auf die kleine Baronesse. 'Manchmal gingen wir aufs Land, wo die Luft noch von den alten Sitten erfüllt war'3, erinnerte sich Barbara Juliana in späteren Jahren an die Besuche bei ihrer Urgroßmutter Barbara und ihrer Großtante Juliana. Letztere war trotz des Lebens am Zarenhof von bescheidener Einfachheit geblieben. Als Kind beobachtete die kleine Baronesse wiederholt voller Bewunderung, wie ihre Großtante frühmorgens aufstand, um mit einigen Bäuerinnen zu spinnen. Dazu sangen sie religiöse Lieder. Möglicherweise war die besondere Verbindung zur Großtante ausschlaggebend dafür, dass Juliana bzw. Juliane zum gängigen Rufnamen der kleinen Baronesse wurde.
Deutschbaltisches Erbe
Dass Barbara Juliane trotz russischer Staatszugehörigkeit zwei deutsche Vornamen erhielt, hing mit ihrer deutschbaltischen Herkunft zusammen. Auch wenn sie in ihrer Unbekümmertheit noch nicht ahnte, wie sehr jene Abstammung ihr Leben bestimmen würde, war dieser Eckpfeiler unverrückbar gesetzt und durchdrang schon wenige Jahre später die kindliche Realität. 'Ich kann nicht genau sagen, zu welcher Nation ich gehöre'4, beschrieb Juliane später als junge Frau ihr deutschbaltisches Dilemma.
Deutschbaltisch zu sein, war in der Tat etwas Besonderes. Die Bewohner des Baltikums bildeten gewissermaßen eine lebende Brücke zwischen West- und Osteuropa. Das Resultat war eine einzigartige Verbindung westlicher und östlicher Eigenheiten; ein Gemisch von nordischen, slawischen, deutschen und französischen Einflüssen. Obwohl die baltischen Ostseeprovinzen zu Julianes Lebzeiten unter russischer Herrschaft standen, war die russische Nationalität ihrer Bewohner keineswegs auf den ersten Blick auszumachen, zumal die russische Sprache lediglich eine Nebenrolle spielte. Die Oberschicht unterhielt sich vorwiegend auf Deutsch und Französisch. Letzteres wurde in den baltischen Ostseeprovinzen – wie vielerorts im damaligen Europa – als Sprache der gehobenen Gesellschaft bevorzugt. Die deutsche Sprache hingegen war Teil der Geschichte und gehörte daher genauso zum Baltikum wie die vielen Deutschbalten.
Mehr als 550 Jahre zuvor war Riga nämlich von einem deutschen Bischof gegründet worden. Im Laufe mehrerer Jahrhunderte hatten deutsche Ordensritter, darunter auch Vorfahren von Julianes Vater, das Gebiet nach und nach erobert. Später verwalteten und gestalteten sie im Auftrag wechselnder Herrscher – dänischer, polnischer, schwedischer und seit 1710 russischer Machthaber – Gebiete im heutigen Estland und Lettland. Dabei agierten sie gemäß deutschem Recht und mit deutscher Amtssprache. So bestimmten die Deutschbalten über Jahrhunderte hinweg die Geschicke der baltischen Ostseeprovinzen. Sie übten großen Einfluss auf die dortige Kultur, Tradition, Religion und Sprache aus. Obwohl mit dem deutschen Kulturgebiet verbunden, blieben die Deutschbalten jedoch unabhängig und dienten meistens dem Russischen Reich. Die Familiengeschichte der kleinen Baronesse liefert den besten Beweis dafür. Sowohl Julianes Urgroßvater und Großvater mütterlicherseits als auch ihr Vater, ihre Brüder sowie viele weitere Verwandte und Freunde standen in russischen Diensten.
Trotz aller Bemühungen, sich zu integrieren, wurden die Deutschbalten von den Einheimischen als Ausländer und Fremde wahrgenommen. Sie waren russische Staatsangehörige und doch keine Russen. Sie waren deutschen Ursprungs und doch keine Deutschen. Dies führte vielfach zu einem Grundgefühl der Heimatlosigkeit. Auch Juliane sollte dieses Gefühl kennenlernen. Später entdeckte sie allerdings in Frankreich und der Schweiz – den beiden Ländern, zu denen sie sich am stärksten hingezogen fühlte – dass es auch Vorteile hatte, als Fremde angesehen zu werden, als nördliches Wunder voller 'asiatischem Charme'5. Schließlich bildete genau jene Verschmelzung verschiedener Kulturen ein nicht zu unterschätzendes Element für ihren späteren schriftstellerischen Erfolg. Es machte sie interessant und geheimnisvoll.
Deutschbaltisch zu sein hieß also einerseits, nirgends richtig dazuzugehören, andererseits bot es die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Kulturen zu wählen. Juliane entschied sich als junge Frau für die französische Kultur und Sprache, denen sich die ganze europäische Gesellschaft untergeordnet hatte. Diese wurden für sie zur Mutterkultur und Muttersprache, Frankreich zur 'Heimat ihres Herzens'6. Aufgrund ihrer Liebe zu Frankreich bevorzugte sie später den Rufnamen Julie, die französische Variante ihres zweiten Vornamens.
Tempelrittervorfahren väterlicherseits
Julies Stammbaum väterlicherseits mit seiner ruhmvollen Vergangenheit kann bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Das Adelsgeschlecht von Vietinghoff ist untrennbar mit der deutschbaltischen Geschichte verflochten. Im 14. und 15. Jahrhundert gingen Arnold und Conrad von Vietinghoff als Landmeister, also als oberste Führer des Schwertbrüderordens, in die Geschichte ein. Dieser geistliche Ritterorden war im Jahr 1202 nach dem Vorbild der Tempelritter gegründet worden und hatte die Missionierung Livlands zum Ziel. Riga entwickelte sich in der Folge zur Hauptstadt der Schwertbrüder. Die Bedeutsamkeit der väterlichen Ahnengalerie war Julie von Kind auf vertraut und sie war stolz darauf. Zugleich stand die Templervergangenheit wie ein Mahnmal über ihrem Leben:
Aber während mich einerseits der Ruhm für das Großartige der Welt mitriss durch die Macht, welche ihr verführerischer Glanz auf mein Herz ausübte, so mäßigte andererseits das auf meinem Schreibtisch aufgestellte Kreuz der Ahnen meines Vaters, der Nachkommen der Tempelritter, diese Glut. Dieser souveräne Orden, welcher lange Zeit über Preußen und Livland, die Gegend, wo ich geboren wurde, regierte, lehrte mich, den Prunk und die Größe gering zu schätzen und bereitete mein Herz auf diese Siege vor, die noch größer sind als jene, durch welche Kaiserreiche unterworfen werden.7
Im 16. Jahrhundert war das Adelsgeschlecht von Vietinghoff mit beeindruckendem Besitz über ganz Alt-Livland verteilt und durch zahlreiche Eheschließungen mit den alten Geschlechtern des Landes verbunden.
Unter Julies Vater erreichte der Familienzweig von Vietinghoff mit dem Beinamen Scheel einen neuen Höhepunkt. Otto Hermann Baron von Vietinghoff (1722-1792) hatte eine äußerst erfolgreiche Karriere als Offizier der russischen Armee durchlaufen. Nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst wurde er livländischer Regierungsrat im Rang eines russischen Staatssekretärs. Daneben war er stolzer Besitzer von über 30 Ländereien und Schlössern auf dem Boden der heutigen Staaten Estland und Lettland. Dazu gehörten Schloss Marienburg, Schloss Lubahn, Schloss Alt-Schwanenburg sowie die Rittergüter Kosse, Kroppenhof und das Gut Groß-Jungfernhof. Als tüchtiger Geschäftsmann betrieb er auf einigen seiner Ländereien ein florierendes Gewerbe mit Branntweinbrennereien, Ledergerbereien und Leinenwebereien. Wie viele einflussreiche Geistesgrößen seiner Zeit war er Mitglied einer Freimaurerloge. 'Mein Vater liebte die Großartigkeit, die sich durch den Luxus der Gedanken verschönert'8, eröffnete Julie und ergänzte: 'Seine Vorliebe für Gebäude eines imposanten Baustils ließen ihn große Bauwerke in Riga errichten und wir bewohnten eines dieser Anwesen.' Auch ein Palais in Sankt Petersburg gehörte zum Familienbesitz. Otto Hermann von Vietinghoffs Stellung, sein Reichtum und seine Bildung ermöglichten ihm maßgeblichen Einfluss auf das gesellschaftliche und künstlerische Leben der baltischen Metropole Riga. Er galt im Volk als Ludwig XIV. von Riga und gehörte zu den markantesten Persönlichkeiten der baltischen Provinzen im 18. Jahrhundert.
