E-Book, Deutsch, 383 Seiten
Soloski Hier im Dunkeln
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-6454-4
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 383 Seiten
ISBN: 978-3-7517-6454-4
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vivian Parry, 32, ist Theaterkritikerin in New York, single, versnobt und berüchtigt für ihre gnadenlosen Verrisse. Nach einem Interview mit dem Wissenschaftler David Adler verschwindet dieser spurlos. Vivians professionelle Neugier ist geweckt und sie beginnt, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Doch angetrieben durch zu wenig Schlaf und zu viel zweifelhafte Selbstmedikation, verstrickt sie sich immer tiefer in ihre Rolle als Amateurdetektivin und verliert zusehends den Halt. Immer mysteriöser und bedrohlicher werden die Umstände, sie bekommt Drohbriefe und fühlt sich beobachtet - bis irgendwann sogar ihr Leben in Gefahr zu sein scheint.
Alexis Soloski ist preisgekrönte Theaterkritikerin der NEW YORK TIMES und frühere leitende Theaterkritikerin der VILLAGE VOICE. Sie hat gelehrt am Barnard College und an der Columbia University, wo sie ihren Doktortitel in Theaterwissenschaften erlangte. Sie lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, HIER IM DUNKELN ist ihr erster Roman.
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1
Unterdrückte Nummer
Als an einem nasskalten Mittwoch im November mein Telefon klingelt, bin ich im Bad. Ich bin gerade zurück von der Bank, wo ich einen Scheck eingelöst habe – im Großformat auf dicker cremefarbener Pappe –, den ich vom Testamentsvollstrecker meiner Tante erhalten habe. Ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen und nur selten über die obligatorischen Geburtstags- und Weihnachtsgrüße hinaus mit ihr korrespondiert. Der Tod kam pünktlich und ohne unnötiges Vorspiel zu ihr, was ihr sehr recht gewesen sein dürfte. Wenngleich sie für ihr Ableben womöglich einen angemesseneren und privateren Ort bevorzugt hätte als den Parkplatz eines Supermarkts an einem Spätnachmittag im Mai, kurz vorm Einsetzen des Feierabendverkehrs. Ein Herzinfarkt – Beleg dafür, dass sie ein Herz besessen hatte – soll, wie man mir sagte, ihren Körper in einer Weise umfallen lassen haben, dass sie dabei ihren Autoalarm auslöste. Der Lärm wird ihr nicht gefallen haben.
Ich hatte nicht damit gerechnet, etwas zu erben. Doch wie sich herausstellte, hatte sie ihr Erbe – ein kleines Sparkonto, eine noch kleinere Pension und die Einnahmen aus dem Verkauf ihres Hauses – zwischen mir und einem örtlichen Tierschutzverein aufgeteilt. Ihr waren Vögel stets lieber gewesen als Menschen, und das konnte ich ihr nicht verübeln. Auch wenn ich mir wirklich nichts aus Vögeln mache.
Ich brauche ihr Geld nicht. Es anzunehmen schien mir jedoch unkomplizierter als die Alternative. Und so hörte ich mit einem zurechtgemeißelten Lächeln dem Bankberater zu – einem verschwitzten weißen Mann mit rosigen Wangen und gestreifter Krawatte, von der ich unter Eid schwören würde, dass es eine Ansteckkrawatte war –, wie er mir mit einer Stimme wie ein undichter Wasserhahn einen Vortrag über Fonds und Bonds und Anlagezertifikate hielt.
»Einfach das, was am sichersten ist«, sagte ich ihm schließlich. Weil es nicht das war, was er hören wollte. Und weil ich bei manchen Dingen eben auf Nummer sicher gehe.
So fern mir meine Tante auch war – sie lebte in New Hampshire, was aus New Yorker Sicht gleichbedeutend mit einem Wohnsitz auf dem Mond ist –, so war sie doch die letzte Person überhaupt, die meine Mutter gekannt hatte, und die letzte Person, die wusste, wie ich vorher gewesen war. Ihr Tod hätte mir eine Einladung sein können, mich vollständiger in das kleine Leben zu vertiefen, das ich mir eingerichtet hatte, oder nun unbeschwert aus diesem heraus in ein neues, größeres zu treten. Endlich wirklich ganz zu leben. Und ein Teil von mir – das Sehnsüchtige, Wilde in mir – muss das wollen. Doch als mich die Nachricht von ihrem Tod erreichte, trat ich nirgendwohin und blieb stattdessen auf meinen gewohnten Wegen in ausgewählte Theater und dann zurück in meine Wohnung und gelegentlich in eine schummrige Bar, um etwas Abwechslung in die Szenerie zu bringen.
