E-Book, Deutsch, 239 Seiten
Sommer Gehirn, weiblich
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-79214-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unterschiede wahrnehmen, Stereotype überwinden
E-Book, Deutsch, 239 Seiten
ISBN: 978-3-406-79214-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frauen haben nicht die gleichen Gehirne wie Männer. Doch worin unterscheidet sich das weibliche Gehirn tatsächlich und was sind nur kulturelle Stereotype? Die Neurowissenschaftlerin Iris Sommer gibt einen faszinierenden Einblick in das weibliche Gehirn. Sie beschreibt, worin seine Besonderheiten und seine Stärken liegen und was daraus für die Persönlichkeit folgt.
Ob uns das gefällt oder nicht – wir werden nicht geschlechtsneutral geboren. Das weibliche Gehirn ist entschieden anders als das männliche (wie übrigens auch die weibliche Leber und das weibliche Herz). Doch längst nicht alle Unterschiede und schon gar nicht die bekannten Stereotype und die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen lassen sich darauf zurückführen, geschweige denn so rechtfertigen. Iris Sommer zeigt, dass die Vielfalt von Persönlichkeit, Geschlecht und Gender viel größer ist, als wir häufig wahrhaben wollen. Dennoch teilen wir die Menschen in Mädchen und Jungen, Frauen und Männer ein, und die damit verbundenen Klischees haben großen Einfluss auf unser Selbstverständnis. Um Gleichberechtigung zu erreichen, müssen wir lernen, zwischen tatsächlichen biologischen Unterschieden und (veränderbaren) Stereotypen zu differenzieren. Das ist alles andere als leicht, aber genau darum geht es in diesem anschaulich geschriebenen, hochinformativen Buch.
Weitere Infos & Material
1 Das Verhältnis zwischen Gehirngröße und Intellekt: je größer, desto besser?
Charles Darwin schrieb 1871 bereits über den Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Intellekt bei den Primaten, zu denen auch der Mensch gehört. Orang-Utans haben größere Gehirne als Gorillas, und Menschen haben wiederum größere Gehirne als Orang-Utans. Darwin fand es nicht mehr als logisch, dass dies stark mit der im Laufe der Evolution zunehmenden Intelligenz vom Affen zum Menschen korrelierte. Francis Galton, Darwins Cousin, der ebenfalls Entdeckungsreisender, Anthropologe und Psychologe war, vermaß Ende des 19. Jahrhunderts an der Universität Oxford den Schädelumfang von Studenten, wobei es sich seinerzeit ausschließlich um Männer handelte. Dazu maß er den Umfang auf Höhe der Stirn. Es stellte sich heraus, dass der Kopf von Studenten, die ihre Zwischenprüfung mit «cum laude» bestanden hatten, im Durchschnitt 5 Prozent größer war als der Kopf derjenigen, die diese Prüfung ohne Auszeichnung bestanden hatten. Dieses frühe Experiment Galtons ist noch häufiger in verschiedenen Varianten wiederholt worden. Jedes Mal hat sich seine Beobachtung bestätigt. Mittlerweile ist in 59 Studien die Kopfgröße von insgesamt 63.405 Personen vermessen worden. Dabei suchte man nach einer Korrelation mit einem Indikator für den Intelligenzgrad, sei es das Ergebnis eines IQ- oder Cito-Tests oder der Notendurchschnitt. All diese Studien ließen unisono einen klaren Zusammenhang erkennen: Je größer der Kopfumfang war, desto besser waren die Testergebnisse und Noten. Diese Korrelation war konsistent vorhanden, wies aber nur einen Koeffizienten von 0,2 auf, also einen recht schwachen Zusammenhang. Woraus folgt: Die Gehirngröße wirkt sich auf den IQ aus, aber diese Wirkung erklärt nur teilweise die Intelligenzunterschiede. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurden bildgebende Verfahren erfunden, zunächst die Computertomographie (CT), später die Magnetresonanztomographie (MRT). Mit einem CT und einem MRT erstellt man ein Abbild des Gehirns, daher werden sie auch als «Neuroimaging-Methoden» bezeichnet. Mit diesen Verfahren kann die Größe des Gehirns viel genauer gemessen werden als mit Francis Galtons Maßband. Ein großer Schädel lässt meistens auf ein großes Gehirn schließen, aber nicht immer. In diesem Schädel befindet sich nämlich mehr als nur Hirngewebe. Auf CT- und MRT-Bildern sind drei Teile des Gehirns zu sehen, die jeweils eine andere Grauschattierung aufweisen: die weiße Substanz, die graue Substanz und die Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit, die auf den meisten Darstellungen schwarz ist. Früher kam es zu sogenannten Wasserköpfen, großen Köpfen mit wenig Hirngewebe und viel Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit. Heute lässt sich das glücklicherweise operativ korrigieren. Die graue Substanz besteht hauptsächlich aus den Zellkörpern der Nervenzellen und ihren kurzen Ausläufern sowie aus den sie umgebenden Stützzellen (Gliazellen) und Blutgefäßen. Diese kurzen Ausläufer stellen den Kontakt zu anderen benachbarten Nervenzellen her. Die weiße Substanz wird von den langen Ausläufern der Nervenzellen gebildet, die mit anderen im Gehirn weit entfernt liegenden Nervenzellen in Kontakt stehen. Als Autobahnen des Gehirns liegen sie in dicken Bündeln nebeneinander. Diese Bündel sind häufig mit einer Isolierschicht überzogen, damit die elektrischen Signale, mit deren Hilfe