Smith | Von Gleich zu Gleich | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Smith Von Gleich zu Gleich

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-19968-5
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-641-19968-5
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Engländerin und eine Schottin – kann das gehen?

Ein faszinierender, ungewöhnlicher Liebesroman voller Rätsel und raffinierter Spiegelungen: Die Geschichte von Amy und Ash, einer Engländerin und einer Schottin, deren Begegnung in jungen Jahren so intensiv ist und so dramatisch endet, dass sie ihr ganzes späteres Leben bestimmt.

Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei Luchterhand der Roman »Gefährten«.
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Amy


Amy steht an der Bahnsteigkante und sieht hinunter auf die Gleise. Sie sind sauber und silbern, es sind wohl die Räder der durchfahrenden Schnellzüge, von denen sie so glänzen. Stumpfe Holzschwellen liegen zwischen den Gleisen wie die Sprossen einer Leiter. Über Amys Kopf zanken sich Spatzen in den Dachsparren des Bahnhofshäuschens. Holzrauch liegt in der Luft, oder irgendwo verbrennt jemand Laub.

Solche Städte sind die besten. Züge halten hier nicht immer. Manchmal fährt einer durch und vorbei, ohne auch nur seine Geschwindigkeit zu verringern, so schnell, dass die Lautsprecherstimme die Leute ermahnen muss, von der Bahnsteigkante zurückzutreten, damit sie nicht mitgerissen werden.

Amy dreht den Kopf in die eine Richtung, wo sie weit in die Ferne sehen kann, so als führte sie direkt in den Himmel. Auf der anderen Seite erstreckt sich die Ferne in die entgegengesetzte Richtung, durchschneidet mit einer geraden Linie aus Licht und Raum die künstlich errichteten Ränder der Stadt. Sie stellt sich den tunnelförmigen Raum vor, der an den Wohnungen und Häusern und den nur aus Fenstern bestehenden Bürotürmen vorbeiführt, durch das heruntergekommene Gewerbegebiet, wo es nach brennenden Reifen riecht, und hinaus in schäbiges offenes Land.

Sie hat die Füße so weit über die Bahnsteigkante hinausgeschoben, wie es geht. Wippt auf den Fersen, testet sich. Aber es werden schon Leute auf sie aufmerksam, es könnte sie jemand erkennen, und wegen Kate tut sie deshalb so, als suche sie unter der Bahnsteigkante nach etwas, das sie fallen gelassen oder verloren hat. Nein, nichts zu sehen. Ist es das? Na schön, dann ist es eben weg. Sie gibt auf, tritt zurück und geht unter der viktorianischen Uhr durch, die über der Automatiktür zur Eingangshalle hängt. Ein Blick zur Uhr. Sie darf nicht zu spät zu Kate kommen. Das muss aufhören.

Amy Shone. So ein Nachname verfolgt dich dein Leben lang. Bei allem wähnst du, damals, früher, in den strahlenden Tagen, hättest du das besser hingekriegt. Natürlich nur, wenn du dir es gestattest.

Amy Shone und Kate Shone. Wenn Amy etwas unterschreiben muss, sieht es aus, als habe sie Amy Shore geschrieben. Es sind die einzigen Wörter, die Kate Amy je hat schreiben sehen, und sie findet das lustig, wo sie doch jetzt direkt am Meer wohnen. Kate mag es, dass sie Shone heißt. Kate Shone, Kathleen Shone, Kate Shone, spricht sie sich vor. (Kathleen Räbchen kommt eher hin, sagt Amy und stupst sie mit dem Wattepäckchen in die Rippen, als sie sie nach dem Duschen abtrocknet.) Kate Shone klingt wie aus einer Geschichte, sagt Kate. Als käme ich in dieser Geschichte in ein Zimmer voller Leute, und in dem Moment muss der, der die Geschichte erzählt, das sagen – Kate Shone, Kate leuchtete –, denn was Besseres fällt dem dazu nicht ein.

Nicht dem, ihm fällt nichts ein – oder ihr, verbessert Amy sie, während sie ihr die Haare durchkämmt. Aber eigentlich kommt’s darauf nicht an, sagt sie noch. Darauf kommt es überhaupt nicht an.