Der Testamentsvollstrecker hatte mir auch zwei vergilbte Fotoalben zugeschickt, in denen meine Tante und meine Mutter als Kinder und Jugendliche und junge Frauen zu sehen waren – mit langen Gliedern, mit Sommersprossen und lebendig. Ich blätterte sie einmal durch und schob sie dann in das höchstgelegene Regalbrett, wo sie bis heute liegen.
Wenn ich die Art Person wäre, die sich selbst ein ausgeprägtes emotionales Leben erlauben würde – also, tagsüber jedenfalls –, dann würde ich mich wohl einsam gefühlt haben, verwaist, verlassen. Stattdessen widmete ich mich meinem Notizblock und meinem Laptop wie nie zuvor. Ich schrieb und überarbeitete das Geschriebene, bis jeder Absatz glitzerte, leuchtend wie Diamanten und doppelt so scharf, was nur ein klein wenig schärfer war als gewohnt. Das ist Segen und Fluch der kritischen Grundhaltung, des ununterdrückbaren Impulses, die Wahrheit eines Kunstwerks wiederzugeben, ganz gleich, wen diese Wahrheit auch beleidigen mag. Diese Bühnen haben mich eingeladen. Sie wollten Kritik. Die Stücke hätten besser ausgearbeitet, besser konstruiert, überzeugender sein können. Sie waren es aber nicht. Also war ich nun hier, um ihnen die Kritik zu geben, um mit jedem cleveren Witz und jedem böse gesetzten Urteil der Position des Chefkritikers näher zu kommen.
Der Job war nun seit zwei Monaten vakant, seit Crispin »Crispy« Holt – Spross einer schwerreichen Bostoner Familie, der Princeton entflohen war, als er das erste Mal das Living Theatre (im Verbund mit hochpotentem LSD) ausprobiert und danach jahrzehntelang für das Magazin Kritiken verfasst hatte – endlich seinen Ruhestand verkündete. Der Flurfunk besagt, dass er sein ererbtes Vermögen in eine karibische Steueroase verschoben hat, wo er nun Flashbacks und den einen oder anderen Poolboy in tropischer Leichtigkeit genießen kann. Ich kann dieses Gerücht nicht bestätigen. Doch da ich als Frau keinen Stimmumfang von vier Oktaven erreichen kann, wurde ich von Crispy nie beachtet. Für meinen vorgesetzten Redakteur, Roger, war ich jedoch eine Art Protegé, und ein Mädchen aus der Gegend war von Vorteil und brachte mehr Clicks. Ich war mir sicher, dass er mich sofort für den Job vorschlagen würde. Stattdessen bringt er nun meine Kolumne mit jener von Caleb Jones, dem anderen Junior-Kritiker, im Wechsel. Caleb hat einen frisch gestempelten MFA-Abschluss in Theaterdramaturgie, ein blendendes Lächeln und das ästhetische Urteilsvermögen eines Wurstsalats. Ich hingegen habe einen unfassbar guten Geschmack. Und einen flotten, austeilenden Stil. Roger wird schon noch Vernunft annehmen. Irgendwann.
An diesem Morgen zeigte mir der Bankberater schließlich einen Stapel Papiere, und ich füllte aus und unterschrieb, füllte aus und unterschrieb, reichte ihm dann seinen Stift zurück (ich habe bessere zu Hause) und verschwand hinaus auf den Gehsteig, ging schließlich die fünf Stockwerke hinauf in meine Wohnung. Ich goss mir einen Drink ein, da meine Tante Alkohol nicht guthieß, und auch weil ich in letzter Zeit häufiger trank – das muss ich, denn die Pillen funktionieren nicht mehr so wie früher. Und dann ließ ich mir ein sehr heißes Bad ein, um irgendwas oder nichts mehr zu spüren oder beides zugleich, und ich lehnte den Kopf zurück, bis das Wasser meine Ohren füllte und die Stadt leise und weit entfernt schien.
