E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Sösemann / Wolff »Es ist im Grunde eine schöne Zeit«
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8353-4265-1
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vater-Tagebuch 1906-1913. Mit ausgewählten Dokumenten
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-8353-4265-1
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Richtige, frische, sonnige, lustige, erwärmende - wenn auch etwas turbulente Kinder.«
(Theodor Wolff)
Theodor Wolff (1868-1943) war nicht nur einer der großen Journalisten seiner Zeit und 1918 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei - er war im Privaten auch ein engagierter Vater. In seinem »Vater-Tagebuch«, das erst kürzlich entdeckt wurde und nun erstmals veröffentlicht wird, schildert er mit journalistischem Ton und feiner Ironie die ersten Jahre seiner drei Kinder, changierend zwischen liebevoller Bewunderung und erzieherischem Anspruch. Es ist die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der Wolff von seinem Cousin, dem jüdischen Verleger Rudolf Mosse, mit der Leitung des Berliner Tageblatts betraut wird - und bald feststellen muss, wie schwer es ist, Familie und Beruf zu vereinbaren. Das Tagebuch zeugt nicht nur von erstaunlicher Aktualität, sondern auch von literarischer Qualität und großem Unterhaltungswert. Ergänzt wird es durch Dokumente, Korrespondenzen und Fotografien, die den Einblick in das Ehe-, Familien- und Freundesleben erweitern.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Theodor Wolffs Vater-Tagebuch
1906-1913
»Richtige, frische, sonnige, lustige, erwärmende –
wenn auch etwas turbulente Kinder« (Theodor Wolff im Vater-Tagebuch, 1. August 1913) Meines Sohnes Tagebuch. Begonnen: Paris, den 16. Juni. 1906. Paris, 16. Juni 1906. Mein lieber Sohn! Du bist heute zwei Tage alt, deine Anwesenheit macht sich mehr und mehr bemerkbar und ich fühle das Bedürfniss, mich mit dir zu unterhalten. Denke nicht, dass ich dir gute Lehren erteilen und dir von deinen Pflichten und aehnlichen Dingen sprechen will – du würdest dieses Buch vermutlich nicht weiter lesen und die schöne Harmonie könnte leiden, wenn einer von uns beiden den Pädagogen spielen wollte. Du hast heute früh begonnen, an der Brust deiner Mutter den warmen, von der göttlichen Natur bereiteten Nahrungsstoff in dich auf zu nehmen, du hast dich mit deinen kleinen suchenden Lippen erst etwas verständnisslos und dann recht begierig dem Urquell zugewendet. Und ich vertraue erheblich mehr auf all’ das Gesunde, Klare und Wundervolle, das du, mein lieber Dick, dort einsaugen musst, und auf die segensvollen Kräfte, die heute schon in dir ruhen müssen, als auf trockene Moralpredigten und alle Hülfsmittel der Dressur. Als mir vorgestern Nachmittag, zehn Minuten nach zwei, der kluge, treu wachsame Arzt deine glückliche Ankunft gemeldet, fand ich dich an der Seite deiner Mutter, in ihrem Arm, versteckt unter der Bettdecke, die man dir waermend ueber das Köpfchen gezogen hatte. Schon ehe ich eintrat, hatte ich deine Stimme gehört – lang gezogene Töne, die wie ein dünnes, feines »ä« klangen – und du weisst nicht, welch’ ein beseeligender Zauber in dieser Musik lag und wie beruhigend und befreiend sie nach drei bangen, angstschweren Stunden wirkte. Aber du weisst noch weniger, und ich kann es dir auch nicht schildern, welch’ eine himmlische Schönheit, welch’ eine leuchtende Sonne von dem Bette ausstrahlte, in dem du, umhütet und umschmiegt vom Arm deiner Mutter, unter