Smith | Die Zufällige | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Smith Die Zufällige

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-19716-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine englische Familie macht Ferien in einem Sommerhaus in Norfolk. Der Vater Michael, ein Literaturprofessor, trifft sich wie gewohnt mit Studentinnen. Die Mutter Eve, eine erfolgreiche Autorin, versucht, ihre Schreibblockade zu überwinden. Die Kinder Magnus und Astrid leben in ihrer eigenen abgeschotteten Welt. Bis plötzlich Amber auftaucht, eine geheimnisvolle, charismatische Fremde, und das Leben dieser ganz normalen neurotischen Familie gehörig durcheinanderbringt.
Ausgezeichnet mit dem Whitbread Award für den besten Roman.

Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women's Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.
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von etwas – wann genau ist das? Astrid Smart möchte es wissen. (Astrid Smart. Astrid Berenski. Astrid Smart. Astrid Berenski.) 5:04 auf dem mickrigen Radiowecker. Denn warum sagen die Leute immer, jetzt fängt der Tag an? Genaugenommen tut er das ja mitten in der Nacht, in einem Bruchteil der ersten Sekunde nach Mitternacht. Angefangen soll er aber nicht vor Morgengrauen haben, das Dunkel gehört noch zur vorigen Nacht, und Morgen wird es erst mit dem Licht, dabei war es genaugenommen Morgen, sobald es eben den Bruchteil der ersten Sekunde nach zwölf war, i. e. das Experiment, wo man etwas immer weiter verkleinert, etwa den Abstand zwischen dem Boden und einem Ball, den man darauf dopsen lässt, damit bewiesen werden kann, sagt Magnus, dass der Ball den Boden eigentlich nie berührt. Was Blödsinn ist, weil er selbstverständlich den Boden berührt, sonst würde er ja nicht dopsen, er hätte nichts, wovon er abdopsen könnte, und trotzdem kann man wissenschaftlich wirklich nachweisen, dass er es nicht tut. Astrid zeichnet Morgengrauen auf. Sonst gibt es hier nichts zu tun. Das Dorf ist ein Dreckloch. Postamt, verwüstetes indisches Restaurant, Pommesbude, kleiner Kaufmannsladen, der nie offen hat, eine Stelle, wo Enten die Straße überqueren können. Die Enten haben doch tatsächlich einen eigenen Wegweiser! Es gibt einen Sofa-Großhändler namens Sofa so gut. Die Kirche hat auch einen eigenen Wegweiser. Außer einer Kirche und ein paar Enten ist hier nichts los, und dieses Haus ist das ultimative Dreckloch. Es ist mickrig. Den ganzen mickrigen Sommer über wird nichts los sein. Sie hat jetzt neun Morgengrauen nacheinander auf der Mini-Kassette in ihrer Sony-Digicam. Donnerstag, 10. Juli 2003, Freitag, 11. Juli 2003, Samstag, 12., Sonntag, 13., Montag, 14., Dienstag, 15., Mittwoch, 16., Donnerstag, 17. und heute, Freitag, 18. Aber wann genau Morgengrauen ist, lässt sich nur schwer ausmachen. Auf dem Kameraschirm sieht man davon nur, dass die Außenwelt etwas deutlicher sichtbar wird. Bedeutet das dann, dass Anfang etwas damit zu tun hat, dass man etwas erkennt? Dass der Tag anfängt, sobald du aufwachst und die Augen aufmachst? Und wenn Magnus schließlich nachmittags aufsteht und sie ihn in dem Zimmer herumgehen hören, das in dem mickrigen Dreckloch von Haus seines ist, bedeutet das dann, dass der Tag immer noch anfängt? Ist der Anfang für jeden anders? Oder ziehen sich Anfänge nur immer weiter hin, über den ganzen Tag? Vielleicht ziehen sie sich ja auch rückwärts hin. Denn jedesmal, wenn du die Augen aufmachst, gab es ja einen Moment davor, als du sie zugemacht hast, und davor wieder einen anderen Moment, als du sie aufgemacht hast, und so immer weiter rückwärts durch alles Schlafen und alles Wachsein und durch so gewöhnliche Dinge wie Lidschläge bis zurück zum ersten Mal, wo du die Augen