E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Sommer Freunde
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7844-8258-3
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-7844-8258-3
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine verschworene Clique.
Damals, in der Provence: Vier junge Menschen voller Ideale und mit verschiedenen Sehnsüchten stürzen sich ins Leben. Joël will Künstler werden, Gina Ärztin in der dritten Welt. Pio will als Lehrer und Bastian als Politiker die Welt verändern. Heute, Jahrzehnte später in der JVA, ziehen sie Bilanz: Während sie glaubten, ihr Leben zu gestalten, schlug das Schicksal ganz schöne Kapriolen, aus kleinen Geschehnissen entstanden große Veränderungen. Warum hatte die Umarmung des Dalai Lama völlig andere Auswirkungen als die chinesischen Schriftzeichen von Ai Weiwei? Besonders präsent ist jedoch der Fünfte im Bunde, der nicht mehr da ist: Vincenz. Sein Verlust schmerzt bis heute und hinterlässt Schuldgefühle. Wie konnte es nur so weit kommen?
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PREMIÈRE SAISON – Der Dschungel ist nie still I Grattage! Unter der Sonne der Provence ist das Sklavenarbeit. Gratahsch mit weichem Schlusslaut. Stundenlang. Tagelang. Den Fäustel in der einen und den Meißel in der anderen Hand. Gina und Bastian stehen auf Leitern, Joël und ich auf einem Baugerüst. Vor uns die lange, drei Meter hohe Wand, eine gelbgraue Zumutung. Irgendwo in einer Ritze des Verputzes setzen wir den Meißel an, auf den wir den Fausthammer schlagen. Als Belohnung splittert ein klitzekleines Stückchen alten Mörtels weg. Das wiederholt sich hundert, zweihundert Mal. Unsere Finger sind wund, auch wenn wir mittlerweile mehrheitlich den Meißel treffen. Gott der Werktätigen, habe ein Einsehen! Ich habe die dreihundert Jahre alte Ruine für siebzigtausend französische Francs erworben, knapp zwanzigtausend Schweizer Franken. »Geborgt«, habe ich auf Ginas Frage nach meiner Geldquelle gesagt – erleichtert und beschämt zugleich, als sie sich damit zufriedengab. Ich habe uns zu einer Art Fluchtburg verhelfen wollen; die Gläubiger wissen nichts von dieser Leihgabe … Joël schnaubt triumphierend. Eben hat sich unter seinem Schlag ein Stück so groß wie eine Untertasse gelöst. »Paff! Habt ihr das gesehen?« »Lass uns noch was übrig!«, ruft Bastian mit der Ironie der Verzweiflung. Gina hat nicht einmal hingeblickt, sie lässt sich nicht ablenken. Dazu ist sie zu eifrig und zu ehrgeizig. Sie schafft es sogar, abends noch für ihr Fernabitur zu lernen. Joël nennt sie ein Monster der Selbstdisziplin. Ich habe Joëls Großtat gar nicht mitbekommen. Schweigend blicke ich hinaus in die wilde Garrigue, glücklich mit meiner Bidi. Die anderen halten mich ohnehin für wortkarg. In der nächtlichen Runde gestern hat Joël verkündet, warum ich bei »der gesamten Menschheit« sympathisch rüberkomme: »Pio, du bist ein Mensch, der wenig Erdoberfläche beansprucht! Deine Füße zum Beispiel: skandalös klein für deine eins neunzig. Ein schmales Gesicht hast du auch, sogar deine Ohren liegen eng an.