E-Book, Deutsch, 516 Seiten
Skarga Nach der Befreiung
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-455-01727-4
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944-1956
E-Book, Deutsch, 516 Seiten
ISBN: 978-3-455-01727-4
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wer diese Aufzeichnungen liest, wird sie nie wieder vergessen
Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges wird eine junge polnische Frau von der sowjetischen Armee festgenommen, tagelang verhört und dann für zehn Jahre in einem Gulag inhaftiert: Dies ist das Schicksal Barbara Skargas, einer Frau und Philosophin, die mit ihrem scharfen Verstand, ihrer unverbrüchlichen Menschlichkeit und nicht zuletzt ihrem Humor einen Alptraum überlebte, von dem sie in einem beeindruckenden und nun entdeckten Memoir Zeugnis ablegt. Nach der Befreiung ist ein historisch bedeutendes, hochaktuelles Buch – und zugleich ein einzigartiger, ergreifender Bericht über den unerschütterlichen Willen, unter unmenschlichen Bedingungen Mensch zu bleiben.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Editorische Notiz
Über Nach der Befreiung
Über Barbara Skarga: Leben und Werk einer Renaissancefrau
Zeitleiste von Skargas Gefangenschaft
Vorwort
1 Der Alltag: das Gefängnis
2 Das Hospital
3 Die Arbeit
4 Alltag: das Lager
5 Liebe
6 Theater und Schauspieler
7 Budjonowka
8 Die Grenze
Glossar
Hinweise des niederländischen Übersetzers
Bildteil
Zitierte Werke
Hauptwerke von Barbara Skarga
Fußnoten
Über Barbara Skarga
Impressum
Über Nach der Befreiung
Im akademischen Jahr 2007/2008 arbeitete ich als Gastwissenschaftlerin an der Universität Warschau. Einen Großteil dieses Jahres verbrachte ich mit dem Sammeln von Quellenmaterial und Vorbereitungen für meine Doktorarbeit, die ich im folgenden Jahr an der Universität Gent beginnen wollte. Gleichzeitig bot mir dieses Vorbereitungsjahr in meiner Heimatstadt auch die Möglichkeit, Fächer meiner Wahl zu belegen und meine Kenntnisse über Aspekte der Philosophiegeschichte zu vertiefen, mit denen ich bis dahin nicht sehr vertraut war. In meinem Studium der Moralwissenschaften in Gent hatte ich beispielweise selten, wenn überhaupt, etwas über Denker aus östlicheren Regionen Europas gehört. Es schien so, als hörte die europäische Philosophie an der Ostgrenze Deutschlands auf zu existieren. Kontinentale Philosophie an westeuropäischen Universitäten befasst sich fast ausschließlich mit deutschen und französischen Denkern. Mehr als die Hälfte des europäischen Kontinents wird damit schlichtweg übergangen. Während meines Jahres in Warschau versuchte ich jedenfalls, die polnische und russische Philosophie besser kennenzulernen. Dort und damals hörte ich zum ersten Mal den Namen Barbara Skarga. Ich beschäftigte mich mit dem Werk des einflussreichen polnischen Philosophen Leszek Kolakowski (1927–2009), und in einem der Artikel, die ich las, wurde auf eine Studentin von ihm verwiesen: Barbara Skarga. Das verwirrte mich ein wenig, weil Skarga fast ein Jahrzehnt älter war als Kolakowski; keine klassische Lehrer-Schüler-Beziehung also. Ich war sofort von dieser brillanten Studentin Kolakowskis fasziniert und kaufte mir alle Bücher, die ich von den beiden finden konnte. Ich hatte das Glück, dass beide Denker damals noch lebten und ihre neueren Werke noch im Buchhandel erhältlich waren. Ein zusätzlicher Glücksfall war, dass Kolakowski ausgerechnet 2007 seinen achtzigsten Geburtstag feierte. Der wurde an der Universität Warschau ausgiebig begangen, und zu diesem Anlass kam Kolakowski, der seit Anfang der siebziger Jahre in Oxford lebte und arbeitete, selbst