E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Smiley Streuner in Paris
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-312-01253-4
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-312-01253-4
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Paras ist ein temperamentvolles junges Rennpferd, das in einem Stall auf dem französischen Land westlich von Paris lebt. Eines Nachmittags stößt sie das Tor ihres Stalls auf - sie ist ein neugieriges Fohlen - und kommt nach einer Reise durch die Nacht zufällig in Paris an. Die Sehenswürdigkeiten, Geräusche und Gerüche, die sie umgeben, sind neu für sie, aber sie hat keine Angst. Bald lernt sie einen eleganten Hund kennen, Frida, die weiß, wie man in der Stadt zurechtkommt, ohne die Aufmerksamkeit misstrauischer Pariser auf sich zu ziehen. Paras und Frida leben eine Zeit lang im sich an den Eiffelturm anschließenden Marsfeld, genährt von Fridas strategischen Ausflügen zur Metzgerei und zum Gemüsemarkt. Sie haben Gesellschaft von zwei Enten und einer eigensinnigen Krähe. Doch dann trifft Paras einen Menschenjungen, Etienne, und entdeckt einen neuen, andersweltlichen Teil von Paris: das abgelegene, von Efeu ummauerte Haus, in dem der Junge und seine fast einhundert Jahre alte Urgroßmutter ruhig und für sich leben. Eine Freundschaft entsteht zwischen Mensch und Tier. Doch wie lange kann ein entlaufenes Pferd unentdeckt in Paris leben? Und wie lange kann ein Junge es verstecken und ganz für sich behalten? »Wenn man hört, dass ein Roman von einem sprechenden Pferd in Paris handeln soll, ist das lustig, denn es könnte wunderbar sein oder es könnte banal und kitschig sein«, so Smileys Lektorin Diana Miller (Knopf). »Ich war beeindruckt von der Art und Weise, wie Jane es elegant und anspruchsvoll gemacht hat. Es ist äußerst charmant und fröhlich. Vor allem in Anbetracht dessen, was in diesem Jahr passiert ist, ist die Arbeit an diesem Buch eine wirklich vergnügliche Flucht.«
Jane Smiley ist die Autorin zahlreicher Romane, darunter A Thousand Acres (auf Deutsch 'Tausend Morgen'), das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, und zuletzt The Last Hundred Years Trilogy: Some Luck, Early Warning und Golden Age. Sie ist auch Autorin mehrerer Sachbücher und Bücher für junge Erwachsene. Sie ist Mitglied der American Academy of Arts and Letters und wurde mit dem PEN Center USA Lifetime Achievement Award für Literatur ausgezeichnet. Sie lebt in Nordkalifornien.
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Zwei Die Menschen auf dem Place du Trocadéro waren vielleicht zu geschäftig oder zu verfroren, sie schauten auf ihrem Weg von Gebäude zu Gebäude einfach nur zu Boden und bemerkten Paras darum nicht. Vielleicht flogen zu viele Blätter durch die Luft oder die Wolken kamen und gingen zu schnell, und die Menschen waren durch das blinkende Wechselspiel von Sonne und Schatten geblendet und bemerkten die schlafende, schön gewachsene, kastanienbraune Zuchtstute neben der Hecke darum nicht, gleich unterhalb von der Pferdestatue vor dem riesigen Gebäude. Doch einer sah alles ganz genau, von Anfang an, einer, der wusste, dass Frida auf dem Platz lebte und eine Streunerin war. Dieser eine war Raoul. Raoul war ein Rabe, und sein Nest befand sich auf einem Baum gleich in der Rue Benjamin-Franklin. Meistens lebte er dort allein. Er mochte Paris. Anders als die übrigen Raben, die er kannte. Besonders die Weibchen und Jungvögel bevorzugten den Wald im Westen, den die Menschen »Bois de Boulogne« nannten, oder flogen noch weiter aufs Land. Raoul kannte diese ganzen Gegenden ziemlich gut, aber für einen Vogel in seinem Alter, also alt, alt und nochmals alt, bot die Stadt einfach mehr Vorzüge, es gab mehr zu tun, zu sehen und weniger Streit. Die Raben waren ein streitlustiges Völkchen, und davon hatte Raoul genug. Wahrscheinlich wussten die anderen Raben gar nicht, dass er eine Partnerin hatte, Imelda, fast so alt wie er. Sie beide hatten viele gemeinsame