E-Book, Deutsch, Band 2, 493 Seiten
Reihe: Geiger-Reihe
Skördeman Faust
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7517-1041-1
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 2, 493 Seiten
Reihe: Geiger-Reihe
ISBN: 978-3-7517-1041-1
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nachdem Sara Nowak das Netzwerk der Stasi-Mitarbeiter in Schweden auffliegen ließ und einen Bombenanschlag in Deutschland verhindert hat, werden die Ereignisse von den schwedischen Geheimdiensten unter den Teppich gekehrt. Sara willigt ein, darüber zu schweigen, doch dann wird ein Ex-Spion ermordet, der sie wenige Tage zuvor vergeblich um Rückruf gebeten hatte. Obwohl sie an ihrer neuen Stelle in der Kriminalpolizei bereits genug mit einer Mordserie in der Unterwelt zu tun hat, lässt ihr schlechtes Gewissen sie erneut in der Spionagewelt herumstochern. Dabei scheint sie einen Agenten namens FAUST mit einer Vergangenheit in der RAF gegen sich aufzubringen ...
Gustaf Skördeman ist 1965 in Nordschweden geboren. Heute lebt er mit Frau und zwei Kindern in Stockholm. Er ist Drehbuchschreiber, Regisseur und Filmproduzent. Faust ist der zweite Teil einer Thriller-Trilogie, die mit Geiger ihren erfolgreichen Start hatte. Der Titel stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Auch international war Geiger ein großer Erfolg. Die Trilogie erscheint in 20 Ländern.
Weitere Infos & Material
2
»Wo ist Karin?« Das Seil spannte sich fester um seinen Hals und machte es ihm schwer, die Worte auszusprechen. Er schielte zu Rau hinunter. Sie waren beide sehr viel älter geworden. Warum tat er das? Konnten sie nicht einfach in aller Ruhe die Jahre genießen, die sie noch hatten? »Stimmt«, sagte Rau. »Karin. Gut, dass du mich daran erinnerst.« Und auf Deutsch fügte er hinzu: »Vielen Dank.« Stiller spürte, dass Rau ihm hinter dem Rücken etwas Hartes in die gefesselten Hände legte, um dann Stillers Fingerspitzen dagegen zu drücken. »Ich hätte fast vergessen, deine Abdrücke auf dem Messer zu hinterlassen. Wahrscheinlich werde ich langsam alt.« Rau lächelte. Als wäre der bloße Gedanke, dass er altern könnte, nichts als ein absurder Witz. Stiller sah ihn an, konnte seine Augen nicht von ihm wenden. Graues Haar, tiefe Furchen im Gesicht, genauso alt wie Stiller selbst, aber trotzdem wesentlich attraktiver. Ein echter Mann. Das war Stiller niemals gewesen, nicht in seinen eigenen Augen und wohl kaum in den Augen anderer. Raus Haltung verriet weder sein Alter noch sein entbehrungsreiches Leben. Sein Rücken war gerade, und er strahlte Energie und Kraft aus. »Das Messer?«, fragte Stiller verwundert, obwohl er die Wahrheit bereits ahnte. Er wollte bis zum Schluss noch hoffen dürfen. »Ich stelle mir vor, dass du es vor lauter Panik weggeworfen hast«, sagte Rau, hielt ein großes Messer hoch und warf es nachlässig in eine Ecke der Küche. Ein Tranchiermesser mit einer langen, scharfen Klinge, die jetzt voller Blut war. Ein Fiskars, wenn sich Stiller richtig erinnerte. Absurd, dass ausgerechnet jetzt die Marke des Messers in seinem Kopf auftauchte. Dieses Messer war seit über dreißig Jahren in ihrem Besitz, und es hatte ausgezeichnete Dienste geleistet. Sie brauchten eigentlich kein neues. Brot, Steaks, Weißkohlköpfe, alles hatte es ganz leicht bewältigt. Und jetzt … »Wo ist Karin?«, fragte Stiller erneut, dieses Mal mit Panik in der Stimme. »Ja, wie nennt ihr es denn? Im oberen Salon? Man gibt den toten Räumen ja gerne feine Namen. Diese Halle, die offensichtlich kaum zu möblieren ist. Irgendwo da oben jedenfalls.