Slattery | Der Hochstapler | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Slattery Der Hochstapler

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-20082-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-641-20082-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wer ist Wallace? – und wenn ja, wie viele?

Der Held dieses verwegenen Romans ist ein Hochstapler, der während einer Party in einem Hotelzimmer einen betrunkenen Gast auf dessen Drängen ins Gesicht schlägt und ihn damit vom Balkon in den Tod prügelt. Um ungeschoren davonzukommen, und weil sein eigenes Leben bis dahin vollkommen ereignis- und freudlos verlief, entschließt er sich kurzerhand, die Identität des Toten zu klauen und dessen Stelle als Professor der Moralphilosophie an dem örtlichen College anzutreten. Auf dem Weg durch die großen und kleinen Fallen des Universitätslebens hinterlässt er eine (ethisch wohlbegründete) Spur der Verwüstung und zahlreiche Leichen…
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II


Exitus


Aufbruch


Der erratische Puls der Musik störte den gleichmäßigen Fluss seiner Gedanken, als er versuchte, einen neuen Vorgehensplan zu formulieren, während er zerstreut den Tanzenden zusah. Er hatte inzwischen keine Lust mehr, sich zu beschweren, die Feiernden waren so sehr in der Überzahl. Wie würde es denn aussehen, sie zum Aufhören aufzufordern, wo er selbst sogar schon seinen Weg durch das Zimmer getanzt war? Aus Erfahrung wusste er, dass es meistens der leichtere Ausweg ist, eine Niederlage einfach hinzunehmen. Er würde in sein eigenes Zimmer zurückkehren, sich ein Kissen über den Kopf legen und versuchen zu schlafen. Aus Höflichkeit würde er sich auf die Suche nach der Frau mit den breiten Schultern machen, die er für die Gastgeberin hielt, und gute Nacht sagen. Er fände es nicht richtig, sich einfach zur Tür hinauszuschleichen, selbst wenn er die in diesem Gedränge finden könnte. Während er sich in Gedanken die Details seines Rückzugsplans zurechtlegte, ertappte er sich dabei, wie er in einem mannshohen Spiegel etwas betrachtete, das er für sein eigenes Spiegelbild hielt. Lichttropfen von der Discokugel prallten von der glänzenden Oberfläche ab, beleuchteten eine rundliche Gestalt in einem grauen Anzug, die ein Glas in der erhobenen Hand hielt und ihn ihrerseits anstarrte. Er war überrascht von der Entdeckung, dass er offenbar stark zugenommen hatte in der kurzen Zeit, seit er sich zuletzt in einem Spiegel erblickt hatte. Dann aber ging ihm auf, dass er durch eine Balkontür einen Fremden ansah, denn sein Spiegelbild fing an, unabhängige Handbewegungen zu machen. Ich muss betrunken sein, dachte er.

Was er für sein Spiegelbild gehalten hatte, versuchte nun, ihm durch Lippenbewegungen klarzumachen, dass er nach draußen kommen sollte. Er schob die Glastür zur Seite und trat hinaus auf den Balkon, der ganz leer war, bis auf einen dicken Mann im grauen Anzug. Und dieser Mann trottete jetzt auf einen kleinen Eisentisch mit zwei dazu passenden Stühlen zu. Die Möbel waren strategisch aufgestellt worden, wohl um romantisch veranlagten Hotelgästen einen abendlichen Drink zu ermöglichen, während sie dem Sonnenuntergang hinter der vor dem Balkon ausgebreiteten Innenstadt zusahen.

»Komm schon raus und mach die Scheißtür hinter dir zu – Wallace. Ich heiße Wallace«, brüllte er unserem Helden über die Schulter zu, während Michael Jackson behauptete, er sei gar nicht der Liebhaber von Billie Jean. Mitten auf dem Eisentisch stand eine Ansammlung von Flaschen. »Ich hab hier meinen privaten Alkvorrat«, brüllte Wallace und wies mit einer frisch erhobenen Flasche auf die anderen. »Ich geh da nicht wieder rein. Was für ein Scheißkrach. Ich hasse Disco!«

»Wir haben noch eine weitere Gemeinsamkeit neben unserer Vorliebe für graue Anzüge. Willkommen in meiner Freistätte von der Disco«, sagte der andere und breitete die Arme weit auf, wie um den Balkon zu umfangen. »Hier draußen ist es ja fast erträglich, wenn man die Scheißtür zumacht.«

Er schloss die Tür und dämpfte den Lärm damit so weit, dass sie einander hören konnten, ohne brüllen zu müssen.