aufgemacht hast, was vermutlich ungefähr der Moment deiner Geburt ist. Astrid kickt ihre Turnschuhe vor sich auf den Boden. Sie rutscht zurück über das grässliche Bett. Oder womöglich liegt der Anfang sogar noch weiter zurück als bis zu der Zeit, wo man sich im Mutterschoß befindet oder wie das heißt. Vielleicht ist der richtige Anfang der, wenn es damit losgeht, dass du dich zu einem Menschen ausbildest und wenn sich der weiche Stoff, aus dem deine Augen bestehen, gerade in dem harten Stoff bildet, aus dem dein Kopf wird, i. e. dein Schädel. Sie betastet den Knochenbogen über ihrem linken Auge. Augen passen so genau in die Höhlung, in der sie sitzen, als wäre eins für das andere gemacht, Auge und Höhlung. Einmal hat sie ein Theaterstück gesehen, da war ein Mann, dem wurden die Augen ausgestochen, die Leute auf der Bühne drehten ihn um, damit die Zuschauer es nicht sehen konnten, und stachen ihm die Augen aus, dann rissen sie ihn auf seinem Stuhl wieder herum, er hatte die Hände vorm Gesicht, und als er sie wegzog, waren sie voll mit rotem Zeug, das er auch rings um die Augenhöhlen hatte. Es war Wahnsinn. Das war Gelee oder irgendwas Ähnliches. Seine Töchter haben das gemacht oder seine Söhne. Es war eine von Michaels Tragödien. War trotzdem ziemlich gut. Ja, genau, denn im Theater, da geht der Vorhang hoch, und dann weißt du, jetzt fängt es offenbar an, denn der Vorhang ist ja hochgegangen. Und sowie das Licht ausgeht, werden die Zuschauer still, und sowie der Vorhang hochgegangen ist, wird die Luft, falls du in der Nähe der Bühne sitzt, anders, dann riechst du wirklich eine ganz andere Luft mit dem Staub und Zeugs, was da drin herumschwebt. Genau wie das andere Mal, als sie mit Michael und ihrer Mutter in die andere Tragödie mitgehen musste, die war komplett verrückt, da dreht eine Frau durch und bringt ihre Kinder um, aber bevor sie das tut, schickt sie die beiden Jungen, noch ganz kleine Jungs, von der Bühne runter, und die kommen wirklich runter zu den Zuschauern und laufen zwischen denen rum, die Mutter hat ihnen vergiftete Klamotten gegeben usw., die sollen sie der Prinzessin schenken, die ihr Vater heiratet, den eigentlich sie heiraten soll, und die Kinder gehen zu einem Haus oder einem Palast irgendwo hinter den Zuschauern, das passiert nicht auf der Bühne, es passiert nirgends, nur in der Geschichte, i. e. in deinem Kopf, aber selbst wenn du weißt, dass es gar nicht passiert, dass es nur ein Theaterstück ist, zieht trotzdem irgendwo hinter dir die Prinzessin die vergifteten Klamotten an und stirbt eines grässlichen Todes. Ihre Augen zerfließen in ihren Höhlen, und sie kriegt lauter Ausschlag, wie wenn Terroristen in der U-Bahn Keime freigesetzt hätten. Ihre Lunge zerfließt und Astrid gähnt. Sie hat Hunger. Sie hat sogar einen Riesenhunger. Es sind noch Stunden hin bis zu so was wie Frühstück, falls sie in diesem unhygienischen Dreckloch irgendwas verspeisen möchte. Sie könnte weiterschlafen. Aber – typisch und wie zum Hohn – sie ist hellwach. Draußen ist es jetzt richtig hell, man sieht meilenweit. Nur dass es nichts zu sehen gibt: Bäume und Felder und solche Sachen. 5:16 auf dem mickrigen Radiowecker. Sie ist eigentlich wach. Sie könnte aufstehen und losgehen und den Vandalismus filmen. Das macht sie heute, definitiv. Sie wird zu dem Restaurant gehen, später, und den Inder fragen, ob es okay ist. Oder vielleicht wird sie es auch filmen, ohne dass er es weiß, damit er nicht nein sagt. Wenn sie jetzt gleich ginge, wäre niemand dort, und sie könnte es einfach machen. Falls zufällig doch schon jemand um diese Morgenstunde auf und zugange ist (wird nicht, meilenweit ist hier niemand außer ihr wach, aber falls doch, nur mal angenommen), würde derjenige denken, oh, sieh