« »Stimmt, du bist der einzig wirklich Sympathische von uns, und deine Nase ist schön schmal«, hat Gina gemeint. Ich habe um Themenwechsel gebeten. Wir vier sind »zertifizierte Revolutionäre«. Diese Klassifizierung stammt von Bastian, dem Studenten der Politologie. Er ist mittelgroß und wirkt jungenhaft, sein Gesicht ist eher rund. Überhaupt ist er ein Eher-Typ: das blonde Haar eher lang, der Mund eher breit, die Nase eher klein. Dennoch hat er eine männliche Ausstrahlung. Vermutlich liegt das an seinen eindringlich blauen Augen und an der eigenartigen Beherrschtheit um den Mund. Man bekommt den Eindruck, als müssten die Laute sich ducken, um hindurchzuschlüpfen, als schärfe er sie an den Zähnen. Doch er spricht mit angenehmer Stimme. Wenn uns die Ruine eine böse Überraschung beschert – wie vorgestern, als der Küchenboden einbrach –, sagt er bestimmt: »Mich als zertifizierten Revolutionär kann das nicht erschüttern.« Darin steckt natürlich Selbstironie, aber irgendwie fühlen wir uns immer noch als Teil der sandinistischen Revolution in Nicaragua. Vor Kurzem erst sind wir vom dreimonatigen solidarischen Ernteeinsatz zurückgekehrt. Das Pflücken der Kaffeebohnen in der heruntergekommenen Plantage war härter als die verfluchte Grattage hier. Die Arbeitstage zogen sich brutale zehn Stunden hin, danach nächtliche Patrouillengänge, weil die Comandantes Überfälle durch die von der CIA unterstützten Contras befürchteten. Wir alle hatten Angst, auch wenn wir es aus Stolz oder Feigheit nicht zugaben. Schließlich hatten die jungen Sandinos, die mit uns schufteten, im Kugelhagel gestanden, hatten Genossen verbluten gesehen. Wir dagegen kamen aus der Schweiz, einem braven Land, das einem nur geordnete Lebensläufe zugestand. Joël wollte außerdem die schöne Genossin Gina beeindrucken, die mit Vincenz zusammen war. Und Vincenz war der King. Gut aussehend, intelligent, mutig, treu, visionär – er würde es der Welt noch zeigen! Einen ersten Beweis hatte er schon geliefert, indem er einen argen Ausbeuter souverän bloßstellte – den eigenen Vater notabene! Auch deswegen hatte Gina sich in Vincenz verliebt. Grattage! Eintönige Maloche hat auch Vorteile, man kann die Gedanken schweifen lassen. Die Sonne brennt uns auf Kopf und Haut. Die Zikaden lullen uns mit ihrem irren Zirpen ein. Wir setzen an und schlagen und treffen und schlagen und denken an … Gina sorgt sich um die Mohnhaupt von der Roten-Armee-Fraktion, die lebenslangen Knast gefasst hat. Sie leidet echt mit, was wir lange nicht begriffen haben. Vielleicht malt sie sich Schlag um Schlag einen Coup aus: nur Frauen! Mit Power und List die Mohnhaupt rausgeholt! Das alte Haus hier in diesem provenzalischen Winzerdorf wäre ein ideales Versteck. Oder sie denkt an ihren Vater Pietro. Gestern ist ein Telegramm gekommen, dass er wegen einer Lungenentzündung ins Spital eingeliefert wurde. Gina liebt ihren Vater sehr. Ihre Mutter starb bei einem Unfall, als sie sieben war. Pietro, Einwanderer aus den Abruzzen, ist ein feiner Mensch und ein verlässlicher Mitdemonstrant. Als wir seinerzeit die ehemalige Villa Konrad Toblers, des Erfinders der famosen Toblerone, besetzt hielten und das Areal von Polizeigrenadieren abgeriegelt war, belieferte uns Pietro auf Schleichgängen mit Wein, Brot, Wurst und Äpfeln. Er kennt bestimmt zweihundert revolutionäre Lieder aus aller Herren Länder und kann sie jederzeit vorsingen. Und die Szene bewundert ihn seit seiner Heldentat am 21. August 1968, als der Warschauer Pakt im Morgengrauen die Tschechoslowakei besetzt hatte. Da ohrfeigte Pietro vor der Botschaft den russischen Militärattaché. Das ist bezeugt, auch wenn es nie öffentlich wurde. Drei Schläge mit verbaler Verdeutlichung: »Traditore! Maiale! Assassino!