nach Warschau. Er wurde in einer prachtvollen Aula der Universität geehrt. Im Anschluss daran folgte eine festliche Zusammenkunft mit Studenten und Professoren. Und dort sah ich zum ersten und letzten Mal auch Barbara Skarga, zuerst auf dem Podium neben Kolakowski und danach in den Gängen. Nach meiner Rückkehr aus Warschau stürzte ich mich auf meine Doktorarbeit und hatte weniger Zeit, mich mit Skarga und Kolakowski intensiver zu befassen. Erst nach Abschluss meiner Dissertation nahm ich mir wieder ausgiebig Zeit, um mich in ihre Werke zu vertiefen. Daraus ging unter anderem ein Buch über Kolakowskis Leben und Werk hervor, das ich zusammen mit zwei Kollegen geschrieben habe. Und es führte auch zu einem dauerhaften, zunehmenden Interesse an der Persönlichkeit und der Philosophie Skargas. In den letzten Jahren habe ich mich zwar gelegentlich und indirekt in mehreren meiner Schriften auf sie bezogen, aber sie stand nie im Mittelpunkt, auch wenn ich fast ständig mit dem Lesen, Zusammenfassen und Analysieren ihrer Bücher beschäftigt war. So wollte es der Zufall, dass ich gerade mitten im Lesen von Skargas Buch Po wyzwoleniu… (1944–1956) war, als Russland im Februar 2022 mit seiner großflächigen Invasion in die Ukraine begann. Schlagartig wurde mir die Relevanz von Skargas Worten bewusst. Alles, was sie vor so vielen Jahren niedergeschrieben hatte, bekam in diesen Tagen und Wochen eine zusätzliche Bedeutung, eine besondere Dringlichkeit. So vieles von dem, was Skarga beschrieben hatte, war auf schmerzliche Weise wiedererkennbar geworden. Die russische Rhetorik über die Notwendigkeit, das Nachbarland von Faschisten zu befreien. Menschen, die in Züge Richtung Osten gesetzt wurden. Hunger als Waffe. Deportationen, die Evakuierungen genannt wurden. Scheinreferenden und -wahlen. Skarga beschrieb, wie es früher war, und die Parallelen zur heutigen Zeit sind nicht zu verkennen. Die Erkenntnis, dass jeder Skargas Nach der Befreiung lesen sollte, um zu einem besseren Verständnis von Gegenwart und Vergangenheit zu gelangen, traf mich Ende Februar 2022 fast wie ein Blitzschlag. Ich möchte betonen, dass Skarga unbestreitbar die Grande Dame der polnischen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts war und dass sie ein Werk von solchem Umfang und solcher Tiefe geschrieben hat, dass man sich damit ein Leben lang beschäftigen könnte. Aber gleichzeitig – und ohne ihre Verdienste als Philosophin damit schmälern zu wollen – kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass kein einziges philosophisches Buch von ihr so bedeutsam und so wertvoll ist wie Po wyzwoleniu…: ihre autobiographischen Aufzeichnungen über ihre Jahre im Gulag und während der Verbannung auf eine Kolchose im äußersten Osten Russlands. Skargas Nach der Befreiung ist in mindestens dreifacher Hinsicht von Bedeutung. Zunächst ist das Buch von historischer Relevanz. Es enthält eine Fülle sachlicher Informationen über einige der dunkelsten Seiten der zentral- und osteuropäischen Geschichte. Es ist auffallend, dass die historische Forschung, das kollektive Bewusstsein und das verfügbare Wissen über den Gulag sowie die Literatur darüber eher begrenzt sind, besonders im Vergleich zur Beschäftigung mit den Lagern der Nazis. Für Historiker ist Nach der Befreiung deshalb auch von unschätzbarem Wert. Skarga skizziert Aspekte des Gulaguniversums, die in anderen Aufzeichnungen und Werken über den Gulag, beispielsweise von Solschenizyn, eher fehlen. Skarga selbst unterstreicht den Wert von Solschenizyns Werk, aber auch dessen Schwächen. Sie hebt hervor, wie anders es war, als Europäer und nicht