E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Sánchez Tenochtitlan
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-293-30444-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die letzte Schlacht der Azteken. Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-293-30444-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
José León Sánchez, geboren 1930 in Costa Rica, war mit 19 Jahren an einer Aktion beteiligt, bei der von den Spaniern geraubte Schätze zugunsten der Ureinwohner entwendet werden sollten. 20 Jahre verbrachte er daraufhin in Haft. Dort lernte er Lesen und Schreiben und verfasste seinen ersten Roman. Sánchez war Professor für präkolumbianische Kultur an der Universität von Costa Rica. Viermal erhielt er den nationalen Literaturpreis für seine Werke, u. a. für Tenochtitlan. Er starb 2022.
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I
Der Priester Schwarzes Gesicht legte die Hand auf meinen Kopf und sprach: »Du wirst ein Amoxua, ein Herr der Bücher, sein und eines Tages unser Herr Schwarzes Gesicht.«
So sprach zu mir der Priester, als ich zwölf wurde und schon drei Jahre die Tempelschule, das Haus des Wissens, besuchte, in der ich unserem Herrn Quetzalcóatl diente. Mein Vater, Rauschender Wind, sah mir mit einem Blick, der mir endlos erschien, tief in die Augen und fügte hinzu: »Du stehst in der besonderen Gunst des Herrn Schwarzes Gesicht, und nichts zwischen den Ufern der Zeit soll dir verborgen bleiben. Du wirst weise sein wie die Brücke, die mit dem Wasserschwall von Chapultepec einherkommt, und du wirst die Weisheit entdecken, die in jedem Stein verborgen ist auf dem Weg, der zum Volk der Tlaxcalteken führt und vom Volk der Tlaxcalteken zum Land der Früchte, wo das Meer mit dem Himmel verschmilzt und unendlich wird und wo die Totonaken leben.«
An jenem Tag, an jenem Abend, in jener Nacht wich meine Mutter nicht von meiner Seite, als wüsste sie bereits, was geschehen würde und was dann auch geschah: dass mein Vater, der Tequitlato aus dem Haus der Weisen, am anderen Tag fortgehen würde, um den Tanz gegen einen Ort der Tarasken anzuführen und nie wieder heimzukehren. Schon am nächsten Morgen, als die Reiher gerade anfingen, zwischen den Fischnetzen in der großen Lagune von Tenochtitlan ihr Spiel zu treiben, hatte sie sich das Gesicht und die Hände und den Kopf mit Asche bestreut, wie es die Frauen zu tun pflegten, deren Männer in den Krieg zogen, denn dann bestand Gefahr, dass sie nicht zurückkehrten. Und so geschah es. Mein Vater kehrte nicht wieder von dem Krieg gegen die Bewohner von Michoacán heim, und meine Mutter lebte viele Jahre mit kurzgeschorenem Haar und Asche auf den Händen und den Augen und dem Kleid.
Danach trat ich in das Tepuchcalli, das Jungmännerhaus, ein, um die Geschichte der Amoxua zu lernen und die Weisheit der Tequitlato, welche die Gabe besaßen, in den farbigen Bilderhandschriften die Geschichte der Zeit zu lesen. Die Geschichte der gelben Knoten. Die Geschichte der blauen und weißen und roten Knoten, in denen die Weisen alles festhielten, was sich seit der Zeit unseres Herrn Moctezuma, unseres Herr Tizoc, unseres Herrn Nezahualcóytl ereignet hatte.
Bis der Tag kam, an dem meine Mutter ihre Hände, ihre Augen und ihr Gesicht von der Asche reinigte und ein Kleid anzog, das mit weißen und roten, roten und grünen, grünen und blauen Schmetterlingen geschmückt war. Wir bereiteten uns auf das große Fest der Mutter der Ernten vor, denn dies war der Tag, an dem sich für meine Schwester Schmetterlingsflügel das Schicksal erfüllen sollte, das ihr von Geburt an vorbestimmt war: unsere kleine Mutter Hoffnung, unser kleiner Morgenstern zu werden und ihr Blut dem Gott mit dem hölzernen Bein darzubringen, unserer Gottheit im Großen Tempel.