« »Karin!« »Das ist gut. Schrei nur. Wenn jemand es hört, dann untermauert das nur die offizielle Version.« »Wovon? Was hast du mit ihr gemacht?« »Ich?«, sagte Rau mit einem verwunderten Ausdruck. »Ich nehme an, du bist einfach zusammengebrochen, nachdem deine alten Spionagekameraden einer nach dem anderen ermordet worden sind. Vielleicht hattest du Angst, dass du der Nächste bist. Und dabei sind jede Menge Schuldgefühle wieder zum Leben erweckt worden. Du hast lange Zeit unter großem Druck gelebt. Du hast dich für deine Vergangenheit geschämt, die dich jetzt wieder eingeholt hat. Was weiß ich? Die Polizei kann sich da bestimmt noch etwas Besseres zusammenreimen. Du kamst von deinem täglichen Morgenspaziergang, und dann fingt ihr an zu streiten, und, tja …« Rau hielt inne und betrachtete Stiller, der auf den Zehenspitzen auf dem Küchenstuhl balancierte. Ein Stuhl, der mit Sicherheit zum Pfarrhaus gehörte und schon seit Jahrzehnten hier gestanden haben musste. Helles Kiefernholz, das nicht besonders gut zu dem dunkel gebeizten Klapptisch passte. Dazu gehäkelte Tischläufer und kleine orangefarbene Kerzen in ebenso kleinen Ständern. Ein moosgrüner Lampenschirm aus Samt mit braunen Fransen. Herdabdeckplatten aus Kupfer, jahrzehntealte Gewürzgläser mit Thymian, Zimt und Zitronenpfeffer. An der Wand hing ein Kalender vom ICA-Supermarkt, ein Plakat mit verschiedenen Pilzsorten sowie ein paar Stickereien mit frommen Sprüchen. »Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, zu dir.« Rau begriff nicht, wie Leute so leben konnten, ohne Atemnot zu bekommen. Obwohl, Atemnot war im Grunde ja das, was Stiller gerade hatte. »Genau. Die Requisiten.« Er verließ die Küche, und Stiller starrte an die Decke, als hoffte er, durch sie hindurchsehen und Karin entdecken zu können. Lebte sie noch? Wie schwer hatte Rau sie verletzt? Und was würde er mit Stiller machen? War das hier nur eine Warnung? Er betete, dass es nur das war. Rau kehrte mit einer Bibel zurück. »Matthäus, oder? Das ist doch die beste Version.« Rau schwieg, als würde er wirklich auf eine Antwort warten. Nach ein paar Sekunden fuhr er fort: »Kapitel siebenundzwanzig, nicht wahr? Vers drei bis fünf? Oder?« Er warf Stiller einen fragenden Blick zu und begann zu lächeln. »Ich habe es gegoogelt. Leider ist die Darstellung dort ein bisschen trocken, aber ich denke, es wird trotzdem funktionieren.« Er schlug die Bibel an der genannten Stelle auf und legte die Heilige Schrift auf den Küchentisch. Dann wandte er sich Stiller zu. »Tja, mein Freund. Jetzt habe ich noch ein paar Fragen an dich. Und die Antworten werden über dein Schicksal entscheiden.« Stiller starrte verwirrt um sich. Das Seil schnitt ihm in den Hals, und der Nacken schmerzte, nachdem er den Kopf so lange schief gehalten hatte. Jeder Atemzug war ein Kampf. »Volksgerichtsprozess gegen Jürgen Stiller, der den revolutionären Kampf verraten hat, indem er kleinbürgerlichen Abweichungen und revisionistischen Tendenzen nachgegeben und versucht hat, persönlichen Gewinn aus der reinen sozialistischen Lehre zu ziehen.« »Ich bekenne mich schuldig«, brachte Stiller mühsam über die Lippen. Seine Beine fühlten sich immer tauber an. Er würde nicht mehr lange das Gleichgewicht halten können. »Ich bekenne mich schuldig …« Das Lächeln verschwand von Raus Lippen. »Mit wem hast du gesprochen?« »Worüber?« »Über mich.« »Mit niemandem.