»Prost«, sagte Wallace, und sie stießen miteinander an. »Die Achtzigerjahre waren schon beim ersten Mal schlimm genug, man muss sie nicht noch einmal über sich ergehen lassen. Ich wollte mich eigentlich nur wegen des Lärms beschweren.«

»Ich auch.«

»Siehst du? Wir sind Geistesverwandte. Und wo hier schon von Geist die Rede ist, trink doch einen. Gratisalk ist in jedem Jahrzehnt wunderbar.«

Da er sich der Situation anpassen wollte, in der er sich wiederfand, erklärte er sich bereit, mit Wallace einen zu trinken. Sie standen nebeneinander da und tranken. Sie sahen zu, wie die Lichter der Stadt am Horizont als bernsteingelbe Bänder und ungleichmäßige Mosaike aus winzigen gelben Rechtecken getrennt durch große schwarze Flecken aufleuchteten. Als er sein Glas geleert hatte, beschloss er, wieder ins Haus zu gehen und in der Masse aus Körpern seine Jagd nach der schönen Frau mit den breiten Schultern, die ihm die Tür geöffnet hatte, wiederaufzunehmen. »Ich mache mich mal auf die Suche nach unserer Gastgeberin«, sagte er zu Wallace, der an seiner Gratisbar schon sichtlich angetrunken war. In diesem Moment ertönte hinter dem Glas ein kollektiver Entzückensschrei, da Ian Drury aus den Lautsprechern darum bat, mit einem Rhythmusstock geschlagen zu werden. Die Menge echote das Verlangen, geschlagen zu werden, am Ende des ersten Refrains: »Hit me, hit me, hit meeee!«

»Ich liebe dieses Scheißlied«, sagte Wallace und fing an, sich im Takt der durch die Glasscheibe dröhnenden Musik zu wiegen. »Dieses Lied ist übrigens aus den Siebzigern. Nicht aus den Scheiß Achtzigern. Die Siebziger waren ein viel besseres Kackjahrzehnt.«

Unser Held zog wieder eine Grimasse und goss sich einen letzten Fingerbreit Whiskey ein, als Schutz gegen Wallaces ungehemmte Kraftausdrücke.

Wallace trat von einem Fuß auf den anderen, er presste die eine Hand auf die Hüfte, während die andere ihm das Glas in der Positur eines fettleibigen Stierkämpfers über den Kopf hielt.

Er kippte seinen Whiskey auf einen Zug hinunter. »Ich muss los«, schrie er und stellte mit betrunkener Umsicht sein Glas auf den Tisch.

Wallace packte ihn am Revers, als er sich zur Tür umdrehte. »Warte. Warte noch. Ich muss dir was zeigen. Warte doch noch eine Scheißminute«, befahl Wallace und fing an zu lachen. »Ich muss dir was Umwäääärfendes zeigen!«

Mit betrunkener Ungeschicklichkeit stellte Wallace sein Glas auf den Tisch, schüttelte sein Jackett ab, hängte es über einen Stuhl und trat dann mit dem Rücken zu den Lichtern der Stadt in Hemdsärmeln vor ihn. »Schlag mich ins Gesicht, so hart du kannst. Mach schon, schlag mich«, sagte Wallace und richtete sich auf, um den Schlag zu empfangen.

»Ich gehe jetzt«, sagte unser Held und streckte die Hand nach der Türklinke aus.

Wallaces Gesicht wurde tiefrot, und an seinem Hals traten die Adern hervor, als ob ein Stromschalter seinen gesamten Kopf regulierte. Wallace packte ihn am Schlips und zog sein Gesicht dicht an seines heran. »Ich hab gesagt, schlag mich so scheißhart du verdammt noch mal kannst.« Speichel stob aus seinem Mund auf. Dann beruhigte er sich so abrupt, wie er aus der Haut gefahren war, der Schalter in seinem Kopf war in Ruhestellung umgelegt worden. Er ließ den Schlips unseres Helden los und trat lachend zurück. Er hatte sich für eine andere Herangehensweise entschieden. »Hör mal, unter anderem war ich mal Boxer. Ich wollte dir nur zeigen, wie hart mein Gesicht ist. Dieses Stück hat mich an ein Spiel erinnert, das ich als Student gern gespielt habe. Schlag mich ins Gesicht, so hart du kannst. Ich verspreche dir, nicht zurückzuschlagen. Das schwöre ich. Schlag mich einfach, verdammte Scheiße«, flehte er leise. Er fing an zu kichern. Da stand er nun, unser Held, und fragte sich verzweifelt, wie er eine Situation unter Kontrolle bringen könnte, die ihm immer schneller entglitt. Ehe ihm eine beruhigende Bemerkung einfiel, redete Wallace schon wieder weiter.