Unser Haus füllte sich mit Besuchern. Die Leute kamen, um für meine Schwester Dinge zu erbitten und mit ihr zu lachen. Schmetterlingsflügel war außer sich wegen der großen Freude, die sie im Herzen fühlte.
»Morgen werde ich ein Teil des Gottes sein«, sagte sie ein um das andere Mal, bis ihre heiteren und schönen Augen vor Tränen ganz feucht wurden.
An jenem Abend vor dem Tag, an dem meine Schwester für immer zu den Regionen des Lichtes aufbrechen sollte, beteten wir in Dankbarkeit für meinen Vater, der die Weisheit besessen hatte, meine Schwester als Opfergabe dem Herrn Schwarzes Gesicht darzubieten, dem Gott mit dem hölzernen Bein, der alles weiß, der den Lauf der Welt bestimmt und den Himmel und das Land rund um den großen See erhalten hat, damit die Menschen ihn verehren. Es war das erste große Glück, das mir in meinem Leben widerfuhr.
Das Fest ist eine bleibende Erinnerung in meinen farbigen Knoten. Und die Zeremonie, mit der wir unsere Schwester verabschiedeten, löste bei meiner Mutter Tränen unendlicher Freude aus, die bis zum letzten Tag ihres Lebens nicht versiegten.
Eine Blumenkarawane geleitete meine Schwester bis zum Großen Tempel. Ich erinnere mich, dass sie ein Kleid aus weißem Papier trug, auf das blaue Schmetterlinge geprägt waren. Und die Mädchen, die sie begleiteten, trugen gleichfalls Papierkleider, verziert mit bunten Schmetterlingen, die genauso aussahen wie jene, die wir als Kinder zwischen den Binsen fingen. Vor Beginn des Rituals setzte der Tanz ein. Als Mutter eines blauen Schmetterlings eröffnete unsere Mutter den Tanz.
Die Jungen umringten uns im Halbkreis. Sie trugen einen Kopfschmuck, an dem rote Tonglöckchen hingen. Ihnen gegenüber befand sich der Chor von jungen Mädchen, auch blaue Glöckchen genannt. Beide Gruppen bildeten so viele Reihen, wie ein Regenbogen Farben hat. Die jungen Männer bliesen gegen die kleinen Glocken, die vor ihnen in Augenhöhe an roten Schnüren baumelten. Und jedes Mal, wenn ein Junge blies, schaukelte das Glöckchen hin und her und machte pling, pling, pling … Und in der Mitte des Kreises tanzte meine Schwester Schmetterlingsflügel den Tanz, den sie so viele Male geübt hatte.
In geordneten Scharen drängten die Menschen, Einwohner aus den verschiedensten Stadtteilen von Tenochtitlan und Tlatelolco, herbei, um an dem Geschehen teilzuhaben. Hoch oben, auf der letzten Stufe des Großen Tempels, warteten die würdigen Priester in ihren schwarzen Gewändern mit den Obsidianmessern.
Schmetterlingsflügel tanzte den Tanz des Samenkorns, während die Mädchen des Chores den Abend belebten und die Farben des Regenbogens nachgestalteten. Die erste Reihe war ein einziger Glockenklang. Die zweite ahmte den Pfiff jener geheimnisvollen Vögel nach, die aus dem Land der Früchte und dem Land des Windes kamen und auf den Märkten angeboten wurden. Die nächste Reihe seufzte wieder wie kleine Glöckchen. Wirklich, es war etwas Wunderschönes, und die Leute genossen es mit großer Andacht.
Schmetterlingsflügel begann die Geschichte des Samenkorns zu erzählen. Und sie schien in ihrem Tanz zu wachsen, so wie der Verolis wächst. Sie war schön wie eine aufbrechende Blüte.
