E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Skármeta Mit brennender Geduld
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97580-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-97580-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Antonio Skármeta, geboren 1940 in Chile, ist einer der bekanntesten Autoren Südamerikas. 1973 verließ er seine Heimat und lebte viele Jahre im Exil in Berlin. Dorthin kehrte er 2000 als Botschafter seines Landes für drei Jahre zurück. Sein literarischer Welterfolg 'Mit brennender Geduld' wurde ebenso als Film ('Il Postino') zur Legende. Der dafür oscarpreisgekrönte Produzent widmet sich auch der Verfilmung seines auf deutsch erschienenen Romans 'Der Dieb und die Tänzerin', für den Skármeta den hochdotierten spanischen Literaturpreis Premio Planeta erhielt. Der Autor lebt heute in Santiago de Chile. Zuletzt erschien von ihm auf deutsch 'Mein Freund Neruda'.
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UNTER FISCHERN AUFGEWACHSEN, wäre Mario Jiménez nie auf die Idee gekommen, daß sich in der Post dieses Tages ein Köder befand, an den der Dichter anbeißen würde. Kaum hatte er ihm den Packen ausgehändigt, als Neruda mit unfehlbarer Zielstrebigkeit einen Brief herausfischte und ihn direkt vor Marios Augen öffnete. Dies ungewöhnliche, mit der Gelassenheit und Zurückhaltung des Dichters unvereinbare Verhalten ermutigte den Briefträger zu einer Frage, die der Anfang für viele weitere Fragen und – warum es nicht sagen – einer Freundschaft war.
»Warum öffnen Sie diesen Brief so schnell?«
»Weil er aus Schweden kommt.«
»Und was hat Schweden Besonderes, außer den Schwedinnen?«
Obwohl Pablo Neruda nie auch nur mit einer Wimper zuckte, blinzelte er jetzt.
»Den Nobelpreis für Literatur, mein Junge.«
»Den bekommen Sie?«
»Falls das sein wird, werde ich ihn nicht ablehnen.«
»Und wieviel ist er wert?«
Der Dichter, inzwischen zum Kern des Briefes vorgedrungen, sagte ohne besondere Betonung: »Einhundertfünfzigtausendzweihundertundfünfzig Dollar.«
Mario dachte daran, die witzige Bemerkung »und fünfzig Cents« zu machen, unterdrückte seine vorlaute Naseweisheit jedoch instinktiv und fragte statt dessen sittsam: »Und?«
»Hmm?«
»Bekommen Sie den Nobelpreis?«
»Kann sein, aber dieses Jahr haben andere Kandidaten die besseren Chancen.«
»Warum?«
»Weil sie bedeutende Werke geschrieben haben.«
»Und die anderen Briefe?«
»Die lese ich später«, seufzte der Dichter.
Mario, der das Ende des Gesprächs gekommen fühlte, gab sich einer Geistesabwesenheit hin, die der seines liebsten und einzigen Kunden ähnelte, und das so hemmungslos, daß dieser sich zu der Frage gezwungen sah: »An was denkst du?«
»Daran, was wohl in den anderen Briefen stehen mag. Sind es Liebesbriefe?«
Der füllige Dichter hüstelte. »Mann, ich bin verheiratet. Laß so etwas nicht Matilde hören!«
»Entschuldigung, Don Pablo.«
Neruda machte sich über seine Geldbörse her und entnahm ihr einen Schein der Kategorie »mehr als üblich«. Weniger über den Betrag als über die plötzliche Entlassung betrübt, sagte der Briefträger »danke«, und seine Traurigkeit ließ ihn so stocksteif stehenbleiben, daß es schon besorgniserregend wirkte. Den Dichter, der wieder ins Haus gehen wollte, ließ solch auffällige Beharrlichkeit nicht ungerührt. »Was ist los mit dir?«
»Don Pablo?«
»Du stehst da wie ein Laternenpfahl.«
Mario wandte den Kopf und suchte von unten die Augen des Dichters. »Eingerammt wie eine Lanze?«
»Nein, still wie ein Turm auf dem Schachbrett.«
»Noch unbeweglicher als eine Katze aus Porzellan?«
Neruda nahm die Hand vom Türgriff und strich sich über das Kinn. »Mario Jiménez, neben den Elementaren Oden habe ich noch sehr viele bessere Bücher. Es ist nicht recht von dir, mich mit allen möglichen Vergleichen und Metaphern hinzuhalten.«
»Mit was, Don Pablo?«
»Metaphern, Mann.«
»Was ist das?«
Der Dichter legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Um es dir ungefähr klarzumachen: es ist eine Art, etwas auszudrücken, indem man es mit etwas anderem vergleicht.«
»Zum Beispiel?«
Neruda sah seufzend auf seine Uhr. »Also gut, wenn du sagst, ›der Himmel weint‹, was willst du dann damit sagen?«
»Ist doch klar! Daß es regnet, natürlich.«
»Na also, das ist eine Metapher.«
»Und warum hat eine so einfache Sache einen so komplizierten Namen?«
»Weil die Namen nichts mit der Einfachheit oder Kompliziertheit einer Sache zu tun haben. Nach deiner Theorie dürfte ein kleines Ding, das fliegt, nicht so einen langen Namen wie Schmetterling haben. Denk nur mal, daß Elefant viel weniger Buchstaben hat, aber ein viel größeres Tier ist und nicht fliegt«, sagte Neruda erschöpft. Und mit einer letzten Willensanstrengung wies er Mario höflich, aber bestimmt den Weg zur Bucht. Doch der Briefträger fand noch Zeit zu bemerken: »Verdammt, ich würde furchtbar gern Dichter sein.«
»Mann, in Chile ist doch jeder Dichter. Es ist viel origineller, du bleibst Briefträger. Zumindest bist du dann viel unterwegs und wirst nicht fett. Wir Dichter in Chile sind alle Fettwänste.«
Neruda ergriff wieder die Türklinke und wollte endlich ins Haus zurück, als Mario, mit den Augen dem Flug eines unsichtbaren Vogels folgend, sagte: »Wenn ich nämlich Dichter wäre, könnte ich alles sagen, was ich sagen will.«
»Und was willst du sagen?«
»Das ist ja eben das Problem. Da ich kein Dichter bin, kann ich es nicht sagen.«
Der Dichter zog die Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen. »Mario?«
»Don Pablo?«
»Ich werde mich jetzt von dir verabschieden und die Tür schließen.«
»Ja, Don Pablo.«
»Bis morgen.«
»Bis morgen, Don Pablo.«
Neruda warf einen Blick auf die anderen Briefe und öffnete wieder die Tür einen Spaltbreit. Der Briefträger saß draußen mit vor der Brust verschränkten Armen und beobachtete die Wolken. Neruda ging zu ihm und tippte ihm auf die Schulter. Ohne seine Haltung zu verändern, sah der Junge ihn an.