den Decken kauertest. Ich habe auf mancherlei Fahrten sehr viel Schönes, Ueberraschendes und Erhebendes gesehen, habe den traumhaftesten Sonnenuntergang geschaut, der die Eisdecke des nordischen Wintermeeres violett färbte, und die Säulentempel der Akropolis, die sich rötlich schimmernd vom wunderblauen griechischen Himmel abheben. Das Alles war leer, aermlich und äusserlich, verglichen mit dieser aus der Tiefe kommenden Lichtflut, mit dieser herrlichen, grossen und heiligen Offenbarung des Mutterglücks. Ich würde dir gern noch mehr von deinen ersten Lebensminuten erzählen, aber indem ich dir das Bild, das ich gesehen, zu malen versuche, empfinde ich die ganze Schwäche des Wortes. Und ich empfinde nicht nur die Schwäche des Wortes, sondern auch unsere peinliche Schwäche, die meinige und die deinige, mein lieber Dick, und die Schwäche aller Männer. Wie weit bleibt Alles, was wir mit Geist, Phantasie und Verstand etwa zu erzeugen vermoegen, hinter dem schöpferischen Werke der Frauen zurück, wieviel dürftiger und kälter ist auch die Zeugungsarbeit der Groessten unter uns und wieviel unergründlicher und geheimnissvoller ist die Mission der Frauen! Wenn ein Künstler, oder ein Dichter seine Schöpfung vollendet hat, dann wendet er sich fremd von ihr ab und das Band, das ihn solange mit seinem Gebilde verknüpfte, zerreisst am Tage der Verwirklichung. Die Frau, die wahre Frau, hat ihr ganzes Sein und ihres Lebens Inhalt in das entstehende Werk ergossen und die Fäden, die sich geknüpft haben, wurzeln unlösbar im Innern. Der Künstler ist stolz, oder unzufrieden, selbstbewusst, oder zweifelnd. Er spürt nichts von der grundgütigen, lichten und feierlichen Seeligkeit, mit der deine Mutter behutsam die Decke emporhob und lächelnd sagte: »Willst du ihn sehen?« Damit du beim Lesen dieser Zeilen nicht auf irrige Gedanken kommst und nicht eitel schmunzelst, muss ich dir erklaeren, dass du selber noch keineswegs der Inbegriff der Schönheit warst. Die Athene ging fertig aus dem Haupte des Zeus hervor, Aphrodite erhob sich liebreizend aus dem Meeresschaum, uns Anderen aber ist, nach dem Worte eines Dichters, den du spaeter noch lesen wirst, ein »Erdenrest, zu tragen peinlich«. Als du, mein lieber Sohn, deinen Einzug in die Welt hieltst, warst du, wie viele andere Lebensdebütanten, ein wenig verbeult und schraeg ueber deine Stirn zog sich ein langer roter Streifen – die erste Schmarre, die du im Kampfe um’s Dasein davongetragen. Zunächst fiel uns auf – und der Doktor hob es immer wieder rühmend hervor – dass dein Kopf sehr umfangreich und sehr kräftig entwickelt war. Dein Haar war dunkelblond, wie das Haar deiner Mutter, und deine Glieder waren rundlich und wohlgebildet. Gleich im ersten Moment deines Lebens öffnetest du ohne jede Schüchternheit die Augen, und du blicktest um dich, ohne noch zu sehen, genau wie manch’ preussischer Staatsbürger in weit reiferen Lebensjahren. Auf die Gefahr hin, dich durch ein etwas animalisches Wort zu verletzen, will ich dir sagen, dass du dich seither bereits erfreulich gemausert hast. Ohne jene törichte Schönfärberei, in der die meisten Väter sich gefallen, habe ich deiner Grossmutter – der besten aller Grossmütter – heute telegraphisch und brieflich berichten können, dass du einige Veranlagung hast, ein Mensch von angenehmem Äussern zu werden. Besonders wenn du in dem Wagen liegst, den deine Grossmutter dir geschickt hat, und deine kleine runde Nase in das weisse Kissen drückst, erscheinst du mir hübsch und ich ertappe mich dann