Nachkommen, so viele, dass sie sich in aller Freundschaft getrennt hatten, als Imelda ihm zu verstehen gab, dass sie es leid war, sich zu vermehren und sich seine, wie sie es nannte, endlosen Ausführungen anzuhören. Raoul schaute Paras eine Weile beim Schlafen zu, dann beobachtete er, wie Frida aufstand, zum einzigen Café hinüberging, das Tische draußen stehen hatte, und unter einem Tisch ein Stückchen Brot entdeckte, das die Reinigungskräfte übersehen hatten. Dann pflanzte sie sich vor einem mittelgroßen Kind auf, blickte ihm ins Gesicht, und natürlich reichte ihr das Kind etwas, wohl einen Käsewürfel. Die Mutter machte jedoch ein böses Gesicht und drohte mit dem Zeigefinger, da trollte sich Frida. Auch Raoul hatte ein paar Mal versucht, Menschen zu bewegen, ihm etwas zu geben, aber sie hatten nur gelacht. Doch eigentlich war das egal. Er fraß alles und besonders gern die winzigen, knusprigen, salzigen Ameisen. Und im Übrigen war er, wie er ohne Umschweife zugeben würde, sowieso ein bisschen zu dick. Raoul flog zu seinem Nest zurück und kauerte sich hinein. Das Nest lag sehr günstig, zu einer Seite gut geschützt, dennoch mit Blick auf die Nachbarschaft. Die Nachbarschaft bestand, wie Raoul fand, vor allem aus vielen albernen Vögeln, Spatzen, Ammern, Waldsängern, Schwalben, Meisen. Ganz zu schweigen von den Spechten an den Stämmen, den Drosseln am Boden und den Tauben überall. Paris war die Stadt der Vögel, und wenn die Stare die Könige waren, dann waren die Raben die Ritter. In der Stadt der Vögel herrschte reichlich Lärm. Meistens konnte Raoul nicht einmal hören, was die restliche Stadtbevölkerung sagte. So laut waren die Aves. Wenn Raoul später am Tag noch einmal an Paras dachte, fand er sie höchstens seltsam, und wie alle Seltsamkeiten, die seit jeher zu Paris gehörten, würde auch diese bald vorübergehen. Draußen auf dem Land verliefen die Tage gleichförmig: Die Sonne ging auf, der Regen fiel oder nicht, der Wind blies aus der einen oder aus der anderen Richtung, das Gras wurde länger, und die Weibchen und Jungvögel zankten sich ewig um Kleinigkeiten.
Paras schlief lange und wachte schließlich nervös auf. Sie war nicht in ihrer Box in Maisons-Laffitte und auch nicht in der an der Rennbahn, und die seltsame eckige Pflanze, die an ihrem Rücken pikste, kannte sie auch nicht. Stattdessen lag sie im Dreck. Sie prustete und wäre beinah aufgesprungen, doch dann sah sie Frida, die mit hübsch geschlossenen Vorderläufen und kantigem Hinterteil vor ihr saß. »Du hast lange geschlafen«, sagte Frida. »Es wird schon dunkel.« Ja, das stimmte, der Himmel verdunkelte sich noch rascher als die Erde, nur die Gebäude ringsumher behielten einen fahlen Glanz. Da erkannte Paras, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, die Boxentür an der Rennbahn aufzudrücken und hinaus in die Welt zu springen. »Aber die Tage sind ja jetzt auch ziemlich kurz«, sagte Frida zitternd. Auch Paras zitterte. Sie stellte die Vorderbeine auf und hievte sich hoch. Als sie sich schüttelte, rieselten Blätter von ihrem Rücken. Sie ächzte. Frida schob die Schnauze unter die eckige, ungenießbare Pflanze (Paras kostete davon) und zog die Handtasche hervor. Paras hatte sie schon vergessen. Genau in dem Moment flog ein Rabe an Paras’ Kopf vorbei und landete zwischen ihr und Frida auf der Wiese. Paras fragte sich gerade, wie sie bloß zur Rennbahn zurückfinden sollte, sie war wirklich sehr durcheinander und das schien ihr das Beste, und Frida fragte sich, ob ihre neue Freundin, okay, auch ihre neue Geldquelle, etwa vorhatte, zu verschwinden. Und weil Frida sich das fragte und abgelenkt war, ging sie nicht sofort auf den Raben los. Zwar hatte sie noch nie einen Raben getötet, aber ein Vogel war ein Vogel, ein Vogel, ein Vogel und sie war ein Vogelhund. Doch als der Rabe den Kopf schieflegte und sie geradewegs anblickte, gab sie ihr Vorhaben auf. Paras beugte, neugierig wie sie war, den Kopf, schob das Maul vor und schnupperte an dem Vogel. Er ließ sich das gefallen. »Ich spreche sieben Sprachen«, sagte er. Als keiner reagierte, plusterte sich Raoul ein wenig auf und sagte: »Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch, Romani, Baskisch und Chinesisch. Vielleicht wissen Sie das nicht, aber alle Vögel sprechen Chinesisch. Allerdings gibt es so viele Dialekte, dass wir uns manchmal kaum verständigen können.