»Ich weiß, ich bin krass besoffen, aber das ist Problem. Hau nur einmal zu, dann kannst du wieder reingehen. Hör mal, ich bin Ethikprofessor. Deshalb kenne ich den Unterschied zwischen Richtig und Falsch. Das glaubst du nicht? Sehe ich nicht aus wie eine moralische Autorität? Das bin ich. Das ist mein Beruf. Ich sag es dir als professioneller Ethizist – gibt es das Wort? –, dass es nicht falsch ist, mich zu schlagen, wenn ich dich darum bitte. Schlag mich so hart du kannst in mein Scheißgesicht. Genau hier«, sagte er und zeigte auf sein Kinn.

Wallace trat zurück, mit dem Rücken zum Geländer, und grinste. »Nur ein Qualitätstreffer hier. Gib dein Bestes, und wer weiß, vielleicht gewinnst du den Scheißpreis.«

Unser Held konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben jemanden ins Gesicht geschlagen zu haben. Er wusste auch ganz genau, dass er niemals irgendwen auf Aufforderung hin ins Gesicht geschlagen hatte. Er erinnerte sich lebhaft daran, es als Kind noch nicht einmal geschafft zu haben, auf Anweisung seiner Mutter hin eine Maus zu massakrieren. Seine Mutter hatte ihm eine Keksdose gereicht, in der sie die Maus gefangen hatte, und einen Schuh, mit dem er die Gefangene totschlagen sollte. Sein Entsetzen hatte sich in sofortige Zuneigung zu dem zitternden Wesen in der Keksdose verwandelt. Er hatte seine Mutter angelogen und behauptet, er werde das lieber draußen machen. Stattdessen versteckte er seine neue Freundin für sechs Wochen in seinem Zimmer, bis seine Mutter sie schließlich fand und sie selbst totschlug.

Als er Wallace jetzt ansah, stieß er den Atem durch die Zähne aus und fragte sich, wie er aus dieser Situation einigermaßen ungeschoren wieder herauskommen sollte, ohne den anderen zu kränken. Er war sicher, egal, was Wallace über seinen Status als moralische Autorität gesagt hatte, dass er ihn nicht so einfach laufen lassen würde. Er war sicher, dass es zu irgendeiner Szene kommen würde. Vermutlich zu einer Prügelei, bei der ihm der Exboxer bestimmt die Fresse polieren würde. Dann fragte er sich, ob es wohl leichter wäre, Wallace zu schlagen, als ihm zu widersprechen, vor allem, wenn Wallace es ehrlich gemeint hatte und wirklich ins Gesicht geschlagen werden wollte. Was könnte er sagen? »Tut mir leid, ich will dir den Abend nicht verderben, bloß weil ich mich weigere, dich ins Gesicht zu schlagen.« Obwohl dieser innere Dialog für sein vom Alkohol umnebeltes Gesicht ewig zu dauern schien, brauchte sein Gehirn nur den Bruchteil einer Sekunde, um ihn zu verarbeiten, während Wallace vor ihm hin- und herschwankte. Wallaces Gesicht lief jetzt wieder rot an. Wie sollte er diese...


Haefs, Gabriele
Dr. Gabriele Haefs studierte in Bonn und Hamburg Sprachwissenschaft. Seit 25 Jahren übersetzt sie u.a. aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Irischen. Sie wurde dafür u.a. mit dem »Gustav-Heinemann-Friedenspreis« und dem »Deutschen Jugendliteraturpreis« ausgezeichnet, zuletzt 2008 mit dem Sonderpreis des »Deutschen Jugendliteraturpreises« für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. Sie hat u.a. Werke von Jostein Gaarder, Camilla Grebe und Anne Holt übersetzt. Zusammen mit verschiedenen Kolleginnen hat sie mehrere Anthologien skandinavischer Schriftsteller herausgegeben.

Slattery, David
David Slattery ist Kulturanthropologe, unterrichtete an zahlreichen Universitäten, unter anderem auch in Frankfurt am Main, und arbeitet gegenwärtig als Berater im Bereich der Erwachsenenbildung. Sein Bestseller "How To Be Irish" erschien zunächst in einem Independent-Verlag und wurde zu einem Überraschungserfolg. David Slattery lebt in Dublin.



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