bei uebertriebenen Ausrufen der Bewunderung. Deine Wange ist zart und gewölbt, wie das äussere Blatt einer rosafarbenen Rose, deine Stirn ist stark und nicht ungünstig geformt und die massive Gestaltung deines Hinterkopfes braucht nicht als ein Schönheitsfehler zu gelten. Du hast ein weiches, etwas zurückgezogenes Kinn, einen zierlichen, aber kräftigen Mund mit vollen Lippen und deine Mutter rühmt deine kleinen Hände, deren lange schmale Fingerchen blitzblanke rosige Nägel mit scharfkratzigen weissen Rändern haben. Wenn du wachst und häufig auch, wenn du schläfst, greifen diese lieben Hände auf dem Kissen und in der Luft umher und geleitet von einem geheimen Instinkt, scheinst du so den Gebrauch deiner Glieder zu erlernen. Deine Lippen öffnen und schliessen sich, bisweilen spitzst du den Mund und bisweilen geht ein leises Zucken über deine Stirn, als müsstest du schon schwere Gedanken verarbeiten. Wie möchte ich dich behüten, mein lieber Dick! Du hast noch keine Gedanken und auch die meisten deiner Sinne schlummern noch. Ich möchte, dass du immer nur gute, helle und tapfere Gedanken haben solltest. Die Natur hat uns so grosse Wohltaten erwiesen – sie wird weiter wohltätig sein und mir erlauben, dir den Weg zu solchen Gedanken zu zeigen. Aber der Tag ist noch fern, an dem du, mein künftiger Wahrheitsucher, das alles lernen wirst, und einstweilen lerne ich nur von dir. Ich lerne von dir das Wunderbarste, das wahrhaft Göttliche, ich lerne von dir, was wir lernen können, ohne es jemals zu begreifen. 17. Juni. Seit gestern bist du ein Mitglied der Gesellschaft, denn du hast einen Geburtsschein und deine Papiere sind in Ordnung. Ich bitte dich, nie zu vergessen, dass du früher ein Mensch, als ein Mitglied der Gesellschaft geworden bist. Am Vormittag kam der städtische Arzt, der bescheinigen sollte, dass du wirklich vorhanden und dass du ein Knabe wärest, denn die Behörden neigen, aus mancherlei Gründen, zu misstrauischer Vorsicht. Der Arzt war ein liebenswürdiger, beweglicher Herr, der es sehr eilig hatte und mir und sich selber gern alle lästigen Ceremonieen ersparte. Er trat in mein Zimmer, richtete einen bewundernden und liebenden Blick auf die Bibliothek an der Wand und erklärte, dass es sehr wohltuend wäre, soviel schön gebundene Bücher zu sehen. Ich fragte ihn, ob er nicht auch dich zu betrachten wünschte, aber er lehnte mit hastiger Höflichkeit dankend ab. Während er die Namen in seine Meldezettel eintrug, schielte er nach dem Rousseau und nach den Werken des wackeren Lebenskünstlers Montaigne. Mit einem leichten Seufzer, mit dem flüchtigen Bedauern eines Vielbeschäftigten musterte er die Büchertitel und nachdem er noch gesagt hatte: »Ja, ja, das sind die schönsten Stunden des Lebens!« und nachdem er mir verbindlich zu meiner Bibliothek und zu meinen Vaterfreuden gratulirt, verschwand er liebenswürdig, bedauernd und eilig. Du bist im Hause 46 Boulevard Haussmann zur Welt gekommen, gegenüber der Grossen Oper, und die Mairie des Opern-Arrondissements, in der ich deine Ankunft meldete, liegt in der Rue Drouot. Diese Mairie, in der vor drei Jahren deine Eltern getraut wurden, ist ein vornehmes altes Gebäude im ruhig graziösen Stile Louis Seize, ohne schwerfälligen Prunk und ohne moderne Verquältheit. Ein köstlicher Mittelbau und zwei neuere Seitenflügel umgürten den Hof mit einer fast zu zierlichen Statue Voltaires und eine geräumige Treppe mit bronzenem Empire-Geländer führt zu den Zimmern der Registerschreiber hinauf. Dort bist du, mit sauberer...