als Russe im Gulag zu sitzen. Sie zeigt auch auf, wie anders es war, als Frau im Gulag zu landen. Das grundlegende Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit. Die Angst, vergewaltigt zu werden, schwanger zu werden. Und was passiert dann? All das sind Aspekte, die für eine Frau zum alltäglichen Leben im Gulag dazugehörten und die Skarga auf oft ergreifende Weise beschreibt und in Erinnerung bringt. Die Kenntnis der Vergangenheit ist immer auch unabdingbar für ein besseres Verständnis der Gegenwart. Dies führt uns zu einem zweiten Aspekt der Bedeutung von Nach der Befreiung. Man lernt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart besser kennen. Wer die derzeitigen Beziehungen Russlands zu seinen Nachbarn und der slawischen Welt besser verstehen will, kann in Nach der Befreiung wichtige, aber auch traurige Lektionen lernen: Lektionen über Russlands Imperialismus und Eroberungsdrang, über die falsche Rhetorik der Befreiung, über die Mentalität der Fügsamkeit und Untertänigkeit der russischen Bevölkerung, über Polen, über die Ukraine, jene Nation, die Skarga so schön als Steppenfalke beschreibt – prächtig schwebend mit kraftvollen Schwingen –, und zugleich eine so tragische Nation, die immer wieder vom Schicksal geknechtet wird; eine verlorene, unglückliche Nation, die doch so sehr frei sein möchte. Die europäische Geschichte hat uns im Jahr 2022 eingeholt. Die Geschichte wiederholt sich, stellte auch Skarga fest, und sie widerspricht damit Marx, dem zufolge sich die Geschichte erst als Tragödie und dann als Farce wiederholt. Nein, die Wiederholung der Geschichte bleibt immer Mal für Mal tragisch. Drittens schrieb Skarga ihre Erinnerungen in den frühen achtziger Jahren nieder. Sie war zu dieser Zeit eine Philosophin in der Blüte ihres Denkens, und das kann man in Nach der Befreiung auch sehen. Das Buch enthält viele Gedanken, die zu weiterer Reflexion anregen – Gedanken, die das Wesen des Menschen, der Zwischenmenschlichkeit und der Unmenschlichkeit ergründen. Nicht nur aus historischer und aktueller, sondern auch aus philosophischer Perspektive ist Nach der Befreiung deshalb ein Buch, das man in Ehren halten, lesen und wiederlesen sollte. Schließlich möchte ich auch die literarischen und erzählerischen Qualitäten von Nach der Befreiung erwähnen. Das Buch ist eine außergewöhnliche Mischung aus persönlichen Reminiszenzen, historischem Tatsachenmaterial, philosophischer Reflexion und literarischer Kunstfertigkeit. Es hat zudem einen bemerkenswerten Aufbau und eine organische Erzähllinie, um all diese Elemente zu einem Ganzen zu schmieden. In ihrem Vorwort spielt Skarga selbst diese Aspekte des Buches allerdings herunter, und sie scheint mir dabei zu bescheiden zu sein. Skarga erklärt, dass ihr Buch »unfertig« sei, weil es nun einmal unmöglich zu vollenden sei. Es werde immer Erinnerungen geben, die wieder auftauchen, wieder verblassen, sich aufdrängen, wieder verebben. Immer gebe es Informationen, die weiter aufgedröselt werden könnten und sollten. Es gebe immer mehr zu sagen, als gesagt werden könne. In anderen Büchern, etwa einer in Interviewform aufgezeichneten Autobiographie aus dem Jahr 2008, kommen in der Tat noch andere Erfahrungen aus Skargas Jahren im Gulag zur Sprache – Erfahrungen, die zweifellos auch in Nach der Befreiung ihren Platz hätten finden können. Ein treffendes Beispiel ist die Geschichte von Heino. In Kapitel 4 von Nach der Befreiung wird ganz kurz auf einen Arzt namens Heino verwiesen, aber mehr erfahren wir nicht über ihn. Dennoch war Heino eine nicht unbedeutende Figur in Skargas Leben. Er war ein...