»Ich hab’ noch einmal durch die Tür gesehen, weil ich mir schon gedacht habe, daß du noch nicht gegangen bist.«
»Ich mußte plötzlich nachdenken.«
Neruda nahm den Briefträger mit festem Griff an der Schulter und führte ihn zu dem Laternenpfahl, an dem Mario sein Fahrrad abgestellt hatte. »Und beim Nachdenken mußt du hier sitzen? Wenn du Dichter werden willst, mußt du lernen, im Gehen zu denken. Oder bist du wie John Wayne, der nicht gleichzeitig laufen und Kaugummi kauen konnte? Jetzt gehst du am Strand entlang zur Bucht zurück, und beim Betrachten des Meeres kannst du dir ein paar Metaphern ausdenken.«
»Welche denn?«
»Zum Beispiel dieses Gedicht:
Hier an der Insel
das Meer,
welch ein großes Meer.
Jeden Augenblick
geht es aus sich selbst hervor,
es sagt ja, nein,
nein; nein, nein;
es sagt ja in Blau,
in Schaum, in Galopp;
es sagt nein, nein.
Es kann nicht ruhig sein.
Ich heiße Meer, wiederholt es,
gegen einen Stein schlagend,
ohne daß es ihm gelänge,
diesen zu überzeugen;
mit sieben grünen Zungen,
von sieben grünen Hunden,
von sieben grünen Tigern,
von sieben grünen Meeren
fährt es dann über ihn, küßt es ihn,
macht es ihn naß,
und es schlägt sich gegen die Brust
und wiederholt dabei seinen Namen.«
Er machte zufrieden eine Pause. »Na, wie findest du das?«
»Seltsam.«
»Seltsam! Du bist aber ein scharfer Kritiker.«
»Nein, Don Pablo. Das Gedicht ist nicht seltsam. Ich fühlte mich seltsam, als ich es Sie aufsagen hörte.«
»Mein lieber Mario, kannst du dich nicht etwas deutlicher ausdrücken? Ich habe nicht so viel Zeit, deinen Worten zu lauschen.«
»Wie soll ich es Ihnen erklären? Als Sie das Gedicht aufsagten, gingen die Worte so hin und her, von her nach hin …«
»Wie das Meer eben.«
»Ja, genau. Sie bewegten sich wie das Meer.«
»Das macht der Rhythmus.«
»Und ich fühlte mich seltsam, weil mir von so viel Bewegung ganz schwindlig wurde.«
»Dir wurde schwindlig?«
»Genau. Ich fühlte mich wie ein Boot, das auf Ihren Worten schaukelte.«
Die Wimpern des Dichters hoben sich langsam. »Wie ein Boot, das auf meinen Worten schaukelt.«
»Ja, genau.«
»Weißt du, was du da gemacht hast, Mario?«
»Was?«
»Eine Metapher.«
»Aber die ist doch nichts wert; sie ist mir ja ganz zufällig herausgerutscht.«
»Kein Bild kommt einem zufällig, mein Junge.«
Mario legte eine Hand auf seine Brust, um einen gewaltigen Schlag seines Herzens unter Kontrolle zu bringen, der ihm bis auf die Zunge geschwappt war und nun an seinen Zähnen zu zerschellen drohte. Er blieb stehen und fuchtelte aufdringlich mit dem Zeigefinger zentimeterdicht vor der Nase seines weltberühmten Kunden herum. »Sie glauben, daß die ganze Welt, ich meine die ›ganze‹ Welt, der Wind, das Meer, die Bäume, die Berge, das Feuer, die Tiere, die Häuser, die Wüsten, der Regen …«
»… du kannst schon ›etcetera‹ sagen …«
»… die Etceteras – glauben Sie, daß diese ganze Welt eine Metapher für etwas ist?«
Neruda öffnete...