Heldenhafte Ahnen mütterlicherseits
Der Stammbaum mütterlicherseits lässt sich zwar nicht ganz so weit zurückverfolgen, ist aber nicht weniger ruhmreich. Julies Mutter war die Enkelin des in ganz Europa berühmten Burchard Christoph Graf von Münnich (1683-1767). Der Oldenburger ging als brillanter Ingenieur, Architekt, russischer Generalfeldmarschall, Premierminister und Krim-Eroberer in die Weltgeschichte ein. Seine steile Karriere im Dienste russischer Zarinnen und Zaren begann 1721 unter Peter dem Großen. Letzterer bezeichnete ihn öffentlich als seinen fähigsten Mitarbeiter. Der hochgebildete von Münnich sprach mehrere Sprachen fließend und korrespondierte unter anderem mit Friedrich II. und Voltaire. Zu Graf von Münnichs Glanzleistungen gehörte der Bau des Ladogakanals. Dieser längste Schiffskanal jener Zeit verbesserte den Wasserweg von der Wolga zur Ostsee und erleichterte die Versorgung des 1703 gegründeten Sankt Petersburg. Auch der Hafen von Kronstadt und die Festungsanlagen von Riga entstanden unter von Münnichs fachmännischer Leitung. Als Generalfeldmarschall und Präsident des Kriegskollegiums reorganisierte er unter Zarin Anna I. die russische Armee und eroberte im Russisch-Österreichischen Türkenkrieg 1736 die Krim.
Kurzzeitig als Premierminister im Amt, brachte ein Staatsstreich im Dezember 1741 das Todesurteil für Burchard Christoph mit sich. Auf dem Schafott erfolgte überraschend die Begnadigung. Anstelle der Todesstrafe kam es zur Güterenteignung und zur Verbannung. So lebte Julies Urgroßvater für die nächsten 20 Jahre im sibirischen Dorf Pelim, bis er 1762 unter Peter III. nach Sankt Petersburg zurückkehren und seinen alten Posten als Generalfeldmarschall wieder einnehmen durfte. Noch im selben Jahr ernannte ihn Katharina II. zum Generaldirektor der baltischen Häfen und Kanäle. Die Zarin würdigte ihn mit den Worten: 'Obgleich Münnich kein Sohn war, so war er doch ein Vater des Russischen Reiches.'9
Burchard Christoph von Münnich starb, als seine Urenkelin Julie drei Jahre alt war: 'Ich erinnere mich ganz genau', so Julie, 'dass ich – als ich kaum gehen konnte – in Trauerkleidung gehüllt zu meinen Eltern gebracht wurde: Der Marschall war gerade in Petersburg gestorben (.) Meine Mutter, die er leidenschaftlich geliebt hatte, weinte bittere Tränen um ihn.'10 Obwohl Julie bei seinem Tod noch klein war, blieb ihr Urgroßvater eine der prägendsten Gestalten ihres Lebens. Sie erkannte seine Charaktereigenschaften in sich selbst wieder.
Von Geburt an umgeben mit allem Ansehen und allen Gefahren, welche der Macht anhaften, sah ich meine Jugendzeit umweht von ruhmreichen Fahnen, und der Marschall von Münnich, welcher das Osmanische Reich zweimal durch seine Armee unterworfen sah und mit einem so edlen Charakter versehen war, übertrug seiner Enkelin [Ur-Enkelin, D.S.] gewissermaßen wie einer jungen Tigerin diesen ritterlichen Geist und diesen edlen Enthusiasmus, welche ihn kennzeichneten.11
Der Generalfeldmarschall prägte Julies Mutter und deren Nachkommen auch in religiöser Hinsicht. Graf von Münnich hatte als junger Mann in französischer Kriegsgefangenschaft Erzbischof Fénelon kennengelernt, der ihn stark beeinflusste. Seit seinem Eintritt in russische Dienste im Jahr 1721 war Münnich ein aktives Mitglied der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Im Jahr 1728 war er Architekt, Bauherr und Patron der St. Petri Kirche in Sankt Petersburg. Die Aufzeichnungen eines befreundeten Pastors bieten interessante Einblicke in das 20-jährige Exil des Generalfeldmarschalls. Der gesamte Tagesablauf in der Einöde Sibiriens, fernab jeglicher Zivilisation und unter härtesten Lebensbedingungen, war von einer anhaltenden religiösen Praxis und Liturgie geprägt. Genau festgelegte Gesänge, Gebete, Segen und Gedichte wurden jedem einzelnen Wochentag zugeteilt und in wöchentlichem Rhythmus wiederholt. Täglich fanden zwei Gebetsstunden statt. Die ersten sieben Jahre standen diese unter der Leitung des Hauspredigers Martens, der seinem Herrn freiwillig in die Verbannung gefolgt war. Nach dessen Tod übernahm Julies Urgroßvater selbst die Leitung. Vom Moment des Erwachens bis zum Einschlafen am Abend versuchte Burchard Christoph von Münnich, seine Gedanken durch anhaltendes Gebet auf Gott auszurichten. Die so entstandenen Lieder und Gebete sammelte er in einem Buch.12 Der Psalm 51 war 20 Jahre lang sein täglicher Begleiter. Später versicherte er, dass er in der Verbannung fast immer fröhlich und guten Mutes gewesen sei.
Innerhalb dieses religiös geprägten Tagesablaufes widmete sich der Generalfeldmarschall, der nicht mehr als zwei bis drei Stunden Schlaf pro Nacht brauchte, der Agrarforschung. Des Weiteren übermittelte er dem Senat Entwürfe für die Verbesserung der russischen Provinzen, unterrichtete einige junge Leute in Geometrie und Ingenieurwissenschaft, fertigte kriegswissenschaftliche Skizzen an, übersetzte lateinische Texte und schrieb zu den meisten Lehrsätzen des Christentums seine Gedanken auf. Er formulierte sogar ein eigenes Glaubensbekenntnis:
Ich glaube an die Schriften, die uns die Propheten hinterlassen haben, an die Menschen, welche von Gott auserwählt und vom Heiligen Geist bewegt sind, an die Lehren unseres teuersten Erlösers Jesus Christus sowie an diejenigen seiner Apostel. Ich wünsche, was diese heiligen Männer wollten und was Christus den Gläubigen versprochen hat. Ich habe die feste Überzeugung, dass Gott mir, dem großen Sünder, gnädig sein wird, um Christi und seiner schrecklichen Leiden willen, dass mir gemäß Seinem Willen meine Sünden vergeben werden und dass er mich in seinem Reich aufnehmen wird.13
Der agile Erfinder hielt an seinen innovativen Reformideen und leidenschaftlichen Anliegen fest. Eine seiner großen Visionen war es, die Türkenherrschaft in Europa zu beenden und so die christlichen Völker zu befreien, die unter dem osmanischen Joch litten.
Auch Julies Großvater Ernst von Münnich (1708-1788) war eine einflussreiche Persönlichkeit. Nachdem er mit seinem Vater das Schicksal der Verbannung geteilt hatte, wurde auch er unter Peter III. rehabilitiert und kurze Zeit später unter Katharina II. zum Generaldirektor der Straßengebühren und Zölle des russischen Reiches ernannt. Von 1774 bis zu seinem Tod hatte er das Amt des Handelsministers inne. Im Auftrag der Zarin sammelte Ernst von Münnich zudem alle Arten von Kunstwerken und seine Kunstkenntnisse waren beeindruckend. Im Alter von sieben Jahren durfte Julie ihre Mutter zum Großvater nach Sankt Petersburg begleiten. Was sie am Zarenhof sah und hörte, prägte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein. 'Er sprach jeden Tag mit Zarin Katharina, welche ihm günstig gesinnt war und ihm die höchsten staatlichen Orden verlieh'14, schrieb sie Jahre später immer noch voller Bewunderung für ihren Großvater. Trotz der hohen Stellung am Zarenhof blieb offenkundig, dass die tiefe Frömmigkeit von Julies Urgroßvater deutliche Spuren bei seinem Sohn hinterlassen hatte.
Die Kindheit von Julies Mutter, Anna Ulrike Gräfin von Münnich (1741-1811), stand ganz im Zeichen der tragischen Familienverbannung. Als engste Familienangehörige waren Annas Eltern unmittelbar vom Los des Generalfeldmarschalls betroffen und wurden ihrerseits von Zarin Elisabeth I. nach Wologda verbannt. Um der kleinen Anna dieses Schicksal zu ersparen, nahm die Baronin Mengden, Annas Großmutter mütterlicherseits, ihre damals halbjährige Enkeltochter zu sich nach Livland auf ihr Gut Jerkull, wo sie das Mädchen großzog. Die Großmutter mütterlicherseits blieb zeitlebens Annas wichtigste Bezugsperson. Annas Mutter starb vor der Rückkehr aus der Verbannung. Als Annas Vater im Frühling 1762 gemeinsam mit seinen in der Verbannung geborenen Kindern zurückkehrte, war seine älteste Tochter Anna bereits 20 Jahre alt. Sie war seit fünf Jahren mit Otto Herrmann von Vietinghoff verheiratet und bereits Mutter von drei Kindern. Als wenige Wochen später auch der Großvater aus seinem 20-jährigen Exil in Sibirien zurückkehrte, kam es zu einer ergreifenden Familienzusammenführung und dem Kennenlernen nächster Angehöriger, von deren Existenz man vorher nichts gewusst hatte. Unter anderem kam es zu einem bewegenden Gespräch zwischen dem Generalfeldmarschall und Anna. Mit ihrem berühmten Großvater, wie auch mit ihrem Vater, verband Julies Mutter von jenem Zeitpunkt an eine innige Beziehung.
