E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Skov Das Inselhaus
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-18791-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-18791-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leonora Christina Skov, geboren 1976, ist in ihrer Heimat Dänemark für ihre sarkastische Literaturkritik und ihre bissige Kolumne in der Wochenzeitung Weekendavise bekannt. Für ihre Romane 'Das Turmzimmer' und 'Der erste Liebhaber' wurde sie von der dänischen Kritik gefeiert. Leonora Christina Skov lebt in Kopenhagen.
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In Äthiopiens geschäftiger Hauptstadt Addis Abeba ging es allmählich auf die Hauptverkehrszeit zu. Ein paar Etagen unter dem Café Lime Tree warteten ramponierte blauweiße Taxis mit laufendem Motor (Hey Sister, need a ride?), die Sonne stand tief über dem Dunst der Abgase, in zwei Stunden würde sie sich von dem emsigen Treiben abwenden und untergehen. Es war bereits kühler geworden. Robin Lee zog im Café das Fenster zu und klickte sich durch ihren Artikel. Wenn sie sich beeilte, würde sie heute vielleicht noch mit einem ersten Entwurf fertig.
»Hast du wirklich gedacht, du würdest einfach so davonkommen?«, fragte irgendwo über ihrem Kopf eine Männerstimme, kurzatmig in der stickigen Luft. Robins Hände erstarrten ein paar Zentimeter über der Tastatur.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte sie und schaute auf. Vor ihrem Tisch stand ein älterer Herr, der die Hände vor dem Körper übereinandergelegt hatte und Robin mit einem höhnischen Zug um den Mund anblickte. Aus der Brusttasche seines zerknitterten hellgelben Hemdes ragte ein länglicher Briefumschlag, und seine Haut war so weiß wie sein Haar, das an der Stirn bereits ein gutes Stück zurückgewichen war.
»Du weißt genau, was du getan hast, Robin Lee«, entgegnete er und betonte dabei ihren Namen, den er eigentlich gar nicht kennen konnte. Unmöglich. Einen Moment hatte Robin den Eindruck, als hätte sie ihn schon einmal gesehen, doch je länger sie sich in Afrika aufhielt, desto mehr schienen sich ihre dänischen Landsleute zu ähneln. Nach mittlerweile fünfzehn Jahren sah sie kaum noch einen Unterschied.
»Ich muss Sie enttäuschen, ich bin nicht die Robin Lee, nach der Sie suchen«, sagte sie, und das stimmte. Sie war eine gewissenhafte Reisejournalistin mit den Schwerpunkten Afrika und Asien, nichts anderes. Just in diesem Moment arbeitete sie an einem wichtigen Artikel über die euphorisierende Khatpflanze, die dem Horn von Afrika das Grundwasser entzieht und große Teile der Bevölkerung von Somaliland bis zum Jemen einer lähmenden Antriebslosigkeit anheimfallen lässt. Vorher hatte sie die E-Mails ihrer Redakteure beantwortet (Ja, ich lebe noch. Der Terrorangriff, von dem du schreibst, war am anderen Ende des Kontinents) und ihrer kambodschanischen Stammdolmetscherin geschrieben, um sie für einen weiteren Einsatz in einem krisengebeutelten Badeort in Südkambodscha anzufragen.
»Ich versichere dir, du bist die richtige Robin Lee«, sagte der Mann. Sein Brustkorb hob und senkte sich zu schnell. Wer ist das?, dachte sie. Wer zur Hölle ist das?
»Du tust also unschuldig, wie immer«, sagte er und sah sie an, als stellten ihr einteiliger Hosenanzug und das hastig zusammengebundene Haar eine Beleidigung dar. »Wahrscheinlich bist du mal wieder schwer damit beschäftigt, die Welt zu retten, was?«
Er deutete mit dem Kopf auf ihre Notizen und Interviewauszüge, die auf dem ganzen Tisch verteilt lagen, gleich neben der neusten Ausgabe des New African Magazine. »Exclusive. African leaders tell it like it is.« Afrikanischer Optimismus vom Feinsten. Der Kiefer des Mannes bebte.
»Oder willst du vielleicht erst noch ein paar weitere unschuldige Menschen um die Ecke bringen?«
Robin war ja schon einiges begegnet, aber noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, sie würde gerade als Schurkin für einen düsteren dänischen Fernsehkrimi gecastet. Das hätte sie dem Mann am liebsten gesagt und ihn auch gleich gebeten, doch endlich mal umzuschalten, aber sie lächelte nur und sagte nichts. Diese Strategie hatte sie zuletzt im November angewandt, als ein paar simbabwische Polizisten in Bulawayo ein kleines Vermögen von ihr erpressen wollten. Es war ihnen nicht gelungen.
»Wie lebt es sich eigentlich, nachdem so viele sterben mussten?«, fragte der Mann zu laut. »Ist doch sicher komisch, oder?«
Gott sei Dank wurde seine Stimme von einem Flugzeug übertönt, das in einigen Kilometern Entfernung mit einem dumpfen Dröhnen vom Flughafen abhob.
»Wer sind Sie?«, fragte sie, ihr Lächeln war nun erloschen. »Was wollen Sie von mir?«
Der Störenfried war einer dieser Männer, deren Lippen mit dem Alter immer schmaler werden. Was noch von ihnen übrig war, bildete einen farblosen Rand, der auf der einen Seite herunterhing.