Plötzlich aber geht mein Handy – der schrille Klingelton der Grundeinstellung, die ich einfach nie verändert habe –, es brummt, verstummt und erklingt erneut, sodass ich es selbst hier im Bad höre. Es ist eher selten, dass Scammer zwei Mal hintereinander anrufen. Möglicherweise ist es also Roger, sage ich zu mir selbst. Er hat vielleicht noch eine finale Nachfrage oder will ein Ansichtsexemplar durchgehen. Also steige ich aus der Wanne, um dranzugehen.
Tropfen fallen auf das Porzellan, während ich mich mit wackligen Beinen erhebe und mich an der Wand abstütze, bis mein Blutdruck sich wieder erholt hat und die schwarzroten Flecken vor den Augen verschwinden. In ein dünnes Handtuch gewickelt, hüpfe ich ins Wohnzimmer – ich wohne in einem Studio, es ist also eigentlich nur ein Zimmer – und greife nach dem Handy in meiner Tasche. Ich habe zwei Anrufe vom Magazin verpasst. Von der Hauptleitung, nicht von Rogers Durchwahl. Ich rufe zurück, und unser Rezeptionist Esteban geht dran.
»Vivian hier«, sage ich und senke meine Stimmlage, bis sie leicht nach Goth klingt. »Du hast angerufen?«
»Schönheit«, zwitschert er, »wo hast du denn gesteckt?«
»In meinem Anwesen. Ich streife in meinem samtenen Bademantel durch meine Gemächer und trauere darum, dass du für die Frauenwelt verloren bist.«
Er kichert in einer Höhe, die Kristallglas in Gefahr bringt. Er weiß, dass meine Wohnung zu klein für Gemächer ist. Er weiß auch, dass ich keinen samtenen Bademantel besitze.
»Arme Bebita«, sagt er. »Tja, vielleicht habe ich einen Trostpreis. Ein Mann ruft ständig für dich an. Sexy Stimme. Also, sehr sexy.«
»Du hast ihm doch wohl nicht meine Nummer gegeben?«, sage ich und ziehe das Handtuch fester zu.
»Tss, Bebita. Etwas Vertrauen, bitte. Ich habe es mit deiner E-Mail-Adresse versucht, aber er sagt, dass er unbedingt mit dir sprechen will.«
»Zehn zu eins, dass das ein PR-Typ ist.«
»Ein sexy PR-Typ.«
»Ist doch absurd. Unmöglich. Verstößt gegen jedes Naturgesetz.«
»Mag sein, Bebita. Aber das ist nun dein Problem.«
Er teilt mir den Namen des Mannes mit, David Adler, und gibt mir seine Telefonnummer, die ich mir lustlos in das nächstliegende Notizbuch schreibe, während meine tropfenden Haare das Blatt wie Tränen besprenkeln. Ich lächle mich durch »Danke« und »Bis bald« und lasse meine Gesichtszüge mit dem Ende des Telefonats erschlaffen.
Nachdem ich mich in meine Klamotten gefriemelt habe, fläze ich mich in den Sessel und balanciere den Laptop auf den Oberschenkeln. Ich suche in meinen E-Mails nach »David Adler« und wiederhole die Suche im Papierkorb. Ohne Erfolg. Er hat also nichts mit einem Stück oder Musical zu tun, das ich kürzlich rezensiert habe. Zumindest weiß ich von keinem. Also muss es sich um einen unerfahrenen Regisseur oder einen jungen PR-Angestellten halten, der mich dazu bringen will, irgendeine Inszenierung so weit off-Broadway zu rezensieren, dass keine U-Bahn dort nur ansatzweise haltmacht. Mein Desinteresse kennt somit keine Grenzen. Man kann in seinem Leben einfach nur eine bestimmte Anzahl gescheiterte Aufführungen ertragen, ohne zugrunde zu gehen.
Dennoch denke ich an das, was Roger immer sagt. Dass er es bevorzugen würde, wenn meine Rezensionen einfühlsamer wären, oder wenn...