Als Zarin Katharina II. den Generalfeldmarschall von Münnich begnadigte und wieder in all seine Würden und Ämter einsetzte, wurde auch Anna Ulrike, als Enkelin des Begnadigten, mit der Ernennung zur Dame des hohen Katharinen-Ordens ausgezeichnet. In den Folgejahren übte der Glaube ihres Großvaters einen tiefen Eindruck auf sie aus. Er war die prägendste männliche Gestalt in ihrem Leben. Von ihm übernahm sie einen festen lutherischen Glauben. Dieses Erbe gab sie später an ihre Kinder weiter:
Meine Mutter, welche diesen tiefen Respekt für die Religion und männliche Tugenden vom Marschall geerbt hatte, ließ uns Kinder noch an all diesen unauslöschlichen Erinnerungen teilhaben, welche fest am Leben haften wie Leuchttürme auf Klippen.15
Durch die Eheschließung des 34-jährigen Otto Hermann Baron von Vietinghoff und der 15-jährigen Anna Ulrike Gräfin von Münnich kam es also zu der Vereinigung zweier außergewöhnlicher Stammbäume.
Familienalltag in der russischen Aristokratie
Dem Ehepaar von Vietinghoff wurden binnen 16 Jahren sieben Kinder geboren. Dass sie in ihrer Kindheit wenig verwöhnt wurde, schrieb Julie als Viertgeborene dem Umstand zu, dass 'die Mutter vor ihr schon einige Kinder geboren hatte.'16 Der Kindersegen war jedoch mit schweren Schicksalsschlägen verbunden. Auf den Erstgeborenen Otto Ernst (1758-1780) folgte mit Burchard Friedrich (1759-1762) ein zweiter Sohn, der noch vor Julies Geburt als Kleinkind starb. Julies drei Jahre ältere Schwester Dorothea Friederike Helena (1761-1839) kam gehörlos zur Welt und stellte die Familie vor neue Herausforderungen. Mit Christoph Burchard (1767-1829) wurde der Familie der dritte Sohn geboren. Eine besonders enge Beziehung verband Julie mit ihrer kleinen Schwester Anna Margaretha (1769-1803). Der Nachzügler Georg Arnold (*1775) starb kurz nach der Geburt.
Otto Ernst, der Erstgeborene und Stolz der Familie, war dazu ausersehen, das ruhmreiche Familienerbe weiterzutragen und wurde auf eine Militärlaufbahn hin erzogen. Dieser Weg führte ihn schon früh aus dem elterlichen Zuhause. Deswegen und weil Dorothea wegen ihrer Gehörlosigkeit mehrheitlich in einem deutschen Institut lebte, wuchsen Julie und ihre beiden jüngeren Geschwister Christoph Burchard und Anna Margaretha im Dreiergespann auf.
Die gleiche Milch hatte uns alle drei gestillt. Unsere Amme war Schwedin und ich liebte sie sehr. Besonders ihre Fröhlichkeit und ihre Liebe taten mir gut. Meine Schwester war vier Jahre jünger als ich, sie war die jüngste von uns Kindern. Wir liebten uns alle zärtlich. Mein Bruder – ebenfalls jünger als ich – hatte Begabungen, die ihn seither brillant machten: Ein unwiderstehlicher Charme in seinem Verhalten, die Anmut seines Verstandes und seines Gesichtes, das demjenigen der Mutter ähnlich war, machten ihn sehr liebenswert. Wir waren mit allen Gefühlen miteinander verbunden (.).17
Die kleine Julie liebte leidenschaftlich: 'Meine Schwestern, mein Kindermädchen – Freundin meiner Kindheit –, die Nachbarin des väterlichen Hauses', erinnerte sie sich später zurück, 'wie ich sie liebte, wie ich Tränen der Zuneigung vergoss, der Unruhe, des Kummers, sie zu verlassen, und der Freude, sie wiederzusehen, nachdem ich von ihnen getrennt gewesen war.'18
Julie wuchs jedoch nicht als kleine, verwöhnte Prinzessin auf – trotz ihrer noblen Herkunft, der Prominenz ihrer Eltern, dem Adelspalast in Riga und den zahlreichen Vietinghoff’schen Anwesen, die über ganz Livland verteilt waren. Mitten im Luxus und Prunk wurden das kleine Edelfräulein und seine Geschwister streng, geradezu spartanisch erzogen. Während die Strenge des Vaters im Zeichen einer sozialen Gerechtigkeit stand, für die er eintrat, war die Strenge der Mutter religiös motiviert. 'Gott sei Dank dafür', schrieb Julie rückblickend, 'dass er mir eine Mutter gab, die in meinen jungen Jahren die Verweichlichung und die elende Naivität, welche die Damen von Welt umfängt, fernhielt', und weiter:
Die Mutter fühlte, dass es nötig war, uns mitten im Luxus und der Schmeichelei, die sie nicht vollständig verbannen konnte, und inmitten dieser Raffinessen der Kultur, wenigstens die strenge Stimme der Lebenslektionen hören zu lassen und den Mut und die Energie zu wecken, die es möglich machen, Leiden zu umarmen, Rückschläge zu akzeptieren und diese Willensstärke zu erwerben, welche unverzichtbar ist für den Kampf.19
Umgeben von größtem Luxus, bewohnten Julie und ihre Schwester eine Wohnung ohne jeglichen Komfort. Sie mussten einfache Kleider tragen und waren dazu verpflichtet, in den wenigen unterrichtsfreien Stunden niedrige Arbeiten zu verrichten. Den kleinen Baronessen waren je ein Kammermädchen und eine französische Gouvernante zugeteilt. Durch den regelmäßigen Einsatz von Eiswasser wurden die Mädchen daran gewöhnt, Kälte auszuhalten. Die körperliche Abhärtung sollte der inneren Stärkung dienen. Klagen fanden kein Gehör.
Der Einblick in den Alltag der Familie von Vietinghoff macht deutlich, dass das Familienleben in der russischen Oberschicht jener Zeit keineswegs mit dem heutigen Familienideal verglichen werden kann. Die Familie war nicht in erster Linie ein Ort persönlicher, emotionaler und intimer Bindungen, sondern hatte vielmehr die Funktion, materielle, politische und gesellschaftliche Interessen zu sichern. Zu diesen Interessen gehörte unter anderem eine geschickte Verheiratung der Kinder. Nachkommen wurden primär als Erben des Besitzes, des Standes und der politischen Stellung betrachtet und waren somit vor allem im frühen Erwachsenenalter interessant. Also dann, wenn sie für die Pläne der Familie eingesetzt werden konnten. Töchter waren hierbei strategisch gesehen ebenso bedeutend wie Söhne.
Julies Beziehung zu ihren Eltern, speziell zu ihrem Vater, war von großem Respekt und einer fast ängstlichen Distanz gekennzeichnet.
Die Mauer, welche zwischen meinen Eltern und mir stand, war zu hoch, als dass ich sie hätte überwinden können. Wie meine Schwestern war ich sehr wenig mit ihnen zusammen, und außerdem war ich zu schüchtern, als dass ich gewagt hätte, mit ihnen zu sprechen. Unsere Erziehung zog eine strenge Linie der Ehrfurcht und des Schweigens zwischen ihnen und uns, ganz anders als die Freiheit, welche heutzutage waltet und welche diese zügellosen Generationen vorbereitet hat.20
Die Beziehung zur Mutter hatte weniger den Charakter von Intimität und Vertrautheit als vielmehr von ehrfürchtiger Bewunderung. Die kleine Baronesse empfand ihrer Mutter gegenüber eine große Scheu, sehnte sich aber zugleich fieberhaft nach ihrer Anerkennung und Gegenliebe. Der Besuch beim Großvater in Sankt Petersburg zeigt, wie anders die Mutterrolle damals interpretiert wurde. Julie war in dem großen Haus des Großvaters oft allein. Während die Mutter ihren gesellschaftlichen Pflichten und Vergnügungen nachging, überließ sie die siebenjährige Tochter sich selbst, obwohl das Kammermädchen und die Gouvernante nicht mitgekommen waren. Eine Mutter, die ihr ganzes Dasein auf die Kinder ausrichtete, bildete in der Aristokratie jener Zeit eine Ausnahme.
Julie kannte es nicht anders und verehrte ihre Mutter, diese intelligente, starke, fromme Frau aus tiefstem Herzen. Anna Ulrike hatte innerhalb der Familie eine einflussreiche Stellung inne und prägte Julies Idealvorstellung von Weiblichkeit. 'Sie war bekannt für ihre unwiderstehliche Schönheit und unvergänglichen Tugenden, welche sich bei allen, die sie gekannt hatten, unauslöschlich ins Gedächtnis einbrannten.'21 Anna Ulrikes Fleiß, Geschäftstüchtigkeit, Selbstständigkeit und Sparsamkeit waren beeindruckend. 'Mitten im Prunk eines Hauses, das sehr viel größer war als diejenigen [Häuser, D.S.] der meisten kleinen Herrscher in Deutschland, verkörperte sie die einfachen und strengen Sitten eines anderen Zeitalters.'22 Anna verwaltete das riesige Familienvermögen, meisterte die häuslichen Angelegenheiten und trat zugleich als Mäzenin und Wohltäterin auf. Gleichzeitig blieb sie die strahlend schöne Aristokratin, die mit ihrem Geist und Charme alle verzauberte. Ihr Salon war ein beliebter Treffpunkt der Prominenz von Riga. So vereinte Anna von Vietinghoff in den Augen ihrer Tochter christliche und weibliche Tugenden mit Weltoffenheit und Geschäftssinn.