« Dann räusperte er sich, beschritt einen kleinen Kreis, hob bedächtig die Flügel, senkte sie wieder und spreizte die Schwanzfedern. »Wenn Sie so freundlich wären, mir Ihre Namen zu nennen.« »Perestroika, von Moscow Ballet, aus M …« »Danke, das genügt. Und Sie?« Er zeigte mit einem Flügel auf Frida. »Frida«, sagte diese. »Das ist alles?« Frida nickte. »Ich heiße Sir Raoul Corvus Corax, der Dreiundzwanzigste. Mein Sitz ist gleich dort drüben, in der Rue Benjamin-Franklin, aber der Familienbesitz befindet sich draußen in Châteaufort, immer Richtung Versailles, dann rechts.« Das Pferd und die Hündin blickten Raoul ausdruckslos an, so wie Pferde und Hunde es oft tun. Raoul räusperte sich noch mal. »Wie ich von meinem Nest im Baum«, diesmal hob er den rechten Flügel, »bemerkt habe, sind die beiden Damen offenbar in Not.« »Ich habe Hunger«, sagte Paras. »Ach«, sagte Raoul. »Bitte korrigieren Sie mich, falls ich mich irre, aber als Equus caballus ernähren Sie sich von rohem Gras, Kleinpflanzen, Körnern, Samen, Wurzelgemüse und, wenn Sie sie bekommen, Äpfeln.« Paras nickte. »Zweifellos eine nahrhafte und ballaststoffreiche Ernährung, aber wenn ich das als Avis sagen darf, wenig abwechslungsreich und schmackhaft. Wenn auf Ihrem Heu eine Fliege oder Grille sitzen, speien Sie sie sicher aus, oder? »Genau.« »Dabei ist das gesamte Insektenreich äußerst aromatisch und nährstoffreich«, führte Raoul aus, »und ein natürliches Heilmittel gegen sämtliche Leiden. Hä.« Er schaute zu Frida, die sagte: »Das habe ich alles probiert.« »Ich bin sehr hungrig«, sagte Paras. »Ich glaube, ich kann Ihnen behilflich sein und Ihnen aufzeigen, was die Vorsehung in dieser wunderbaren Stadt Paris mit Ihnen vorhat. Das hier ist der schönste Flecken Erde, wie mir meine weit gereisten Berichterstatter, vor allem Albatrosse, bestätigen, und ich kenne mich hier gut aus. Sie dürfen sich also, wenn ich das so sagen darf, in mehrfacher Hinsicht glücklich schätzen, nicht nur, weil Sie zum Glück mir begegnet sind. Es mag zwar momentan so aussehen, als ob es in der Nähe keine saftigen, wasserreichen Wiesen gäbe. Doch wenn Sie die Vogelperspektive einnehmen könnten, wüssten Sie, dass das nicht stimmt.« Mittlerweile war es noch dunkler geworden. Und als nirgendwo mehr ein Auto zu sehen war, sagte Raoul: »Folgen Sie mir.« Und das taten die beiden, Frida misstrauisch, Paras hungrig. Raoul flog voraus, sacht im Wind schwankend, ungefähr einen Meter über Fridas Kopf und zwei Meter vorneweg. Frida trug die Handtasche. Offenbar hatte Paras akzeptiert, dass sie dafür verantwortlich war. Raoul führte die beiden zur Straße, dann zu einem niedrigen Zaun, knapp einen Meter hoch. Ein furchtbarer Anreiteweg, dachte Paras. Gerade als sie versuchte, die Distanz abzuschätzen, drückte Frida den Zaun mit der Schnauze auf und ging hindurch. Paras folgte. Der Weg führte leicht bergab an einer hohen, geschwungenen Mauer entlang, und war an einer Stelle recht schmal. Aber Paras schnappte nach ein paar Grashalmen und trank auch aus einem kleinen Teich. Das Gras war kurz und eher fad, hier und da probierte sie es mit einem Blatt. Aber als der Weg breiter wurde, standen sie plötzlich an einer grünen, sanft gewellten Anhöhe. Paras schnaubte. Raoul hob die Flügel, streckte die Zehen und landete auf einem Ast. »Ich darf wohl sagen«, sagte er, »dass dies hier der ganze Stolz meiner domaine ist. Die Menschen nennen es ›Palais de Chaillot‹«. »Wem gehört das?« Frida setzte die Handtasche ab. »Was sind heutzutage schon Besitztümer?«, sagte Raoul. »Ich wache darüber. Das allein ist mein Anspruch.« Dann sagte er:...