« Rau tippte mit der Schuhspitze gegen den Küchenstuhl. Stiller zuckte zusammen und versuchte die Bewegung auszugleichen, was allerdings nur dazu führte, dass er sich zur anderen Seite neigte. Das Seil drückte auf den Kehlkopf, und ein paar wenige, aber ewig erscheinende Sekunden lang bekam er keine Luft. Rau verfolgte seinen Kampf mit gleichgültigem Blick. »Mit niemandem!«, schrie Stiller und hoffte, dass draußen vielleicht jemand vorbeiging und ihn hören würde. Vielleicht könnte er ja noch davonkommen. Er wusste, dass Scheinhinrichtungen eine verbreitete Methode waren, um Leute zu brechen. Aber man überlebte sie zumindest. »Mit niemandem, ich schwöre!« Rau hob den Fuß. Ließ ihn aufreizend hin und her schwingen. »Warum hätte ich das tun sollen?«, sagte Stiller. »Mit wem sollte ich darüber sprechen?« »Was weißt du über Wahasha?« »Worüber?« »Über die Operation Wahasha.« »Nichts.« »Schade.« »Warum schade?«, quäkte Stiller. »Wenn du nichts darüber weißt, bist du für mich nichts wert.« Und dann fügte er auf Deutsch hinzu: »Leider.« Rau setzte den Fuß wieder an den Stuhl. »Warte! Wahasha, sagtest du? Ich kann es herausbekommen. Ich kenne Leute. Ich kann es herausfinden.« »Vergiss es.« »Bitte, ich werde niemandem irgendetwas erzählen. Es tut mir leid, dass ich …« »Pssst …«, sagte Rau, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Eingelegter Hering, Anchovis, Kaviar, Dickmilch, Frischhaltedosen mit Resten, eine blaue Teetasse, die anscheinend mit übrig gebliebenem Bratenfett gefüllt war. Keine menschenwürdige Nahrung weit und breit. Mit einer Grimasse drehte sich Rau wieder zu Stiller um. »Was hast du Sara Nowak erzählt?« »Wer ist das?«, antwortete Stiller. »Die Polizistin, die Geiger enttarnt hat. Die Polin. Hast du sie angerufen?« »Nein, das habe ich nicht.« »Du hast einfach eine Nummer aufgeschrieben, ohne zu wissen, dass es ihre ist? Rein zufällig?« Rau hielt das kleine, schwarze Notizbuch hoch, das er in Stillers Arbeitszimmer gefunden hatte. »Notizen für Gottesdienste, Telefonnummern von Handwerkern, dem Bischof in Linköping und von Sara Nowak.« Rau sah vom Notizbuch hoch. Jetzt lächelte er nicht mehr. Stiller schluckte, und noch mehr Schweiß trat auf seine Stirn. »Ich … ich wollte nur hören, wie es mit Geiger gelaufen ist.« »Du lügst«, sagte Rau auf Deutsch und setzte die Schuhspitze auf den Rand des Küchenstuhls. »Ich habe sie gar nicht erreicht! Ehrlich! Ich habe mit niemandem gesprochen!« »Vielleicht«, sagte Rau erneut auf Deutsch und drückte den Stuhl ein paar Zentimeter zur Seite. »Vielleicht auch nicht.« »Bitte, Otto, ich habe nicht …« »Pssst …« Rau sah ihn vorwurfsvoll an und legte einen Finger auf seine Lippen. »Ich glaube dir.« Stiller atmete aus, soweit es ihm überhaupt möglich war. Rau lächelte Stiller an, drehte sich langsam um und stellte seine schwarze Tasche auf die Arbeitsplatte. Ein alter Küchenschrank, dachte er verwundert, als er die Tasche öffnete. Bestimmt aus den Dreißiger- oder Vierzigerjahren. Warum schafft man sich nicht eine moderne Küche an, selbst wenn das Haus alt ist. Menschen ohne jeden Sinn für Ästhetik. Spiritualität war einfach nur ein anderer Name für die totale Abwesenheit von Geschmack. Durch das Fenster sah er die Kirche, die ein paar hundert Meter entfernt hinter einem Acker lag. Dort hatte der große Bischof Giertz, einer der bekanntesten christlichen Amtsträger in Schweden, am Anfang seiner Karriere gewirkt. Dieses Wissen hatte Rau sich natürlich ergoogelt. Heutzutage war das gesamte...