»Ich habe eine Theorie entwickelt, die ich gern mit dir teilen will«, sagte er. »Manche Menschen haben von Geburt an so etwas wie kleine, unsichtbare Widerhaken am Körper, an denen Volltrottel wie du einfach haften bleiben. Kennst du das irgendwoher?«
Robin sah sich hastig um. Im Café saß die gewöhnliche Mischung aus neureichen Äthiopiern und weißen Geschäftsleuten, die ihre westlichen Sandwiches aßen. Ein paar äthiopische Frauen mit geglättetem Haar und zwölf Zentimeter hohen Absätzen an ihren Lackschuhen warteten diskret auf Kunden, und eine Handvoll ungewaschener Touristen in Batikhemden und erdfarbenen Pluderhosen lasen in Reiseführern oder schrieben E-Mails. Ein Kellner lief zwischen den Tischen hin und her und servierte starken äthiopischen Kaffee, der die Anwesenden jedoch auch nicht munterer machte. Niemand schien den wahnsinnigen Dänen zu bemerken.
»Wenn ich jetzt Stormø sage, was sagst du dann?«, wollte er wissen. Robin hatte den Ausdruck Es lief ihr kalt den Rücken runter immer für eine leere Redensart gehalten, doch seine Frage war in der Tat wie Eiseskälte, die ihr durch Mark und Bein ging. Stormø war der letzte Ort auf der Welt, an den sie denken wollte, und dennoch sah sie in diesem Moment die Insel und das Haus und sieben Menschen vor sich. Einer davon war sie selbst. So recht hatte sie noch immer nicht begriffen, wie sie von dort entkommen war, und sie wollte es auch nicht herausfinden, nicht mehr. Stormø war ein Detail aus ihrer Vergangenheit, sonst nichts. Ein ausgelöschtes Detail von vielen.
»Du siehst blass aus«, sagte er. »Vielleicht hast du ja doch einen Funken Gewissen?«
Robin klappte den Laptop geräuschvoll zusammen und signalisierte dem nächsten Kellner, er solle zu ihr an den Tisch kommen.
»Excuse me! Yiqirta! This man is bothering me.«
Doch der Kellner musste gerade ein paar altersschwachen Touristen mit Sonnenhüten und fahrigen Armbewegungen dabei helfen, das Geld für ihren Kaffee in speckigen Birrscheinen zusammenzuzählen.
»Ich versuche, Sie möglichst diskret von meinem Tisch entfernen zu lassen, damit ich hier keine Szene zu machen brauche«, sagte sie in die Richtung des Mannes. »Äthiopier mögen so etwas nicht. Sie sind höfliche Menschen, im Gegensatz zu Ihnen. Bitte gehen Sie jetzt augenblicklich.«
»Nicht bevor ich dir das hier gegeben habe.«
Der Mann zog den Briefumschlag aus seiner Brusttasche und legte ihn mit einer feierlichen Geste vor ihr auf den Tisch. Er wirkte plötzlich friedlich, wandte sich um und ging zielstrebig auf den Ausgang zu.
Sobald er die Treppe hinunter verschwunden war, griff Robin vorsichtig nach dem Briefumschlag und betrachtete ihn, drehte ihn mit Daumen und Zeigefinger um und saß eine Weile regungslos da. Der Umschlag war nicht zugeklebt. Ein paar streng gefaltete, maschinenbeschriebene Bögen Papier schauten daraus hervor. Zehn Stück insgesamt, beidseitig beschrieben, wie sie feststellte, als sie den Brief vor sich ausbreitete.
Du hast dich weder nach rechts noch nach links umgesehen, Robin Lee, es war dir egal, du wolltest es nur zu etwas bringen in der Welt, und das hast du geschafft. So sieht Bosheit aus, las sie. Ihr Herz klopfte zu schnell. Ich dachte, früher oder später würdest du deine wohlverdiente Strafe schon bekommen, doch du bliebst verschont. Und daran hast du dich gewöhnt, nicht wahr?
Robin kramte in ihrer Tasche nach der Kakaobutter, schraubte den Deckel ab und rieb sich in langsamen Bewegungen Hände und Unterarme ein. Der süße Duft beruhigte sie normalerweise, doch an diesem Tag stieg er ihr penetrant in die Nase. Sie war eine gewissenhafte Reisejournalistin und nichts anderes, das war sie immer schon gewesen. Gewissenhaft. Die ganze Zeit. Alles andere waren ausgelöschte Details.
Mit einem Mal drang der Lärm von quietschenden Autoreifen und zersplitterndem Glas ins Café Lime Tree, und eine unheilvolle Stille legte sich über die Bole Road. Dann wurde gehupt und gerufen, immer lauter.
»Policetira tiri! Help! First aid, anyone?«
Robin schaute zum Fenster hinaus uns sah mehr als genug: ein Taxi mit blutverschmierter Kühlerhaube und ein weißer Mann, der in der dritten Spur ausgestreckt auf der Fahrbahn lag. Sein hellgelbes Hemd hatte dunkelrote Flecken, die sich unter ihm ausbreiteten, der Verkehr war in allen Spuren zum Erliegen gekommen. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen, legte 130 Birr auf den Tisch und lief die Treppe hinunter, hinaus auf den Gehweg, wo die Leute ebenso stillstanden wie die Autos auf der Straße. Drei Männer standen über den schwerverletzten Dänen gebeugt und sprachen leise miteinander, während aus der Ferne Sirenen näher kamen. Wie auf Kommando setzten sich die Autos auf den anderen Spuren wieder in Bewegung.
»The gentleman didn’t watch out for the traffic at all«, sagte ein junger Äthiopier in ihre Richtung. Der Pappbecher von Kaldi’s Coffee bebte in seinen Händen. »I think he is dead, sister. Did you know him?«
Robin schüttelte den Kopf und ging weiter. Sie kannte den Mann nicht, und nun war er tot. Im Grunde hätte sie erleichtert sein sollen, doch das Ganze kam ihr vor wie ein Film, den sie irgendwer zu sehen zwang. Sie schlängelte sich vorbei an westlich gekleideten und verhüllten Äthiopiern mit...