Somek | Rechtstheorie zur Einführung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Reihe: zur Einführung

Somek Rechtstheorie zur Einführung


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96060-117-3
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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Reihe: zur Einführung

ISBN: 978-3-96060-117-3
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
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Juristische Experten geben mit ernster Miene zu verstehen, wer Rechte und Pflichten hat. Sie machen uns glauben, dass sie das tatsächlich wissen. Die Rechtstheorie geht der Frage auf den Grund, ob man diesen Wissensanspruch ernst nehmen kann. Nicht zufällig entsteht sie als Disziplin aus der Erschu¨tterung des intellektuellen Selbstvertrauens der etablierten Rechtswissenschaft. Diese Erschu¨tterung setzt an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert ein und dauert bis heute fort. Der Band von Alexander Somek bietet eine selektive und pointierte Einfu¨hrung in prominente rechtstheoretische Positionen wie den amerikanischen Rechtsrealismus, den modernen Rechtspositivismus, die Systemtheorie, den Institutionalismus, die Critical Legal Studies und die Social Choice Theory.

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2. Milder und wilder Formalismus
§ 40
Was bedeutet in einem juristischen Kontext »Formalismus«? In einem historisch spezifischen Sinn lässt sich dieser Begriff mit einer am Ende des neunzehnten Jahrhunderts verbreiteten Vorstellung verbinden. Dieser steht zunächst ein bestimmter Rechtsinhalt vor Augen. Es handelt sich um Normen, die es ermöglichen, dass in den geordneten Bahnen von Rechtsbeziehungen, wie man es im 19. Jahrhundert ausdrückte, die »freie Willkür« herrscht. Nach formalistischer Auffassung besteht das Recht im Wesentlichen aus Formen der freiwilligen Rechtsetzung und aus Haftungsregeln. Durch den Gebrauch dieser Formen können die Rechtssubjekte innerhalb bestimmter Grenzen verbindlich regeln, was sie wollen; durch Haftungsregeln erlangen sie Kompensation für erlittenen Schaden. Die paradigmatische Form des freiwilligen Verbindlichmachens ist der Vertrag. Er lässt sich für eine Vielzahl von Zwecken heranziehen. Aus formalistischer Sicht darf das rechtliche Wissen diese Zwecke nicht moralisch bewerten. Ob ein Vermieter seine Rechte gegenüber seinem Mieter in fairer Weise ausübt, ist solange rechtlich unerheblich, als er lediglich von seinen Befugnissen aufgrund und gemäß einer gültigen vertraglichen Vereinbarung Gebrauch macht. Das Recht ermöglicht die Verfolgung von Interessen und ermächtigt zur Ausübung von Willkür (oder erlaubt diese). Anwendungsfragen sind unter Rekurs auf diese Wesensbestimmung des Rechts zu klären. Deswegen begegnet man dem Formalismus im Rechtsdenken in der Form einer scharfen Grenzziehung zwischen dem juristischen Denken einerseits und dem moralisch aufgeschlossenen Abwägen von Interessen oder Werten andererseits. Formalisten glauben daran, dass sich Rechtsfragen »wertfrei« entscheiden lassen. Die Wertentscheidungen werden von Privatpersonen oder politischen Staatsorganen getroffen und in rechtliche Formen gegossen. Das rechtliche Wissen hat die rechtserzeugende Kraft des Gebrauchs dieser Formen zu respektieren. § 41
Formalisten übersetzen die Erwartung, welche willkürfreie Individuen dem Recht entgegenbringen, in eine Erwartung an dessen sprachliche Gestalt. Das Recht soll sich kalkulieren lassen. Es soll so sicher wie das Amen im Gebet sein. Die Sicherheit der Anwendung wird unter anderem durch eine präzise inhaltliche Bestimmung vermittelt. Deswegen bevorzugen Formalisten rechtliche Regeln, die an Tatbestände anknüpfen, die sich empirisch beschreiben lassen und keine Deutung von Fakten erfordern (z.B. »Was ist in dem Angeklagten vorgegangen«?). Sie deuten undeutliche Sprache als eine implizite Etablierung von Deutungshoheit. Zögling: »Ist nicht die Regel, wonach ein Vertrag nicht gegen ›die guten Sitten‹ verstoßen dürfe, nichtssagend?« Wissender: »Keineswegs; sie bedeutet im Klartext, dass die Gerichte dazu ermächtigt werden, einen solchen Verstoß zu bestimmen.