Individuelle Förderung
Bildung wurde in der Familie von Vietinghoff großgeschrieben. Sie war unerlässlich für eine standesgemäße Zukunftssicherung. Nicht nur die Söhne wurden gefördert, sondern auch die Töchter. Überhaupt wurden die Frauen im Hause Vietinghoff – wie es in osteuropäischen Adelskreisen üblich war – mit größtem Respekt behandelt. Dass adlige und politisch aktive Frauen in Osteuropa so hohes Ansehen genossen, findet seine Erklärung in der russischen Geschichte. Nach jahrhundertelanger Unterdrückung, nicht zuletzt durch die kirchliche Orthodoxie und die Tatarenherrschaft, kam es unter Zarin Natalja Naryschkina (1651-1694) zu einem Umdenken. Ihr Sohn, Peter der Große, führte das Erbe seiner Mutter später fort, griff westliche Ideen und Lebensformen in Russland auf und verschaffte adligen Frauen mehr Rechte und individuelle Freiheiten. Seit dieser Zeit spielten russische Frauen eine herausragende Rolle in der politischen Geschichte des Landes. Fast 100 Jahre lang lag das Schicksal von Russland in der Hand von Frauen. Das 18. Jahrhundert wurde zum Zeitalter der regierenden Zarinnen par excellence: Katharina I., Anna Iwanowna, Elisabeth Petrowna und Katharina II. Sie alle spielten eine bedeutende Rolle und prägten das osteuropäische Frauenbild. Unter weiblicher Herrschaft erweiterte Russland sein Territorium, vermehrte das Land seinen Reichtum und wurden große Fortschritte der Zivilisation erzielt. All dies stärkte das Rückgrat der russischen Aristokratinnen und räumte Töchtern einen gleichberechtigten Platz in der Familie ein. Dementsprechend scheuten auch Julies Eltern keinen Aufwand, neben der traditionellen Ausbildung ihrer Söhne in gleicher Weise die Töchter ihren Veranlagungen entsprechend zu fördern.
Der gehörlosen Tochter Dorothea ermöglichten sie im Hamburger Institut von Samuel Heinicke, dem Erfinder der Deutschen Methode der Gehörlosenpädagogik, eine für jene Zeit revolutionäre Ausbildung. Dorothea gehörte zu den ersten gehörlosen Schülerinnen und Schülern, die bei Heinicke in der Küsterei wohnten und von seinem Unterricht profitierten. In Hamburg-Eppendorf lernte sie lesen, schreiben und etwas sprechen. Dabei fiel sie durch ihr schnelles Auffassungsvermögen und ihre Intelligenz auf. Die Fortschritte des Mädchens erregten öffentliches Aufsehen. Es wurden mehrere Artikel über sie publiziert, was der Heinicke’schen Schule zu größerer Aufmerksamkeit verhalf. Der Reichspostreuter Nr. 22 vom 8. Februar 1775 wusste zu berichten:
(.) besonders aber unterscheidet sich die junge Baroness von V[ietinghoff] ein liebenswürdiges Mädchen von 13 Jahren. Sie ließt nicht nur gedruckte Bücher, auch sogar solche, deren Inhalt ihr noch unbekannt ist, mit ziemlicher Fertigkeit, und ziemlich vornehmen Tone, wie auch Geschriebenes, von bekannter und unbekannter Hand; sondern nennt auch die meisten Sachen, die im gemeinen Leben vorkommen, hat einen Begriff von den Tagen und Wochen, von den Stunden, und von den Zahlen bis 100; und soweit ist dieselbe in einem etwa 5monatlichen Unterrichte von ihrem geschickten Lehrer gebracht worden.23
Über Anna Margarethas Kindheit ist wenig bekannt. Fest steht, dass sie sehr musikalisch war und ihre Begabung für das Klavierspiel bereits in frühen Jahren gefördert wurde.
Julie, die mittlere der Vietinghoff’schen Baronessen, war auf der einen Seite ein ganz normales kleines Mädchen, das erschauderte, wenn das Kindermädchen die Geschichte von Blaubarts Zorn erzählte und das sich in großen Räumen fürchtete. Auf der anderen Seite verblüffte die kleine Baronesse bereits im Alter von drei Jahren mit ihrem aufgeweckten Wesen und unstillbaren Wissensdurst. Die Besonderheit ihres Gedächtnisses zeigte sich unter anderem darin, dass ihre lebhaften Erinnerungen bis in das Alter von drei Jahren zurückreichten. In eben jenem Alter entdeckte Hauslehrer Dingelstädt Julies außergewöhnliche Lernbegabung, woraufhin er begann, sie intensiv zu fördern. Als Dreijährige beherrschte die kleine Baronesse Deutsch und Französisch und konnte beide Sprachen fließend lesen. Eine besondere Leidenschaft entwickelte sie in den Folgejahren für das Fach Geschichte. Als Siebenjährige lebte sie in einer Heldenwelt, tauchte ein in das Rom und Griechenland längst vergangener Jahrhunderte und setzte sich mit den unterschiedlichen philosophischen Denkschulen der griechischen Antike auseinander. Mit Hingabe widmete sie sich den Systemen von Plato, Pythagoras und Sokrates. Gerne verzichtete sie auf das Abendessen, um ihrem leidenschaftlichen Interesse für die römische Geschichte nachzugehen und alles zu verschlingen, was ihr in die Hände kam. 'Mit neun Jahren', erzählte Julie später,
hatte ich das breite Feld der Geschichte durchquert, nicht über jeden Zweifel erhaben, dass ich die Lektionen der Jahrhunderte daraus gezogen hätte, aber indem ich die Helden von Rom kannte und ihnen ins Heerlager folgte sowie diejenigen von Griechenland; bewaffnet mit allen Daten der modernen Geschichte kannte ich die Mythologie und erhielt erste Vorstellungen der Philosophie und Logik (.).24
Christoph Burchard, Julies kleiner Bruder, war ihr Studiengefährte. Anders als bei Julie stand bei ihm jedoch – sehr zu seinem Leidwesen – auch das Fach Latein auf dem Stundenplan. Wie dankbar war er, dass seine große Schwester auf indirekte Weise genügend von seinem Unterricht aufschnappte, um ihm die richtigen Antworten auf die Fragen des Lehrers zuflüstern zu können. Dadurch kamen sich die Geschwister umso näher.
Gelebte Frömmigkeit
Neben der Bildung gehörte auch die Religion zu den tragenden Säulen im Hause Vietinghoff. Wie für eine deutschbaltische Adelsfamilie jener Zeit typisch, war die Frömmigkeit in Julies Familie primär evangelisch-lutherisch geprägt. Darüber hinaus waren aber auch russisch-orthodoxe Elemente sowie pietistische Einflüsse spürbar. Wie eine kleine Pfütze den Himmel, spiegelte Julies Familie mit ihrer gelebten Religiosität im Kleinen die großen Linien der baltischen Eroberungsgeschichte wider.
Parallel zu den politischen Machtwechseln hatten die baltischen Provinzen ein Wechselbad religiöser Art erlebt, entsprechend der offiziellen Konfession ihrer jeweiligen Eroberer. Der Sieg der Schweden im Jahr 1625 bedeutete für das Land den Beginn der lutherischen Staatskirche. Im Großen Nordischen Krieg (1700-1721) verlor Schweden seine Stellung als nordische Großmacht an Russland. Liv- und Estland gerieten unter russische Herrschaft und damit in den Einflussbereich eines Staates mit russisch-orthodoxer Glaubensrichtung. Die livländisch-lutherische Kirche blieb aber auch in den Wirren der Nachkriegszeit dominierend. Krieg, Hunger und Pest zogen einen akuten Predigermangel nach sich. In Estland blieben von 50 Predigern lediglich 15 übrig. Dies erschloss dem Pietismus und der Herrnhuter Brüdergemeine neue Handlungsräume. In den Folgejahren kamen viele junge deutsche Pfarrer, Hofmeister und Lehrer ins Land, um die vakanten Stellen zu besetzen. Die Herrnhuter Geistlichen in Livland waren meist ungebildete Handwerker, die sich vorrangig um die lettische und estnische Bauernschaft bemühten. Ihre Tätigkeit fand beim Volk so großen Widerhall, dass sie zwischenzeitlich verboten wurde. 1764, im Geburtsjahr der kleinen Baronesse, erfuhr das Verbot unter Zarin Katharina II. eine Lockerung. Neben der lutherischen und russisch-orthodoxen Kirche sowie den Pietisten und Herrnhutern gab es im Baltikum auch eine römisch-katholische Minderheit, wahrscheinlich ein Erbe der Christianisierung der baltischen Provinzen. Dazu gesellten sich verschiedene religiöse Minderheiten, zum Beispiel Anhänger des schwedischen Wissenschaftlers, Mystikers und Theosophen Emmanuel von Swedenborg oder Quäker aus England.