Die Leute drehten sich alle um, sagt Kate, als die Tür aufging. Kate Shone. Sie machte ihrem Namen die ganze Nacht alle Ehre. Das Licht, das sie ausstrahlte, war so hell, dass man damit sehen konnte, es hat den Palast so hell erleuchtet, dass Leute, die meilenweit entfernt wohnten, sich fragten, was los war, und Vögel, die meilenweit entfernt in ihren Nestern schliefen, aufwachten und dachten, es sei Tag, und zu singen anfingen. Sie strahlte, weil sie ein wunderschönes Ballkleid anhatte, das allerschönste im ganzen Ballsaal.

Kate hat es momentan gerade mit Ballsälen und Ballkleidern. Vor einer Woche hat sie bei einer Freundin zu Hause Disneys Cinderella gesehen, und wenn Amy jetzt im Wohnwagen aus dem Fenster sieht und Kate allein in den Dünen spielt, kann sie vermuten, dass Cinderella eines dieser Spiele ist, dass Kate umringt ist von hilfsbereiten Tieren, die ihr aus den am Strand gefundenen Sachen ein schönes Kleid machen.

Kates neuester Witz ist: Warum haben sie Cinderella aus der Fußballmannschaft rausgeschmissen? Sie ist vom Ball weggerannt. Den hat sie in der Schule gehört. Diese Schule gefällt ihr viel besser als die letzte, in die sie gegangen ist, als sie in dem Hotel, in dem Amy gearbeitet hat, im Kellergeschoss gewohnt haben, wo die Flecken an der Wand wie Farn aussahen und von der Feuchtigkeit kamen. Die anderen in ihrer Klasse vergessen allmählich, sie wegen ihres Akzents zu hänseln und weil sie in einem Wohnwagen statt in einem richtigen Haus wohnt; ab und zu kommen inzwischen sogar welche und klopfen leise an die untere Hälfte der Tür, damit Kate zum Spielen rauskommt. Kate fügt sich gut ein. Kate hat diese Aufgabe sehr gut gelöst. Kate hat sich spürbar gesteigert. Kate ist ein vielversprechendes Kind. Sie wohnen jetzt so lange hier, dass Kate schon mehrmals Zeugnisse bekommen hat, Blätter, die Amy faltet und in den Schrank legt, wenn Kate sie ihr vorgelesen hat. Außerdem wird Kates Stimme hörbar voller, sie spricht die Vokale klarer, es klingt mehr nach Schottisch. Vor zwei Wochen hat sie Amy auf die Hauptpost mitgeschleppt und ihr eine Postkarte gezeigt, eine Ansicht des Spielplatzes in der Nähe des Strands, und obwohl man nicht richtig erkennen kann, wer auf dem Foto drauf ist – dafür sind sie zu weit entfernt –, sieht es ein bisschen aus wie sie beide, wie Amy (dunkles Haar), die Kate (helles Haar) auf einer Schaukel anschiebt. Sie haben sich die Karte gekauft und mit Klebestreifen an die Schranktür im Schlafraum des Wohnwagens geklebt.

Amy nennt den Wohnwagen einen Glückstreffer. Als sie hier ankamen, taten sie, was sie an einem neuen Ort immer tun: Sie schauten sich den Campingplatz an, was gut ist, wenn man sich nützliche Dinge borgen will, ein Seil oder Wasser in Plastikbehältern oder Sachen von einer Wäscheleine. Sie kamen genau in dem Moment am Büro des Platzbetreibers vorbei, als Angus den Zettel anbrachte. Kate las vor, damit Amy kapierte, was da stand. Helfer gesucht. Amy hat Kate gefragt, ob es ihr hier gefällt. Dann hat sie sie über die Straße zum Strand geschickt und kurz gewartet. Sie ist hinter dem Büro herumgegangen und hat sich gründlich umgesehen. Hat sorgfältig so lange am Dichtungsring eines außen angebrachten Wasserhahns herumgefingert, bis kaltes Wasser unter der Tülle hervorquoll und in den Abfluss sickerte. Hat dann den Kopf durch die offene Luke am Vordereingang zum Büro gesteckt. Der Mann, der an seinem Schreibtisch saß, Angus, stand überrascht auf, schob den Stuhl zurück; der wäre beinahe umgekippt. Entschuldigen Sie, sagte Amy. Da hinten ist einer ihrer Wasserhähne nicht ganz dicht. Wenn Sie einen Schraubenschlüssel haben, kann ich das bestimmt für Sie reparieren.