« Die Präferenz für Klarheit reflektiert sich auch in einer bestimmten Erwartung an die Sprache. Stanley Fish hat sie dahingehend charakterisiert, dass aus der Sicht der Formalisten das Recht selbst eine »formale Existenz« anzunehmen wünsche. Das Recht strebe danach, »selbständig« und »selbstverständlich« auszusehen. Das Moralisieren und das Interpretieren gefährden eine solche Existenz. Sie drohen die vermeintliche Dauerhaftigkeit und Allgemeingültigkeit des Rechts zunichtezumachen. In Fishs Worten (161): Formalism is the thesis that it is possible to put down marks so self-sufficiently perspicuous that they repel interpretation; it is the thesis that one can write sentences of such precision and simplicity that their meanings leap off the page in a way no one – no matter what his or her situation or point of view – can ignore; it is the thesis that one can devise procedures that are self-executing in the sense that their unfolding is independent of the differences between the agents who might set them in motion. In the presence (in the strong Derridean sense) of such a mark or sentence or procedure, the interpretive will is stopped short and is obliged to press its claims within the constraints provided by that which it cannot override. It must take the marks into account; it must respect the self-declaring reasons; it must follow the route laid down by the implacable procedures, and if it then wins it will have done duly, with justice, with reason. (Stanley Fish, »The Law Wishes to Have a Formal Existence«, in: There’s No Such Thing as Free Speech, New York/Oxford 1994, 141–179, hier 142–143.) Fish vertritt diese These nicht. Er versucht in seiner Arbeit vielmehr aufzuzeigen, dass der Eindeutigkeitseindruck lediglich durch Mittel erzeugt werden kann, welche eine vorgängige Uneindeutigkeit verleugnen. So kann der Eindruck von Klarheit vertraglicher Sprache nur durch eine Interpretation hervorgerufen werden, die implizit und stillschweigend die moralischen Überzeugungen der Adressaten anspricht. Es ist das rhetorische Geschick des »Formalismus«, die nichtformalen Mittel, mittels welchen das Recht eine formale Existenz erhält, zu unterdrücken (beispielsweise durch den Hinweis auf eine »offensichtliche Wortbedeutung«). § 42
Mit dem Formalismus assoziiert man aber vor allem einen deduktiven Denkstil, der von seinen Kritikern als »Begriffsjurisprudenz« verunglimpft worden ist. Die Grundidee der »Begriffsjurisprudenz« ist so einfach wie bestechend. Spezielle Rechtsphänomene basieren auf Rechtsphänomenen von größerer Allgemeinheit. Zur Ausdeutung spezieller Phänomene rekurriert man auf eine vergleichsweise allgemeinere Ebene. Auf dieser findet man eine Antwort. Zögling: »Kann ein Vertragsangebot dadurch angenommen werden, dass man die vorgeschlagene Gegenleistung erbringt?« Wissender: »Die Frage lässt sich nur beantworten, indem man sich vor Augen hält, was die Annahme eines Angebotes rechtlich ist.« Zögling: »Im Regelfall erfolgt eine Annahme durch eine Willenserklärung?« Wissender: »Natürlich. Was aber ist die Ausführung der Leistung?« Zögling: »Eine Willensbetätigung?« Wissender: »Also stellt sich die Frage …« Zögling: »Kann ein Vertragsangebot durch eine Willensbetätigung angenommen werden?« Wissender: »Was müssen wir wissen, um diese Frage beantworten zu können?« Zögling: »Wir müssen wissen, was ein Vertrag ist.« Wissender: »Und was ist ein Vertrag?« Zögling: »Ein Vertrag ist ein aus zwei Rechtsgeschäften gebildetes Rechtsgeschäft.« Wissender: »Ist eine Willenserklärung ein Rechtsgeschäft?« Zögling: »Ja.« Wissender: »Ist eine Willensbetätigung ein Rechtsgeschäft?« Zögling: »Hm …« Wissender: »Das muss schneller gehen!« Wenn durch den Rekurs auf die allgemeinere Ebene Probleme gelöst werden sollen, für die keine besonderen Regeln zur Verfügung stehen, dann fragt sich, woher die allgemeinere Ebene ihren vergleichsweisen Bedeutungsüberschuss erhält. Wieso sollte also durch die Analyse des Begriffs des Rechtsgeschäfts etwas herausgefunden werden können, das noch nicht in den Regeln für besondere Rechtsgeschäfte enthalten war? An dieser Frage entzündete sich die Kritik des Formalismus seitens Vertretern der Freirechtsbewegung. Sie wollten die vorgebliche Entdeckung des Überschusses an Bedeutung, der im Allgemeinen steckt, der Anwendung eines intellektuellen Tricks überführen, den sie als »Inversionsmethode« bezeichneten. Anstatt das Besondere zum Allgemeinen zu kondensieren, werde das Besondere aus dem Allgemeinen hervorgezaubert. § 43
Ob diese Kritik wirklich das Herz der Sache trifft, hängt davon ab, ob man die begriffliche Systematisierung als dem Recht fremd erachtet. Dies dürfte in der Tat die Position der Freirechtsbewegung gewesen sein. Es gebe bloß das Gesetz. Was sich unter dessen Wortlaut nicht subsumieren lasse, indiziere eine Lücke. Im Lückenbereich herrsche »freie« Rechtsfindung. Damit sei die Moral am Wort. Demgegenüber ist festzuhalten, dass an sich nichts Skandalöses geschieht, wenn durch eine Begriffsbildung ein Bedeutungselement identifiziert wird, das bei mehreren Phänomenen auftritt. Wie Immanuel Kant in seinen Vorlesungen über Logik hervorgehoben hat, wird durch Vergleichen und Reflektieren jenes Gemeinsame entdeckt, das vermöge eines Begriffs aus den Phänomenen...


Alexander Somek ist Professor fu¨r Rechtsphilosophie an der Universität Wien. Zuvor war er Inhaber des Charles E. Floete Chair in Law am College of Law der University of Iowa und Gastprofessor u.a. an der Princeton University und der London School of Economics.



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