« Ob Gina mit sich ringt, nach Hause zu fahren? Trifft der Fäustel den Meißel, splittert auch ein metallischer Ton. Nur selten ergibt sich ein übereinstimmender Takt, aber wenn, dann horchen wir auf. Gerade haben wir uns wieder in diesem gemeinsamen beglückenden Rhythmus zusammengefunden, als ihn Gina mit einem triumphierenden Schrei auflöst. Sie schlägt tatsächlich eine Pause vor. Gina? Ihre Schönheit wird ihr manchmal zur Last, dann bemüht sie sich darum, unvorteilhaft auszusehen. Bindet das lange kastanienfarbene Haar zurück, schlüpft in einen weiten, graubeigebraungrünlichen Overall. Sie hat schnelle, dezidierte und beherrschte Bewegungen. So ist auch ihr Geist. Bastian wird wohl von Vitoria träumen, die in Matagalpa auf ihre Ausreise wartet. Bei seiner Sehnsucht und der derzeitigen chaleur dürften das schwüle Träume sein, erhitzte Leiber, Lust und Versinken. Vitorias wegen schwand seine Faszination für Kaffee und Ortegas Revolution. Kaum waren wir auf der Plantage, verfiel er dieser unbändig lachenden schwarzhaarigen Sandinistin und ihrer exotischen Haut. Und sie hatte ein Einsehen. Bastian will sie allen Widerständen zum Trotz im Herbst in die Schweiz holen. Weder die Fremdenpolizei noch die skeptischen Frauen seiner WG in Bern können ihn bremsen. Sonst ist Bastian, der Eher-Mann, eher abwägend und eher unschlüssig, aber nicht bei Vitoria. Auch Joël hängt seinen Gedanken nach. Mit seinen langen Haaren und dem weichen Gesicht gilt er als hübscher Kerl. Er gleiche dem jungen Brando, befand Bastian einmal. Das Urteil behagt Joël nicht, er will lieber interessant aussehen. Er hat sich angewöhnt, die Haare straff nach hinten zu binden, und neuerdings trägt er ein Brillchen mit rötlich getönten Gläsern aus Fensterglas. Dass wir das wissen, weiß er nicht. Seit ihm jemand gesagt hat, die rötlichen Gläser wirkten affektiert, hat er sich eine listige Antwort ausgedacht: »Ich habe stets die Morgenröte der Revolution vor Augen.« Im Übrigen wartet er darauf, dass seine Zukunft als erfolgreicher Künstler endlich beginnt. Die Welt liebt und lobt seine Bilder. Joël mag sich jetzt vorstellen, dass sein Fausthammer von einem Versteigerer geschwungen wird – bei Sotheby’s, warum nicht. Die Bieter übertrumpfen sich. Die Kunstwelt staunt. Aufregung im Saal. Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten. Ein neuer Rekordpreis für einen echten Joël Rauch! Ich selbst träume nicht, sondern plane. Darin liegt mehr Ordnung. Für Balken, die hochgestemmt werden müssen, benötigen wir einen Flaschenzug. Wir müssen uns einen Betonmischer besorgen. Auch sollten wir uns endlich klar werden über den Zugang zur oberen Terrasse. Bastian behauptet, als Einziger unseres Quartetts würde ich glauben, dass man sein Schicksal steuern könne. Vermutlich hat er recht. Und Gina meinte einmal, während sie mir ins wirr gekrauste Haar fasste: »Erstaunlich, dass in deinem Kopf so viel Ordnung herrscht.« Da täuscht sie sich allerdings. So könnte jeder für sich geträumt und fabuliert haben; was wissen wir denn dreißig Jahre später noch mit Gewissheit? Nicht auszuschließen ist auch, dass wir alle in derselben dunklen Gedankenwolke trieben: dass wir an den verlorenen Vincenz dachten. II Als wir fünf an einem Regentag im November 1982 in ›Findel‹, dem Flughafen von Luxemburg, die Aeroflot-Maschine nach Managua besteigen, beschleichen uns gewisse Zweifel an der Überlegenheit des Sozialismus. Alles wirkt schmuddelig, aus Rissen in den Sitzpolstern quellen braune Innereien. Joël bemüht sich, nicht an den Wartungszustand der Triebwerke zu denken, während er zunehmend hektisch versucht, die Gepäckklappe zum Einrasten zu bringen. Vincenz stopft zornig das Leselämpchen, das an einem Kabel über seinem Sitz baumelt, zurück in die...