Es war geradezu kennzeichnend für eine deutschbaltische Familie der russischen Aristokratie, dass Bildung und Religion eine Verschmelzung in der Person des Hauslehrers fanden. Auch Christian Adolf Ludwig Dingelstädt, der Hauslehrer der von Vie-tinghoffs, verfolgte zeitgleich eine Laufbahn als Geistlicher. So bildete die Bibel neben der schöngeistigen Literatur die Hauptlektüre der jungen Baronesse. Mit den Evangelien war sie im Alter von drei Jahren schon bestens vertraut. Andere biblische Passagen wühlten sie als Siebenjährige zutiefst auf:
Befand ich mich in der Gegenwart des Buches der Bücher, der heiligen Geschichte und den Annalen des auserwählten Volkes, zitierte es mich vor das majestätische Gericht des Ewigen, ich war erschüttert von der Erhabenheit dieser für die menschliche Vernunft unerklärlichen Offenbarungen (…).25
Der Respekt für die Religion zeigte sich im Hause Vietinghoff zum Beispiel darin, dass die Eltern, denen Julie eine 'echte Frömmigkeit'26 bescheinigte, Gott immer wieder für seine Wohltaten dankten. 'Wie üppig die Mahlzeiten auch waren', erinnerte sich Julie, 'man versäumte nie zu beten, bevor man sich zu Tisch setzte'27. Auch von den Eltern wurde die kleine Julie dazu angehalten, sich viel mit der Heiligen Schrift zu beschäftigen, wobei sich speziell die Psalmen tief in ihr Gedächtnis prägten.
Julies Vater war ein Mann der Tat und weniger der Worte. Seine Ehrfurcht vor dem christlichen Glauben manifestierte sich im Bau einer lutherischen Kirche mit einem 55,5 m hohen Turm auf dem Gelände des geschichtsträchtigen Familiensitzes Schloss Marienburg (heute Aluksne) auf der Insel Pilssala im Nordosten Lettlands. Der 1781 begonnene Kirchenbau dauerte sieben Jahre und war das Ergebnis der Zusammenarbeit mit Christoph Haberland, einem der berühmtesten Rigaer Architekten jener Zeit. Die Kirche, die aus einheimischen Natursteinen im klassizistischen Stil erbaut wurde, gehört bis heute zu den beeindruckendsten Kirchenbauten Lettlands. In den Turm führt eine Treppe aus Eichenholz. Von hier aus konnte Julies Vater seinen Gästen die malerische Landschaft zeigen. Julie berichtet von unglaublichen 'zehntausend Seelen'28, die zur Einweihung der Kirche zusammenströmten. Die Kirche war zugleich eine Erinnerung an die religiöse Vergangenheit der im Jahr 1341 erbauten Ordensburg. Um 1702, während des Großen Nordischen Krieges, waren alle Bewohner des Ortes und der Burg in russische Gefangenschaft geraten, unter ihnen auch Johann Ernst Glück (1654-1705), der lutherische Pfarrer, dem die erste lettische Bibelübersetzung zu verdanken ist. Glücks Magd ging später als russische Zarin Katharina I. in die Geschichte ein. Von einem Schlossfenster aus bot sich Julie folgender Blick auf den historischen Schauplatz:
(.) dort erhoben sich diese Ruinen, berühmt durch die Niederlage Schwedens, welche sich unter Peter I. den Russen ergeben hatten, und nahe bei diesen Erinnerungen an Tumulte und Kriege war noch schwach das Pfarrhaus zu erkennen, wo Katharina I. großgezogen worden war, und der Hügel, wo sie in ihrer Jugend unter einem großen und schattigen Lindenbaum die Wellen des Sees beobachtet hatte.29
Religiöse Worte und Praktiken gehörten zum Aufgabenbereich der Mutter. 'Bis zum Alter von neun Jahren und später', so Julie, 'versammelte sie uns, meine Schwestern, meinen Bruder und mich zum Gebet, machte anschließend das Kreuzzeichen auf unseren Köpfen und übergab uns so für die Nacht unserem Schutzengel.'30 Tief beeindruckt vom lutherischen Glauben ihres berühmten Großvaters, wollte Anna Ulrike dieses Erbe an ihre Kinder weiterreichen. Davon zeugt ein Brief der Mutter an die neunjährige Julie, den sie am 13. Januar 1774 in deutscher Sprache niederschrieb. In Anlehnung an Matthäus 10,16b eröffnete die Mutter den Brief mit den Worten: 'Ich habe meinen Aposteln gesagt, seyd klug wie die Schlangen und ohne falsch wie die Tauben, ich sage es dir selbst meine Tochter.' In ihrem Brief beschäftigt sich Anna Ulrike ausführlich mit dem Wesen der Taube und dem der Schlange und was ihre neunjährige Tochter im Hinblick auf einen christlichen Lebenswandel von diesen beiden Tieren lernen sollte. Anna Ulrikes Ausführungen offenbaren eine auffallend persönliche Gottesbeziehung; einen Glauben, der weit über die orthodoxe Rechtgläubigkeit des herkömmlichen Luthertums hinausging und eine große Nähe zu herrnhutischem Gedankengut aufwies. Der christliche Glaube hatte ihrer Meinung nach ein lebendiger Glaube zu sein. Er sollte sich am Vorbild von Jesus Christus orientieren und Leben und Verhaltensweisen nachhaltig verändern. Der mütterliche Glaube spiegelte sich auch in den Werten wider, die Anna Ulrike ihren Kindern vermittelte. Selbstlosigkeit, Nächstenliebe, Großzügigkeit und Leidensbereitschaft waren Pfeiler der Familienkultur.
Zwischen Künstlern und Leibeigenen
Otto Hermann von Vietinghoff ist es zu verdanken, dass Kunst aus Julies Kindheit und Jugend nicht wegzudenken war. Seine Genialität lag im Bereich der bildenden Kunst. Das Bestreben, die Schönheit der Kunst in ihrer Vielfalt sichtbar zu machen, nährte seine schier unerschöpfliche Schaffenskraft. Er war der Urheber vieler imposanter und prunkvoller Bauten, von denen ihn die meisten überlebten. Darüber hinaus investierte er viel Herzblut in die Gestaltung öffentlicher Gärten und Parkanlagen. Sein landschaftliches Meisterwerk gehörte zu einer Liegenschaft in Dünamünde, nordwestlich von Riga, wo sich die Familie regelmäßig aufhielt. Es handelte sich dabei um einen kleinen Landsitz mit dem symbolträchtigen Namen Solitude (Einsamkeit), den ein herrlicher Park umgab. Das Anwesen war im Louis-quatorze-Stil gestaltet und lag am linken Ufer der Düna, die dort in die Ostsee mündet. Die gepflegte Allee, die zum Landsitz führte, war mit Bäumen gesäumt und wurde auf beiden Seiten von Orangerien mit eleganten Stützsäulen flankiert. Diese Gewächshäuser, die im 17. und 18. Jahrhundert einen wichtigen Bestandteil von Parkanlagen bildeten, waren sehr beliebt zur Überwinterung von exotischen Gewächsen, besonders von Orangenbäumen. Die besondere Anziehungskraft der Residenz in Dünamünde ging laut Julie nicht von dem Wohnhaus aus, denn jenes war viel weniger luxuriös als andere Herrschaftshäuser der Familie. Den besonderen Reiz übten einerseits die wunderschönen italienischen Gemälde aus, die die Wände schmückten, und andererseits die prachtvolle Parkanlage. Julie glaubte hier den Ursprung ihrer Kunstliebe zu erkennen, speziell für die italienische Kunst. Von ihrem Zimmerfenster aus sah sie direkt in den Garten, der sie immer wieder neu verzauberte. Fantasievolle Tagträume trugen sie selbst im tiefsten Winter weit weg zu den warmen Ländern, aus denen die Kunstwerke und Pflanzen stammten.
Meine Augen lernten die Schönheit unter einem Himmel kennen, der sie anscheinend verbannen wollte, umgeben von den Eisnebeln des Nordens. Die Meisterwerke der Kunst ließen von der Heimat träumen, die sie verlassen hatten. Selbst inmitten unserer langen Winter sahen die Venus Medici31 und ihre Gefährten die Grazien32, wie sich die Myrte aus Asien mit dem Loorbeerbaum aus Griechenland zum Duft des Orangenbaums vereinte. Unterschiedlichste Blumen blühten in diesem Gelände unter den Strahlen eines künstlichen Frühlings! Es war in einer ländlichen Gegend nahe der Stadt, wo man in einem luxuriös verwandelten Winterpalast bei erwärmter Temperatur die Vegetation des Südens vorfinden konnte, während es draußen Bollwerke von Schnee hatte.33
Tatsächlich fanden sich auf Solitude antike Nachbildungen dieser Kunstwerke vereint. Hier entwickelte die kleine Baronesse schon früh eine tiefe Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur.