sie kommunizieren, schnell übertragen werden können. Diese Isolierschicht besteht aus Fett (Myelin), das eine weiße Farbe hat, daher der Name «weiße Substanz». Zu guter Letzt gibt es noch die Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit, die auch «Liquor» genannt wird. Im Zentrum des Gehirns liegen die Ventrikel, ein System von kommunizierenden Gefäßen, die mit Flüssigkeit gefüllt sind. Dieses Ventrikelsystem fungiert als Stoßdämpfer, aber auch als Müllabfuhr. Während des Schlafes kann die Flüssigkeit tiefer in das Hirngewebe gelangen, da dabei mehr Platz zwischen den Zellen entsteht. Der Liquor spült dann die Abfallstoffe aus. Wenn man eine Zeit lang nicht schläft, sammelt sich dieser Abfall an. Vor allem Adenosin, ein Abfallprodukt der Energieversorgung, sorgt dann dafür, dass das Gehirn nicht mehr richtig funktioniert. Man ist müde, kann nicht mehr richtig nachdenken, wird emotional labil oder bekommt Kopfschmerzen. Bleibt man sehr lange wach, entwickelt man Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Schon nach wenigen Stunden Schlaf ist das Adenosin abgebaut und die Beschwerden verschwinden. Mit zunehmendem Alter verringert sich die reinigende Wirkung des Liquors, Abfallstoffe können im Gehirn zurückbleiben. Wenn sich Hirngewebe durch Krankheit oder Alterung reduziert, besetzen die Ventrikel mit ihrem Liquor den freiwerdenden Raum und werden etwas größer. Größere Ventrikel sind daher auch ein Zeichen für einen stärkeren Gewebezerfall. Horizontaler Querschnitt des Gehirns, aufgenommen mit MRT. Die graue Substanz ist außen zu sehen, die weiße Substanz in der Mitte und der Liquor tief im Inneren des Gehirns. Während die Größe des Gehirns zunächst nur etwas über die Gesamtmenge der grauen Substanz, der weißen Substanz und der mit Liquor gefüllten Ventrikel aussagt, lassen sich mit einem CT oder einem MRT die Dimensionen der verschiedenen Komponenten messen. Mittlerweile ist in 28 CT- und MRT-Studien bei 1389 Teilnehmern gemessen worden, in welchem Zusammenhang Gehirnvolumen und Intelligenz stehen. Auch hier gelangte man zur gleichen Schlussfolgerung: je größer das Gehirn, desto intelligenter der Mensch. Die Korrelation fiel in diesen Studien etwas stärker aus: Der Koeffizient lag bei 0,4, was schon einen beträchtlichen Teil der Variationsbreite des IQs erklärt. Dennoch lassen sich die größten Intelligenzunterschiede nicht durch die Gehirngröße erklären. Was bedeutet, dass es noch andere Faktoren gibt, die maßgeblich darüber bestimmen, wie intelligent ein Mensch ist. Auf diese Faktoren kommen wir zu sprechen, wenn wir nach den Unterschieden zwischen Männern und Frauen suchen. Die Korrelation zwischen Gehirnvolumen und Intelligenz ist also nicht von der Hand zu weisen. Dieser Zusammenhang wurde bei alten türkischen Männern, bei indigenen amerikanischen Schülerinnen, bei russischen Nonnen, bei schwedischen Rekruten und von Francis Galton im 19. Jahrhundert bei Oxford-Studenten gefunden. In allen Altersgruppen und in allen Kontinenten zeigt sich diese Korrelation von etwa 0,4 zwischen Gehirngröße und Intellekt. Selbst innerhalb einer Familie hängen Intelligenz und Gehirngröße zusammen. Familien mit großen Gehirnen sind durchschnittlich etwas klüger als Familien mit kleinen Gehirnen. Innerhalb von Familien sind Babys mit einem großen Kopf im Durchschnitt klüger als ihre Geschwister, die mit einem kleineren Kopf geboren wurden. Dieser letzte Befund ist wichtig. Erziehung, Ernährung, Bildung und sozioökonomische Schicht haben einen großen Einfluss auf die Intelligenz, vor allem im Jugendalter. Innerhalb von Familien wirken sich diese Faktoren in der Regel gleich aus, zumindest bei Familienmitgliedern des gleichen Geschlechts. Der Effekt der Gehirngröße auf den Intelligenzquotienten ist allerdings auch dann noch nachweisbar. Die Veranlagung zu einem größeren Gehirn ist zu einem wesentlichen Teil erblich bedingt, und Wissenschaftler haben auch bereits eine Vorstellung davon entwickelt, welche Gene dabei eine Rolle spielen. Eineiige Zwillinge, die genau die gleichen Gene haben, verfügen über fast gleichgroße Gehirne, und auch ihre Intelligenz ist nahezu identisch. Die Korrelation zwischen den IQs solcher Zwillinge liegt im Durchschnitt bei 0,8, es besteht also ein sehr starker Zusammenhang. In Minnesota ist in einer wissenschaftlichen Studie eine einzigartige Gruppe von dreiundneunzig eineiigen Zwillingen untersucht worden, die weit voneinander entfernt aufwuchsen. Es handelte sich um Zwillinge, die von einem Waisenhaus getrennt zur Adoption freigegeben wurden. Man dachte, dass ein Kind leichter zu vermitteln sei als zwei. So kamen diese eineiigen Zwillinge, die gewöhnlich sehr aneinander hängen, zu verschiedenen Adoptiveltern. Nur Zwillinge können wohl voll und ganz ermessen, wie grausam das ist. Einige waren so jung, dass sie sich später nicht mehr an ihren Zwillingsbruder oder ihre Zwillingsschwester erinnern konnten. Es erwies sich, dass innerhalb dieser Gruppe genetisch identischer, aber getrennt aufgewachsener Zwillinge die Korrelation ihres IQs sehr hoch (0,78) war, fast so hoch wie zwischen eineiigen Zwillingen, die...