Und sie tanzte wirklich einzigartig, als sie die Frucht der Pflanze darstellte. Danach überschüttete eine Gruppe Jungen sie mit Wasser. Die blauen Blumen und Schmetterlinge auf ihrem Gewand zerflossen, und das weiße Papierkleid war ganz und gar mit blauen Tupfen übersät. Meine Schwester setzte ihren Tanz fort. Das Papierkleid wurde nass und nasser, bis es am Ende zerriss und von ihr abfiel, so dass nur noch ihr schöner nackter Körper zu sehen war. Und nackt tanzte sie weiter, bis sie sich endlich über den Boden beugte und die feuchte Mutter Erde küsste.
Das währte nur einen kurzen Augenblick, denn schon forderte sie der Anführer der Priester auf, zum Tempel emporzusteigen, wo die fünf Herren Opferpriester sie erwarteten, auf dass sie die tiefe Freude empfinde, ihr jungfräuliches Herz dem Gott der Götter und dem Gott des Regens und der Göttin der Ernte darzubringen, so wie es von jeher Brauch gewesen ist bei unserem Volk in Tenochtitlan.
In Tenochtitlan, dem Ort in der Lagune, wo die Wasserlilien ihre Blüten dem Lichte entgegenstrecken.
Die Opfergabe meiner Schwester Schmetterlingsflügel hat sich mir ins Gedächtnis gegraben wie die schönste Seite aus dem Buch der Weisheit, dem Buch der Grünen Verse im Haus des Wissens von Texcoco. Und sie war die letzte Freude meiner Mutter, die von da an nur noch von großen Erinnerungen lebte. Die erste Erinnerung war die an unseren Vater, den die Feinde von Tenochtitlan ergriffen und gezwungen hatten, sein Herz dem Gott des Sees darzubieten. Die letzte war die schöne Opfergabe meiner Schwester, der Herrin Schmetterlingsflügel, die an einem sonnigen Abend ihr kleines Herz den Göttern schenkte.
Jahrzehnte später war ich in der Schule der Erwachsenen dazu berufen, mein Amt auszuüben. Zu jener Zeit war mein Haar bereits ergraut und mein Augenlicht trüb. Aber wahr ist auch, dass es nichts gab, was meine Augen noch hätten sehen müssen, da ich bereits alles kannte und wusste, so wie mein Vater es vorausgesagt hatte.
Ich war einer der Weisen von Tenochtitlan, Texcoco, Tlatelolco und Cholula. Ich wusste, was geschehen würde. Ich wusste auch, was geschehen war und in den Büchern der Weisheit stand. Der Herrscher, genannt Tlatoani, der Sprecher, und sein Rat der Dreißig konsultierten mich in vielen Fragen.
Ich kannte das Schicksal der Dammstraße von Cuepopa, dem Ort im Nordosten, wo die Blumen blühen; ich wusste um das Geschick des Dammwegs von Moyotlan, dem Ort der Stechmücken, im Südwesten gelegen, wo Tausende Kinder, Männer und Frauen sich vom Fang kleiner Mückeneier ernährten; ich habe die Straße nach Südosten vor Augen, nach Teopan, dem Ort der Götter, wo sich der Heilige Bezirk des Großen Tempels erhob; und auch die nordwestliche Dammstraße, die nach Aztacalco führt, dem Ort, wo die Reiher nisten.
Und jetzt, da alles so gekommen ist, wie die Bücher weissagten, jetzt, da Tenochtitlan, die große Stadt von Mexiko, nicht mehr existiert; jetzt, da man uns, die Bewohner dieser großen Stadt, wie den Stein am Wege zählt, jetzt stelle ich mir die gleiche Frage, die auch andere mir zu stellen pflegen: »Wie war der Anfang der Geschichte? War er schön?«
Es ist ein Morgen, ein Morgen so goldgelb wie ein Maisfladen auf dem Comal, der tönernen Backplatte. Der Wind streicht über den Texcoco-See und fächelt sanft die blühenden Binsen. Es ist ein zarter Wind, einer...