Die Natur, abwechselnd wild und lieblich, oft überwältigend, hatte in diese herrliche Landschaft, die ich so gerne betrachtete, da hohe Wälder, hier ruhige Seen geworfen, während in der Ferne die Brandung des nordischen Meeres und des baltischen Meeres zu Füßen der Berge von Schweden wogte und während die träumerische Melancholie dazu einlud, sich auf die Grabmäler der alten Skandinavier zu setzen, die sich, gemäß der alten Sitte dieses Volkes, auf den Hügeln und den in der Ebene verbreiteten Grabhügeln befanden.34
Vor allem die sommerlichen Polartage hatten es Julie angetan. Jene Tage, in denen es dank der Mitternachtssonne auch in der Nacht hell blieb. 'Während unserer großartigen Nordnächte, wo die Sonne den Horizont nur verlässt, um ein paar Augenblicke auf einem Bett aus Rosen zu schlummern', sinnierte Julie, 'betrachtete ich diese breiten, treibenden Silberbahnen, welche die Wolken formten. Dort schöpfte ich diese Liebe zur Natur, welche mir so starke Gefühle gegeben hat.'35 Auch das geheimnisvolle Lichterspiel des Polarlichts, diese leuchtenden, lebendigen Vorhänge in allen möglichen Farben, welche gelegentlich den nördlichen Nachthimmel erhellten, rührte ihr Inneres.
Die Einsamkeit der Meere, ihre ungeheure Stille oder ihr stürmisches Treiben, der unsichere Flug des Eisvogels, der melancholische Schrei des Vogels, der unsere erstarrten Gegenden liebt, die traurige und milde Klarheit unserer Nordlichter, all dies nährte die verschwommenen und bezaubernden Unruhen meiner Jugend.36
Doch nicht nur die bildenden und literarischen Künste genossen ein hohes Ansehen in Julies Familie. Baron von Vietinghoff schrieb als großzügiger Kunstmäzen auch Theater- und Musikgeschichte. Mit Joachim Mende, dem Oberhaupt einer traditionsreichen Schauspielerfamilie, gründete Otto Hermann von Vietinghoff 1768 die erste ständige Bühne des Baltikums. Das neu erbaute Schauspielhaus wurde am 1. September 1768 mit einer Komödie von Philippe Destouches (1680-1754) eröffnet. Als das Rigaer Publikum in den darauffolgenden Jahren eine Vorliebe für das neue deutsche Drama entwickelte, gab die bisherige Schauspieltruppe ihr Unternehmen auf. Daraufhin übernahm Julies Vater zusätzlich zu seinen übrigen Aufgaben und Amtsgeschäften die Theaterdirektion.
Auf eigene Kosten erwarb Vietinghoff Textbücher und Musikalien, engagierte Darsteller, Sänger und Tänzer aus Deutschland. Damit legte er auch den Grundstein für das Rigaer Musiktheater, das im 19. Jh. große Bedeutung erlangte. Das Schauspielrepertoire unter Vietinghoff umfasste u. a. Lessings Minna von Barnhelm und Clavigo von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1805), weitere Stücke von Lessing und Goethe sowie von Friedrich Schiller (1759-1805) und William Shakespeare (1564-1616), außerdem Opern von André Grétry (1741-1813) und Singspiele von Johann Adam Hiller (1728-1804).37
Der Stadtpalast der Familie Vietinghoff war Dreh- und Angelpunkt des kulturellen Lebens in Riga. Hier wohnte und wirkte eine erlauchte Schar von Künstlern und Geschäftsleuten, allesamt finanziert von Julies Vater. Neben seinen Aktivitäten für die Theaterbühne förderte Baron von Vietinghoff das öffentliche kulturelle Leben durch die Organisation von Abendmusiken und Gesellschaften. Sein prominentes Hausorchester glänzte mit Meisterwerken namhafter Komponisten und genoss einen ausgezeichneten Ruf, weit über die Stadtgrenzen von Riga hinaus. 'Unmittelbar um mich herum brachten uns Meister, welche auf Kosten des Hauses unterhalten wurden, verführerische Fertigkeiten bei'38, erinnerte sich Julie. Künste aller Art – Schauspielerei, Musik, Malerei, Lyrik – weckten große Emotionen und Leidenschaften bei der kleinen Baronesse. Sie liebte es, die Schauspieler bei ihren Proben zu beobachten, deren Mimik, Gestik und Rhetorik heimlich nachzuahmen. Schon früh legte Julie eine außergewöhnliche Begabung für die darbietende Kunst an den Tag.
Welt der Kontraste
Julies Kindheit und Jugend war von spannungsvollen Gegensätzen geprägt. Neben dem pulsierenden Treiben ihrer Geburtsstadt Riga kannte Julie auch das einsame, nostalgische Leben auf den ländlichen Rittergütern ihres Vaters, wo die Zeit stillzustehen schien. Wo man dem Bann der nordischen Wälder, Seen und Moorlandschaften verfiel und der nächtliche Schlaf von Wolfsgeheul unterbrochen wurde. In diesen Prachtbauten verbrachte man die kurzen Sommermonate, um vor den unerbittlichen, düsteren Wintermonaten wieder in das geschäftige Stadtleben einzutauchen. Der Kontrast zwischen diesen zwei so gegensätzlichen Welten wirkte tief auf das Gemüt der jungen Baltin. Daneben realisierte Julie schon früh die Kluft zwischen reich und arm, Herren und Untergebenen.
'Lievland, du Provinz der Barbarei und des Luxus, der Unwissenheit und eines angemaßten Geschmacks, der Freiheit und der Sclaverei, wie viel wäre in dir zu thun?'39, fragte der berühmte deutsche Schriftsteller Johann Gottfried Herder (1744-1803), als Julie fünf Jahre alt war. Das Miterleben sozialer Ungerechtigkeit wühlte Julie auf.
Lange Zeit, ich erinnere mich daran, litt ich in meiner Kindheit an der Unterdrückung, welche die Mächtigen ausübten (…): Man schlug, man bestrafte für Fehler, während man selbst Missetaten beging: ich stöhnte im Geheimen, meine Stimme erhob sich auch, wenn meine Erzieherinnen junge Mädchen schlagen wollten.40
Mit großer Entschlossenheit ergriff Julie Partei für Schwächere, selbst wenn jene im Unrecht waren. Als Dreijährige weigerte sie sich standhaft, ihrem Vater den Namen eines Dieners zu nennen, der sich unanständig aufgeführt hatte. Den Namen des Dieners – Adam – vergaß sie nach diesem Zwischenfall nie mehr. Julie realisierte später: 'Äußerste Festigkeit war in meinem Herzen mit der größten Sanftheit verbunden.'41
Die kleine Baronesse erkannte schon früh die Kluft zwischen Reich und Arm, Herren und Untergebenen. Am Beispiel ihrer Eltern lernte Julie aber auch, dass Reichtum nicht zwingend Geiz und Unterdrückung zur Folge haben musste, sondern dass er dazu dienen konnte, Gutes zu tun. Während einer Hungersnot, in der es für Arme unmöglich wurde Brot zu kaufen, weil es zu teuer war, öffneten Julies Eltern ihren Kornspeicher und verschenkten ihre Vorräte. Viel schlimmer als den Ärmsten der Armen erging es jedoch den Leibeigenen. Als Tochter eines Leibherrn, der 50.000 Leibeigene besaß, war Julie schockiert über deren Schicksal und empfand großes Mitleid mit den unterdrückten livländischen Bauern. Leibeigene und alles, was sie hatten, gehörten ihren Lehnsherrn. Sie hatten keinerlei Rechte. Auch Körperstrafe war erlaubt. Sie wurden von den meisten Lehnsherrn wie Tiere behandelt. '(.) mit dem Leibeigenen sprach man nicht, man winkte ihm nur Befehle zu, man sprach mit ihm durch die Reitgerte, durch den Spazierstock.'42 Nur selten wurden Proteste gegen die ungerechte Behandlung der Leibeigenen laut. Eine der kritischen Stimmen gehörte einem deutschen Professor für Volkswirtschaft in Mitau, heute Jelgava in Lettland, namens Eisen. Der ehemalige Pastor nahm selbst auf Regierungsebene kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, die trostlose Situation der Leibeigenen zu schildern.