Das Gute an dem Job ist die kostenlose Unterkunft, der Glückstreffer, und das sogar über den Winter, wenn der Campingplatz geschlossen ist. Amy muss den Platz trotzdem weiter bewachen, die älteren, fest abgestellten Wagen auf Schäden durch Witterung oder Vandalismus kontrollieren und sich um den Anrufbeantworter kümmern, auf dem Leute Buchungswünsche für den nächsten Sommer hinterlassen; um die Post kümmert sich Angus selbst. Es ist Amys leichtester Job seit Jahren, und die zwei großen möblierten Räume, ein Schlafzimmer und eines, das Küche, Esszimmer und Diele ist, sind inklusive. Sie haben Strom- und Gasanschluss, müssen zur Toilette und zum Duschen allerdings in den Toilettenblock gegenüber gehen. Im Sommer ist es schwierig, zur gewünschten Zeit unter die Dusche oder an eine Waschmaschine zu kommen. Im Jahr zuvor war der Winter kalt, aber mit dem Calor-Gasofen erwärmt es sich hier drin schnell. Kate mag diese Heizöfen, sie riechen warm und orange. Zu Weihnachten waren sie voriges Jahr den ganzen Nachmittag über die Einzigen an ihrem Strand, und bis es zu dunkel wurde, um noch etwas zu sehen, haben sie vom Pier bis zu den Felsen mit Treibholz Bilder in den Sand gemalt, und als es richtig dunkel wurde, sind sie den ganzen Strand abgelaufen und haben alle Weihnachtslieder gesungen, die sie kennen. Wenn ihnen ein Text nicht eingefallen ist, hat Amy etwas erfunden. Wir sind die drei Könige aus dem Morgenland. Das Autofahren ist uns unbekannt. Wir sind ziemlich dick, das ist unser Missgeschick, denn die Autos sind so klein, in die passen wir nicht rein.

Kate kommt aus dem Wind herein und bringt einen Stoß kalter Luft mit. Sie trägt den Sand über die Teppichreste von der Tür bis zur Frühstückstheke. Amy schlägt vor, dass sie noch mal rausgeht und sich richtig schüttelt. Aber selbst danach sind ihre Sachen und ihr Scheitel noch mit Sand besprenkelt. Winzige Körnchen kleben ihr im Gesicht.

Amy brät Speck und kocht Kartoffeln und grüne Bohnen.

Pfui Spinne, sagt Kate.

Du wirst es schon essen, Kate. Was anderes hab ich nicht bekommen, sagt Amy.

Kate lässt sich auf die Couch plumpsen, schiebt ein dickes Stück Treibholz weg und übermalt die alten Gesichter am beschlagenen Fenster mit neuen.

Amy, was haben wir für eine Postleitzahl?

Keine Ahnung, sagt Amy. Das musst du Angus fragen.

Wir haben gerade Alte Grabstätten gespielt, sagt Kate.

Ich glaub, das kenn ich gar nicht. Du und wer noch?, fragt Amy.

Roddy und Catriona. Kate stützt die Ferse auf das alte Buch, das unter dem Tischbein liegt, damit der Tisch nicht mehr wackelt. Auf dem Buchrücken steht ein langes Wort in Gold. HERAKLIT. Das Buch sieht zu nett und zu alt aus, als dass man den Fuß draufstellen sollte.

Du kennst doch Miss Rose?, sagt Kate. Wir nehmen in der Schule gerade Skara Brae durch, weißt du.

Der Speck spritzt. Ihr nehmt was durch?, fragt Amy.

Das ist auf den...


Smith, Ali
Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei Luchterhand der Roman »Gefährten«.

Morawetz, Silvia
Silvia Morawetz, geboren 1954 in Gera, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik. Sie hat bisher ca. 150 Werke aus den Gattungen Prosa, Lyrik, Essay und Hörspiel übertragen und ist die Übersetzerin von u. a. Henry Miller, Anne Sexton, Ali Smith, Hilary Mantel und Joyce Carol Oates. Sie erhielt Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, des Landes Baden-Württemberg und des Landes Niedersachsen.



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