an, eine Zwölfjährige, die mit einer Digicam spielt. Demjenigen würde eventuell auffallen, was für ein gutes Modell die Kamera ist, das heißt, falls er was von Kameras versteht. Sie würde, falls man sie fragt, sagen, dass sie den Sommer über zu Besuch ist (stimmt) und die Gegend filmt (stimmt) oder dass das für ein Schulprojekt (könnte stimmen) über verschiedene Gebäudearten und ihre Nutzung ist (ziemlich gut). Und dann hat sie vielleicht einen lebendigen Beweis auf ihrem Miniband, wenn sie nach Hause kommt, und irgendwann während der Ermittlungen zu dem Akt vandalistischer Zerstörung fällt es einem, der etwas zu sagen hat, plötzlich wieder ein, und der sagt, oh, da war doch diese Zwölfjährige mit ihrer Kamera, vielleicht hat sie irgendwas aufgenommen, was, wie sagen die noch mal, entscheidend sein könnte für unsere Ermittlungen, und dann kommen sie und klopfen an die Tür, bloß was, wenn sie noch nicht hier sind für den Sommer, oder was, wenn sie schon heimgefahren sind, manche Ermittlungen dauern ja ziemlich lange, na, dann stöbern die Behörden sie eben zu Hause auf mit ihren Computern, indem sie Michaels Namen eingeben oder die Leute fragen, denen dieses mickrige Haus gehört, und dank ihrer kommt die Sache dann in Ordnung, und ein Rätsel, nämlich wer für den Vandalismus hier im Curry Palace verantwortlich ist, wird wirklich einmal gelöst. Es ist ein idealer Ort. Das sagt ihre Mutter immer, sagt es jeden Abend. Es sind aber nicht viele andere Leute hier im Urlaub, obwohl er so ideal ist, vielleicht weil die Urlaubszeit noch nicht richtig angefangen hat, offiziell zumindest nicht. Die Leute im Dorf gaffen dauernd, auch wenn Astrid gar nichts macht, nur herumläuft. Auch wenn sie nicht die Kamera benutzt. Aber es ist schönes Wetter. Sie freut sich, dass sie nicht in der Schule ist. An den meisten Morgengrauen, die sie aufgenommen hat, ist die Sonne herausgekommen. So sieht ein guter Sommer aus. Früher, bevor sie auf die Welt kam, waren die Sommer besser, da gab es anscheinend durchgängig schöne Sommer von Mai bis Oktober. Früher, das ist auch ein anderes Jahrhundert. Sie selber ist wahrscheinlich diejenige, die von den Leuten, die jetzt hier im Haus sind – ihre Mutter, Magnus, sie selbst, Michael –, am längsten in dem neuen Jahrhundert leben wird. Die anderen gehören alle mehr zum vorigen Jahrhundert als sie. Andererseits wieder hat sie selber den größten Teil ihres Lebens im alten Jahrhundert verbracht. Die anderen, so gesehen, allerdings auch, aber prozentual gesehen hat sie immerhin schon fünfundzwanzig Prozent ihres Lebens in dem neuen Jahrhundert erlebt (wenn man mit 2001 zu zählen anfängt und die nächsten sechs Monate dieses Jahres als bereits rum ansieht). Sie ist zu fünfundzwanzig Prozent neu und zu fünfundsiebzig Prozent alt. Magnus hat drei Jahre von siebzehn im neuen gelebt, das macht also, Astrid rechnet es aus, Magnus ist zu siebzehn Prozent oder so neu, zu dreiundachtzig alt. Sie ist zu acht Prozent mehr im neuen als Magnus. Ihre Mutter und Michael liegen weit abgeschlagen mit einem signifikant kleineren Prozentsatz im neuen und einem signifikant höheren Prozentsatz im alten. Ganz genau rechnet...


Smith, Ali
Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.

Morawetz, Silvia
Silvia Morawetz, geboren 1954 in Gera, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik. Sie hat bisher ca. 150 Werke aus den Gattungen Prosa, Lyrik, Essay und Hörspiel übertragen und ist die Übersetzerin von u. a. Henry Miller, Anne Sexton, Ali Smith, Hilary Mantel und Joyce Carol Oates. Sie erhielt Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, des Landes Baden-Württemberg und des Landes Niedersachsen.


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