Der Leibeigene ist ganz und vollständig ein Objekt der Erbschaft und des Eigentums für seinen Herrn: Er besitzt gewöhnlich nichts für sich selbst (…) So ist es keineswegs übertrieben zu sagen, dass der Lehnsherr seinen Leibeigenen besitzt wie er ein Pferd besitzt (…) Diese Situation ist wirklich ein Fluch dieser Zeit.43
Obwohl Otto Hermann von Vietinghoff zu denjenigen gehörte, die für soziale Gerechtigkeit eintraten, blieb er als Lehnsherr Teil des Systems. Das Thema gehörte zu den heißen Eisen der russischen Aristokratie. Besser man verbrannte sich nicht die Finger daran. Julie weigerte sich, dieses System anzuerkennen und sich an die Sklaverei und den Zwang zu gewöhnen, dem die Leibeigenen ausgeliefert waren. Nie habe sie in ihrer Kindheit 'die Sache der Rechtlosen verteidigen gehört', bedauerte Julie, nie habe sie 'jemanden für den Unterdrückten eintreten sehen in dieser Arena, die sich die große Welt nennt'44. Das Los der Leibeigenen war in Julies Augen eine himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit, die nicht totgeschwiegen werden durfte. Sie sah in den armen Bauern gleichwertige Mitmenschen, denen man mit Respekt zu begegnen hatte.
Ein Wunderkind im Rampenlicht, 1776-1778
Eine rund dreijährige Reise nach Westeuropa wurde zum unvergesslichen Erlebnis und zum Beginn eines neuen Lebensabschnittes für Julie.
Ich erreichte mein 11. Lebensjahr, aber ich war weit von der Kindheit entfernt: Vergleichbar mit diesen Pflanzen, welche in die warmen Treibhäuser versetzt wurden, war meine Seele vor der üblichen Zeit herangereift. Da begann eine neue Epoche für mich; auf die beschauliche Lebensweise meiner frühen Erziehung folgte eine ganz andere Szene: meine Eltern machten eine Reise nach Frankreich und England.45
Im Frühjahr 1776 brach die Reisegesellschaft auf. Julie durfte die Eltern als einziges Kind der Familie begleiten. Ein beachtlicher Zug an Dienstpersonal folgte ihnen. Die Mutter achtete sorgsam darauf, dass Julie die einfachen Gewohnheiten beibehielt. Ihr Essen bestand aus Milch, gebratenem Obst und ein wenig Speck. 'In den Einöden Polens, die wir in einer harten Jahreszeit durchquerten, diente mir eine Bärenhaut als Bett. Als wir', so Julie weiter, 'glaub die Memel überquerten, gefror eine meiner Hände. Ohne mich zu beklagen, ertrug ich, wie ich es gewohnt war, das Einreiben von Schnee und nach und nach erreichten wir weniger raue Landstriche.'46
In Warschau verbrachten die von Vietinghoffs einige Zeit im Haus des russischen Botschafters Otto Magnus Reichsgraf von Stackelberg (1736-1800), einem Verwandten von Julies Mutter. 'Der russische Botschafter war ein Vizekönig in Polen. Macht und Schmeichelei umgaben dieses Haus. Er war bekannt für seine Scharfsinnigkeit und hatte alles, was die Welt bejubelte.'47 Der Vizekönig war entzückt von Julies Aufgewecktheit, Originalität, ihrem lebhaften Gesichtsausdruck und ihrer Stimme. Er verwöhnte sie, wo sich die Gelegenheit dafür bot, und prophezeite ihr eine große Zukunft. Die Größe und Pracht, die Julie umgaben, der Glanz der Feste und die Aufmerksamkeit, die ihr geschenkt wurde, wirkten tief auf das kindliche Gemüt. Schließlich organisierte der polnische König Stanislaus II. (1732-1798), der Julies Eltern sehr nahestand, höchstpersönlich einen Kinderball für die junge Baronesse und ehrte sie mit seiner Aufmerksamkeit; ebenso sein Bruder Michal Jerzy Poniatowski (1736-1794), der Erzbischof von Gnesen, mit dem sich Julie lange unterhielt. Sie erkannte, dass sie Menschen mit ihrem Verstand in den Bann ziehen konnte und war stolz darauf. Auf dem Anwesen des Botschafters sah sie die meistzitierten und schönsten Frauen und beobachtete fasziniert, wie jene verehrt wurden. 'Im Übrigen', schrieb Julie, 'blieb ich auf vielerlei Weise Kind, indem ich mit meinen kleinen Cousinen herumrannte und mit den Pagen des Botschafters spielte.'48
Wieder unterwegs in Richtung Frankreich, fernab vom Glanz und Prunk der Warschauer Prominenz, bemühte sich Anna von Vietinghoff darum, den Gefühlsüberschwang ihrer Tochter zu bremsen. Die Monotonie der Reise durchbrach die Ablenkung, der sie in Warschau ausgesetzt gewesen waren, und rief wieder die strengen Gewohnheiten auf den Plan. Es wurden auch Pläne für die kommenden Reisemonate geschmiedet.
Es war die Rede davon, mich in Paris – wo meine Eltern beabsichtigten, einen Aufenthalt zu machen – in ein Kloster zu stecken. Dies war, wie man weiß, so üblich in Frankreich, dass man alle jungen Leute bis zu ihrer Hochzeit im Kloster unterbrachte.
Doch noch waren sie weit von Frankreich entfernt. Da Julie im selben Wagen saß wie ihre Eltern, gelang es ihr, die Schüchternheit ihnen gegenüber etwas abzulegen. Als sie deutsches Gebiet erreichten, entfuhr Julie in einem plötzlichen Impuls ein Freudenschrei. Sie streckte ihre Hände zum Himmel aus und zitterte am ganzen Körper.
›Was haben Sie, mein Kind?‹, fragte mich mein Vater, der mir gegenübersaß. ›Mein Vater‹, sagte ich zu ihm, indem ich nochmals meine Hände zum Himmel hob, ›Gott sei gedankt! Hier sind die Menschen frei!‹ Ich verstummte. Er schaute mich lange schweigend an, er hatte vielleicht 50.000 Untertanen. Von dieser Zeit an empfand er eine große Zuneigung zu mir und verbarg es nicht vor mir.49
Berlin, die Residenzstadt des Königreichs Preußen, einige kleine Höfe deutscher Herrscher und Weimar waren die nächsten Zwischenstationen. Julie verbrachte in Berlin viel Zeit mit einer Tochter des preußischen Thronfolgers, welche einige Jahre später mit dem zukünftigen Herzog von York verheiratet wurde.50 Sie fand die junge Prinzessin, welche etwa gleich alt war wie sie, extrem liebenswürdig. An den kleinen Höfen Deutschlands amüsierte sich die Baronesse aus dem Norden bestens,
denn ebenso wie meine Eltern mit Freundlichkeiten überhäuft wurden, war auch ich nicht vergessen: Man bot mich auf wie eine Sehenswürdigkeit aus dem Norden. Ich verblüffte durch meine Aufgewecktheit, meine Schlagfertigkeit und meine Talente. Ich spielte mit vielen kleinen Prinzessinnen und kleinen Prinzen (.) Blindekuh.51
In Weimar sah Julie aus der Ferne den berühmten deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Sie beobachtete, wie er gemeinsam mit dem 18-jährigen Herzog von Weimar (1757-1828) auf einer Galerie promenierte, die den Speisesaal umrundete. Goethe stand erst seit wenigen Monaten im Dienst von Herzog Karl August und wurde in jenen Tagen Mitglied von dessen dreiköpfigem Beratergremium.
Mit der schönen Jahreszeit erreichte die Reisegesellschaft den belgischen Kurort Spa, wo sich alles traf, was Rang und Namen hatte. Hier ließen sich Julies Eltern fast ein halbes Jahr lang nieder. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatte sich das Heilbad Spa mit seinen berühmten Quellen zunehmend zu einem Treffpunkt der europäischen Aristokratie entwickelt, sodass man dem Ort später den Beinamen Café de l’Europe (Café von Europa) gab. Dies klingt auch in Julies Erinnerungen an:
Dort sah ich einen Teil Europas wie in einem großen Café. Ein allgemeiner Taumel ließ alles, was Beine und Geld hatte, tanzen, spielen, reiten. Ich sah diese großen Veranstaltungen wie in einer Zauberlaterne. Mir und auch den anderen wurde es ganz schwindlig im Kopf, aber nichts entzückte mich mehr als die wunderbar zur Schau gestellten Früchte bei den Mittagessen, zu denen man sich gegenseitig einlud, und die reizenden Spaziergänge, welche Spa umgaben.52
Gegen Ende 1776 ging die Reise von Spa aus weiter nach Paris. Julies Eltern planten dort einen ersten, kürzeren Aufenthalt, um sich auf die Weiterreise nach England vorzubereiten. Nach der Zeit in England wollten sie für einen zweiten, längeren Aufenthalt nach Paris zurückkehren. Zu Julies Reisevorbereitungen gehörte der Privatunterricht bei einem Englischlehrer. Ansonsten achtete die Mutter darauf, dass die Lebensweise dem Alter der Tochter angepasst war. 'Ich blieb oft zu Hause', erinnerte sich Julie, 'während meine Mutter in den führenden Häusern gefeiert und vorgestellt wurde. Von Zeit zu Zeit ging man aufs Land, die Jahreszeit war schön.'53 Das Vorhaben, Julie in ein Kloster zu stecken, war nicht in die Tat umgesetzt worden. Sie wurde jedoch in die Obhut einer Bediensteten ihrer Mutter gegeben, die sie mit Strenge überwachte. 'Meine Lebensweise wurde wieder der gewohnten Einfachheit unterworfen. Ein wenig Milch, einige Bratäpfel bildeten meine Hauptnahrung.'54 Als Beschäftigung für die langen Abende gab ihr die Mutter Werke von Jean Racine (1639-1699) zu lesen. Voller Leidenschaft identifizierte sich die sensible Baronesse mit den Helden der römischen und griechischen Geschichte in Racines berühmten Tragödien:
Die großen und noblen Leidenschaften rührten an dieses Herz und allein in meinem Zimmer, mitten in dem rauschenden Paris, rezitierte ich noch spät in der Nacht diese melodischen Verse. Ich weinte mit Andromache, mit Iphigenie und genoss mit Berenike den Triumph über Titus.55
Manchmal begleitete Julie ihre Mutter in die ländliche Idylle Passys in der Nähe von Paris, die sich zum bevorzugten Wohngebiet für Vermögende und Prominente entwickelte. Dort begegneten sie vielen Berühmtheiten und Julie war erneut erstaunt über die Wirkung, die sie mit ihren 12 Jahren auf diese Persönlichkeiten hatte. Der spanische Botschafter Graf von Aranda sowie der schwedische Botschafter Erik Magnus von Staël-Holstein – beide Botschafter am französischen Hof – fanden größten Gefallen an der Unterhaltung mit ihr. Dasselbe galt für den österreichischen Staatskanzler und Botschafter Wenzel Anton Prinz von Kaunitz. Julie war es ein Rätsel, wieso sie ausgerechnet auf die namhaftesten und nicht selten betagten Staatsmänner und Diplomaten eine ganz besondere Anziehungskraft auszuüben schien.
