E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Smith / Browne Tools and Weapons – Digitalisierung am Scheideweg
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96267-198-3
Verlag: REDLINE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Versprechen, Gefahren und neue Verantwortung im digitalen Zeitalter
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-96267-198-3
Verlag: REDLINE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Brad Smith ist der Präsident von Microsoft und leitet ein Team von mehr als 1400 Fachkräften, die in 56 Ländern tätig sind. Smith wurde von der »Australian Financial Review« als »eine der angesehensten Persönlichkeiten der Technologiebranche« und von der »New York Times« als »De-facto-Botschafter für die Technologiebranche insgesamt« bezeichnet. Carol Ann Browne ist Senior Director für Kommunikation und Außenbeziehungen bei Microsoft. Sie arbeitete mit Brad Smith bereits an diversen Projekten weltweit.
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Kapitel 1
Überwachung:
Eine kurze Lunte
Als am 6. Juni 2013 die Frühsommersonne in Redmond, Washington, durch die Wolken brach, drehte Dominic Carr die Lamellen des Rollos in seinem Büro in der fünften Etage auf dem Microsoftgelände ein wenig weiter auf. Auch wenn es noch einen ganzen Monat dauern würde, bis der Sommer wirklich im pazifischen Nordwesten ankam, waren die Sonnenstrahlen doch ein willkommener Vorbote wärmerer Tage – und hoffentlich eines etwas gemächlicheren Tempos.
Dominic schnappte sich sein Telefon und fuhr mit dem Aufzug nach unten, um sich in der Firmencafeteria nebenan ein Sandwich zu kaufen. Während er sich durch die vielen Menschen auf den Wegen zwischen den Gebäuden schlängelte, vibrierte plötzlich sein Handy in seiner Hosentasche. Dominic war Leiter des Teams für öffentliche Angelegenheiten und Kommunikation und mir somit direkt unterstellt. In dieser Position musste er unter anderem die Firma in einigen der heikelsten Fragen gegenüber der Presse vertreten. Er war nie ohne Telefon unterwegs – und selten weit von seinem Schreibtisch entfernt.
Auf seinem Display leuchtete eine Meldung auf: Eingang einer E-Mail mit dem Betreff »Microsoft/PRISM«. Damals war »PRISM« unsere Bezeichnung für die jährliche Vertriebsleiterversammlung. Es war also nur eine weitere Meldung über das Alltagsgeschäft bei Microsoft. Routine.
Doch diese E-Mail war alles andere als alltäglich. Ihr Inhalt sollte bald die ganze Welt erschüttern – eine kurze Lunte glomm bereits, es würde nur noch drei Stunden bis zur Explosion dauern.
»Wir möchten Sie hiermit darauf aufmerksam machen, dass der Guardian für heute Abend einen Artikel zur Veröffentlichung über PRISM vorgesehen hat, ein freiwilliges, geheimes Kooperationsprogramm mehrerer großer Technologieunternehmen mit der NSA«, begann die E-Mail, die sich auf die National Security Agency der Vereinigten Staaten, kurz »NSA«, bezog.
Die E-Mail kam von einem zweiten Dominic, Dominic Rushe, der als Reporter für die britische Tageszeitung The Guardian schrieb. Sie war ursprünglich im Posteingang eines PR-Managers von Microsoft in Boston gelandet, der sie mit einer roten Markierung weitergeleitet hatte – einer Markierung mit einem Ausrufezeichen, die im Grunde bedeutet: »Jetzt, sofort und auf der Stelle lesen.«
Zur Mail gehörte eine Liste mit neun komplexen Punkten, zu denen sich Microsoft äußern sollte, allerdings blieb dafür kaum Zeit. Rushe erklärte: »Als verantwortungsvolle Journalisten möchten wir Ihnen die Möglichkeit geben, mögliche Ungenauigkeiten in den oben genannten Punkten konkret zu kommentieren. … Wir sind bezüglich dieser Story bereits an das Weiße Haus herangetreten. Aufgrund der Vertraulichkeit des Programms ist dies für uns der frühestmögliche Zeitpunkt, Sie hinsichtlich eines Kommentars zu kontaktieren.« Er wollte eine Antwort – und zwar bis 15 Uhr unserer Zeit am selben Nachmittag. Der Guardian war an vertrauliche Geheimdienstinformationen gekommen, in denen detailliert geschildert wurde, wie neun US-amerikanische Technologieunternehmen – Microsoft, Yahoo, Google, Facebook, Paltalk, YouTube, Skype, AOL und Apple – sich angeblich an einem freiwilligen Programm namens PRISM beteiligt hatten, wodurch die NSA unmittelbaren Zugang zu E-Mails, Chats, Videos, Fotos, sozialen Medien und anderen Daten erhalten hatte.
Dominics Pläne für seine Mittagspause – und für den Großteil der darauffolgenden Tage – waren vom Tisch. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte immer zwei Stufen auf einmal nehmend zurück in die fünfte Etage. Er vermutete, die Angelegenheit stünde irgendwie im Zusammenhang mit einem besorgniserregenden Artikel, der bereits am selben Morgen im Guardian erschienen war. Die Zeitung hatte einen geheimen Gerichtsbeschluss veröffentlicht, nach dem der amerikanische Telekommunikationsriese Verizon den Behörden »laufend, täglich« Aufzeichnungen von Anrufen zu übermitteln hatte (und zwar von Inlandsgesprächen ebenso wie von Telefonaten zwischen den USA und dem Ausland).1 Diese Aufzeichnungen wurden von der NSA analysiert, die in ihrem Hauptquartier in Fort Meade, Maryland, schon seit Langem Nachrichtensignale und Daten auf der ganzen Welt sammelte. Laut Artikel waren von dieser Massenspeicherung auch Millionen Amerikaner betroffen, gleichgültig, ob sie sich etwas hatten zu Schulden kommen lassen oder nicht.
Wenn überhaupt jemand bei Microsoft etwas über PRISM wusste, dann John Frank, der Anwalt, der in der juristischen Abteilung die Teams hinsichtlich nationaler Sicherheitsfragen zu unserer Arbeit leitete. Dominic machte sich also schnurstracks auf den Weg zu Johns Büro.
John reagierte auf die Nachricht des Guardian auf Dominics Telefon so gefasst und strukturiert wie üblich und dachte erst einmal gründlich nach. Er nahm seine Brille ab, lehnte sich zurück und sah in den sonnigen Frühsommertag hinaus. Plötzlich wirkte er müde. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Nichts davon klingt plausibel.«
John wusste nicht nur, wie die Firma auf Anfragen der Gesetzeshüter reagierte, was sie überprüfte und wie sie dabei verfuhr, er hatte diesen gesamten Ablauf selbst strukturiert. Microsoft gab Kundendaten nur aufgrund gültiger Rechtsbeschlüsse in ordnungsgemäßen Verfahren weiter – und dann nur für konkrete Nutzerkonten oder Einzelpersonen.
Als John und Dominic dann zusammen in meinem Büro standen, konnten sie mir wenig mehr zeigen als die Nachricht des Reporters. »Wenn die das tatsächlich tun, dann tun sie es ohne unser Wissen«, sagte John.
Ja, wir waren dem Gesetz nach dazu verpflichtet, Gesuche um die Herausgabe von Daten unserer Kunden zu prüfen und adäquat darauf zu reagieren. Wir verfügten über ein etabliertes Verfahren zur peniblen Überprüfung solcher Behördengesuche und hatten dezidierte Verhaltensstandards. Aber Microsoft ist ein großes Unternehmen. Hatte hier etwa ein einzelner Mitarbeiter auf eigene Faust gehandelt und sich nicht an die Vorschriften gehalten?
Das war eine Frage, die wir jedoch schnell abtaten. Wir kannten unsere Methodik und den Ablauf, wie Anfragen von Behörden entgegengenommen und geprüft wurden, und wie darauf zu reagieren war. Die Nachricht des Guardian ergab einfach keinen Sinn.
Niemand bei Microsoft hatte je von PRISM gehört. Der Guardian wollte die durchgesickerten Dokumente, aus denen sie die Informationen bezogen hatten, nicht preisgeben. Wir wandten uns an unsere Kontakte im Weißen Haus, doch auch die wollten nicht über vertraulich eingestufte Dokumente reden oder uns gar einen Einblick gewähren. Irgendwann im Laufe des Nachmittags überlegte ich laut vor John und Dominic: »Vielleicht sind wir Teil einer so geheimen Geheimgesellschaft, dass wir nicht einmal wissen, dass wir dazugehören.«
Wir mussten das Erscheinen des Artikels abwarten, bevor wir auch nur den Versuch einer Antwort unternehmen konnten.
Um 15 Uhr Pacific Daylight Time ließ der Guardian die Bombe platzen: »PRISM-Programm der NSA greift Nutzerdaten von Apple, Google und anderen ab.«2 Nun erfuhren wir, dass PRISM, das Programm für die nationale elektronische Sicherheitsüberwachung, eine Abkürzung für »Planning Tool for Resource Integration, Synchronization, and Management«3 (»Planungswerkzeug für Ressourcenintegration, Synchronisation und Management«) war. Wer hatte sich nur diesen Zungenbrecher ausgedacht? Das klang wie ein schlechter Produktname aus dem Technologiesektor. Laut Medienberichterstattung handelte es sich um ein elektronisches Überwachungsprogramm, mit dem Mobilgeräte, Anrufe, E-Mails, Onlineunterhaltungen, Fotos und Videos nachverfolgt werden konnten.4
Binnen Stunden schlugen der Artikel des Guardian und ein ähnlicher Bericht der Washington Post weltweit hohe Wellen. Unsere Vertriebsleute und unsere Anwälte wurden von Kundenanrufen überschwemmt.
Sie alle stellten dieselbe Frage: Stimmt das?
Anfangs war unklar, woher die Presse ihre Informationen bezogen hatte. Es wurde darüber debattiert, ob diese überhaupt echt sein konnten. Aber drei Tage später ließ die Zeitung eine Bombe platzen, die der ersten Meldung in nichts nachstand. Der Guardian gab seinen Informanten preis, nachdem dieser selbst darum gebeten hatte.5
Dieser Informant war ein 29 Jahre alter Mitarbeiter des militärischen Dienstleisters Booz Allen Hamilton mit dem Namen Edward Snowden. Er arbeitete als externer Systemadministrator im Threat Operations Center der NSA in Hawaii. Er hatte mehr als eine Million höchst vertraulicher Dokumente heruntergeladen,6 bevor er am 20. Mai 2013 ein Flugzeug nach Hongkong bestieg. Von dort aus setzte er sich mit Journalisten des Guardian und der Washington Post in Verbindung und begann, der Welt die Geheimnisse der NSA mitzuteilen.7
Snowdens Dokumente zogen in jenem Sommer und dem darauffolgenden Herbst eine ganze Reihe Presseberichte nach sich. Das erste öffentlich gemachte Dokument war eine vertrauliche PowerPoint-Präsentation mit 41 Folien, die in der Ausbildung von Geheimdienstmitarbeitern verwendet wurde. Aber das sollte nur der Anfang sein. Reporter melkten Snowdens Beute...