Als sie nach England weiterreisten, war Julie begeistert von London, den schönen Bürgersteigen und der stolzen Themse. Sie genoss es, in den leichten Kutschen zu fahren und dabei von vier berittenen Wachen eskortiert zu werden, die wegen der Straßenräuber Pistolen trugen. Julies kultureller Einstand gestaltete sich allerdings wenig erfolgreich. Der erste Opernbesuch in London war vorbei, ehe er begonnen hatte. Die junge Baronesse trug selbstbewusst einen Hut, den sie in Paris von Louis Léon Herzog von Brancas geschenkt bekommen hatte. Als sie sich für die erste Loge anmeldete, erklärte man ihr, dass man dafür auf angemessene Weise frisiert sein müsse und man ihr mit einem solchen Hut keinen Eintritt gewähren könne. Die verdutzte Julie wurde vor die Tür gesetzt, höchst verwundert über die Manieren der Engländer. Am folgenden Tag schaffte es Julies Hutgeschichte auf die Titelseiten der englischen Zeitungen, was sie noch mehr brüskierte. Wenigstens wurde sie von da an den Sitten gemäß frisiert.
Generell erregte Julie in England jedoch weniger Aufsehen als in Paris und anderswo. Dies hing in erster Linie mit der Sprachbarriere zusammen. Mit ihrem Englisch, das laut Julie selbst 'mehr schlecht als recht' war, konnte sie in Diskussionen nicht brillieren. Umso mehr stand hier eine andere Frau im Rampenlicht. Die Frau, die Julie so sehr verehrte: ihre Mutter.
Ich sah die schöne und elegante Herzogin von Devonshire und andere englische Schönheiten und ich kann mich noch an das Kleid erinnern, das sie trug und ihre Diamanten noch vor mir sehen. Sie war schön und viele andere auch, aber nichts war so schön wie meine Mutter; alle eleganten Damen wollten die Kleider haben, die sie trug. Ich erinnere mich daran, dass in Paris auch die Königin, welche meine Mutter bei der Herzogin von Orléans gesehen hatte, sie um eines dieser Kleider bitten ließ, welches ihr außerordentlich gut stand und etwas Besonderes hatte.56
Anna von Vietinghoff erhielt in London sogar die einmalige Gelegenheit, einen exklusiven Blick hinter die Kulissen des britischen Parlaments zu werfen. Dank ihrer Verbindungen zu Mitgliedern des britischen Königshauses durfte sie während eines laufenden Prozesses auf der Richterbank Platz nehmen. Ebenso Julie, die ihre Mutter begleitete. Julie saß vis-à-vis dem König und in Hörweite von William Pitt dem Jüngeren (1759-1806), der an jenem Tag mehrfach das Wort ergriff. 'Er war ziemlich erstaunt, ein fremdes Kind am Richterpult zu sehen, mitten im Parlament'57, während die übrige Zuhörerschaft auf die Emporen verwiesen wurde. In eben diesen Räumlichkeiten unterstützte William Pitt der Jüngere, der der jüngste Premierminister der britischen Geschichte wurde, knapp zwölf Jahre später seinen Jugendfreund William Wilberforce (1759-1833) bei dessen erstem Antrag zur Abschaffung des britischen Sklavenhandels.
Von den verschiedenen religiösen Veranstaltungen, die sie in London besuchten, blieb Julie vor allem eine Versammlung der Quäker in lebhafter Erinnerung, weil dort eine junge Frau öffentlich sprechen durfte. Ihr Kopf war dabei – gemäß quäkerischer Tradition – mit einem weißen Schleier bedeckt.
Ende 1777 erfolgte die Rückreise nach Paris, wo Julies Eltern in einem großen Hotel in der Vorstadt Saint-Germain abstiegen, einem bevorzugten Wohngebiet des Adels. In den großen geistreichen französischen Salons um Helvétius, Diderot, d’Alembert und Grimm waren der Baron und die Baronin aus dem russischen Norden gern gesehene Gäste. Otto Hermann von Vietinghoff besuchte darüber hinaus etliche andere der bekannten Enzyklopädisten, die er glühend verehrte, sowie Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Auch das Atelier von Jean-Antoine Houdon (1741-1828), der zu den größten französischen Bildhauern des 18. Jahrhunderts gehörte, suchte er regelmäßig auf. Houdon fertigte drei Marmorbüsten von Julies Vater an. Eine dieser Porträtbüsten ist heute im Bode-Museum in Berlin zu bewundern. Bei geselligen Treffen stand jedoch auch in Paris – wie in London – unbestritten Julies Mutter im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Julie bewunderte ihre Mutter nicht nur sehr, sondern sehnte sich vor allem auch nach deren Lob und Zärtlichkeit. Sprach die Mutter ein Lob aus, errötete Julie vor Schüchternheit und Glück. Als die junge Baronesse in Paris mehrere Wochen lang nicht von ihrer Mutter umarmt wurde, betete sie eindringlich dafür. Kurze Zeit später umarmte Anna Ulrike von Vietinghoff sie tatsächlich. Julies Freude und Dankbarkeit waren so groß, dass sie Gott mit lauter Stimme und unter Tränen dafür dankte, sobald sie wieder allein in ihrem Zimmer war.
Mit Gaetano Vestris (1729-1808) erhielt Julie in Paris einen exzellenten Tanzlehrer. Der gebürtige Italiener war ein berühmter Tänzer und Choreograf an der Pariser Oper. Er gehörte zu den ersten Tänzern, die es wagten, auch ohne Maske zu tanzen, was der Mimik im Tanz einen viel höheren Stellenwert einräumte. Allein die Tatsache, dass sie eine Schülerin von Vestris war, machte Julie zu einer kleinen Sensation.
Auf der Rückreise wurden überall Bälle für die Schülerin von Vestris organisiert. Julie wurde jeweils fast ohnmächtig vor Erregung, wenn sie allein vor Publikum tanzen durfte und die Zuschauer applaudierten. Und dies, obwohl sie eigentlich gar nicht gerne tanzte, wie sie in ihren Erinnerungen einräumte. Das Tanzen gefiel Julie bloß deshalb, weil es ihr die Möglichkeit gab, im Mittelpunkt zu stehen und zu glänzen. Trotzdem fühlte sie sich von ihrem Naturell her eher zu den einfachen Dingen des Lebens hingezogen. Ausgedehnte Spaziergänge mit ihrer strengen Lehrerin machten sie zufriedener als diese Bälle, die lediglich einen flüchtigen Glückstaumel auslösten. 'Mein ganzes Wesen neigte zu sehr zur Träumerei, zu den hohen Gedanken, und wenn ich mich amüsieren wollte, rannte und hüpfte ich wie ein Kind. Eine Blume, ein Vogel, eine schöne Landschaft bereiteten mir viel mehr Freude.'58 Einmal schlief Julie nach einem Ball in Strassburg ein, ohne zuvor ihr Abendgebet zu sprechen: 'Ich war darüber äußerst bekümmert, beweinte meinen Fehler, und das Herz war zerrissen wegen meiner Undankbarkeit Gott gegenüber.'59
Zurück in Warschau rückte die 13-jährige Julie noch stärker ins Rampenlicht als zweieinhalb Jahre zuvor. Das junge Edelfräulein aus dem Norden wurde mit Anerkennung überschüttet und war der Ehrengast verschiedener Tanzveranstaltungen. Alle wollten die Schülerin des berühmten Vestris tanzen sehen. Julie sonnte sich in der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Ende 1778 kehrte die Reisegesellschaft wieder in die baltische Heimat zurück.




