Siris Ali Hassans Intrige
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-931-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman aus Syrien
E-Book, Deutsch, 189 Seiten
Reihe: Arabische Welten
ISBN: 978-3-85787-931-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der syrische Schriftsteller Nihad Siris schildert - mit ironischen Zwischentönen - eindrucksvoll die Zustände in einem totalitären Staat, in dem die Herrschenden ihre Politik mit Gewalt und einer perfekten Propagandamaschinerie durchsetzen und keinerlei Abweichung dulden.
Schon seit fünf Jahren ist Fathi Schîn, ein bekannter Schriftsteller, mit einem Schreib- und Publikationsverbot belegt. Er gilt als »Abweichler«, als »elender Verräter«, hatte er es doch abgelehnt, in seiner Fernsehsendung einen literarischen Wettbewerb über den Grossen Führer zu veranstalten, was ihn prompt seine Stelle kostete. Das Schreibverbot hätte ihn längst erstickt, gäbe es da nicht seine verwitwete Mutter, die ihn finanziell unterstützt, und vor allem seine Geliebte Lama, eine schöne, kluge und selbstbewusste Frau. Doch die Mächtigen wollen sich nicht mehr mit seinem Schweigen begnügen, sie fordern seine Mitarbeit. Ausgerechnet während der Feierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag der Machtergreifung des Grossen Führers stellen sie ihm eine Falle.
Weitere Infos & Material
2
Als mein Vater vor fünf Jahren starb, hinterliess er eine attraktive fünfzigjährige Witwe, einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn bin ich, Fathi Schîn, vor drei Monaten einunddreissig Jahre alt geworden. Doch in diesem Kapitel soll nicht von mir die Rede sein, sondern von Ratîba Chânum, meiner Mutter, und von meiner Schwester Samîra, die fünf Jahre jünger ist als ich. Da ich gerade auf dem Weg zu meiner Mutter bin, möchte ich einiges von ihr berichten. Abdalhakîm, mein Vater, war ein junger Rechtsanwalt, als er bei der Familie der verwöhnten kleinen Ratîba um ihre Hand anhielt. Gut fünf Jahre zuvor hatte er sein Studium abgeschlossen, aber noch immer keine geeignete Braut gefunden. Er galt allgemein als ein gewiefter Anwalt und politischer Querkopf und war bekannt für seine gleichzeitige Aversion gegen die Regierung und die Opposition. Als wortgewandter Jurist erfand er die sonderbarsten Bonmots für seine Todfeinde, zum Beispiel: »das reinste Affenregiment«, »Regierende, die mehr schnabulieren als produzieren«, »eine Regierung, die aus den Herzen auszubürgern ist«, »Regentschaft auf allen vieren« und andere Sticheleien, mit denen er die Minister zum Lachen brachte und zugleich verärgerte. Die Oppositionellen bedachte er mit milderen Sentenzen, schliesslich war er Liberaler. So sagte er über sie: »die furchtlosen Kriecher zur Macht«, »Opposition in Auktion«, »Bespuck mich, nur lass mich ans Ruder«, »Protestler mit Gottvertrauen«, »die Rebellischen Showgirls« und so weiter. Wegen seiner provokanten Artikel war der junge Anwalt ringsum von Feinden umgeben. Noch dazu veröffentlichte er sie in einem Lokalblatt, dessen Abonnenten vorwiegend aus Arbeiterkreisen stammten. Weil er aber so viele Feinde und so wenige Freunde besass, konnte er nicht heiraten. Dabei war meine Grossmutter sehr rührig bei der Suche nach einer passenden Braut für den spitzzüngigen Advokaten. Einmal fand sie ein junges Mädchen, dessen Eltern ihn freudig willkommen hiessen. Doch schon am nächsten Tag entschuldigten sie sich, nachdem sie die vernichtenden Auskünfte und Ratschläge seiner Feinde aus beiden Lagern vernommen hatten. Bevor er nun ganz und gar verzweifelte, brachte ihm meine Grossmutter eine allerletzte Kandidatin – Ratîba, die reizende Schwester eines Händlers in der Stadt. Ihr Vater war verstorben, und sie hatte ein beträchtliches Vermögen geerbt. Vor allem aber war sie ein sehr fröhliches junges Mädchen. Humor und Heiterkeit waren ihre hervorstechenden Eigenschaften, gepaart mit Schlagfertigkeit und einer grosszügigen Ignoranz gegenüber dem Auf und Ab der Welt. Genau das war es, was der streitbare Hagestolz Abdalhakîm gesucht hatte. Stehenden Fusses begab er sich zu ihrem Bruder und stellte sich vor. Um den bösen Zungen seiner Widersacher zuvorzukommen, berichtete er ihm freimütig von seiner Feindschaft sowohl gegen die Regierung als auch gegen die Opposition. Der Händler, der später mein Onkel Mufîd werden sollte, bat den jungen Anwalt, ihm die Zeitungsausschnitte mit seinen Artikeln vorbeizubringen. Die ganze Nacht las er die Pamphlete, die ihn eigentlich hätten beunruhigen sollen. Doch bereits am Morgen darauf übermittelte er seine Zustimmung. Nun gehörte mein Onkel Mufîd durchaus nicht zu den Leuten, die sich gern mit Politikern anlegen. Er war geradlinig und vernünftig, nicht wie seine Schwester, die sich über alles lustig machte. Deshalb wunderten sich die Leute, dass er dieser Heirat so schnell zustimmte. Und noch mehr verblüffte es sie, als er der Rufmordkampagne, die man in unserer Stadt »Lästerei« und »Hickhack« nennt, energisch entgegentrat. Mein Onkel Mufîd war sicher, dass dieser geistreiche Spötter der richtige Ehemann für seine Schwester war, die nicht einmal im Schlaf aufhörte zu lachen. Die Brautleute heirateten also und verbrachten die Flitterwochen im feinsten Hotel eines vornehmen Sommerkurortes am Rande eines bewaldeten Tals. Hier entdeckte der frischgebackene Ehemann die höchst erstaunlichen Talente seiner jungen Frau. Nachdem er ihr aus seinen Artikeln vorgelesen hatte, kicherte sie erst ein bisschen, bald aber lachte sie nicht mehr über seine ironischen Spitzen. Sie fand sie zu gewöhnlich und formulierte selbst einige Spötteleien über die politischen Gegner ihres Mannes. Er war darüber hellauf begeistert und baute sie gleich in seine Texte ein. Doch damit nicht genug, meine Mutter kombinierte ihre satirischen Geistesblitze überraschend mit alten Witzen, so dass sich mein Vater halb totlachte. Sie bezeichnete seine Artikel als harmlos und riet ihm, die Politiker schärfer zu karikieren, statt sie mit ein paar polemischen Floskeln zu bedenken. Und das tat er wirklich! Er wurde berühmt, besonders nachdem ihn die Gewerkschaft der Rechtsanwälte wegen solcher Attacken mehrmals ausgeschlossen hatte. Ich war die erste Frucht dieser munteren Ehe. In meiner Ernsthaftigkeit schlug ich Onkel Mufîd nach, und in der Aufsässigkeit war ich ganz mein Vater. Meine Schwester aber wurde in allem das Ebenbild unserer Mutter Ratîba Chânum. Samîra hat ein dickes Fell, nichts bringt sie aus der Fassung, und sie kann jederzeit und über alles lachen. Lassen Sie mich erklären, was ich mit »Dickfelligkeit« meine. Eines Tages gab es ein starkes Erdbeben, das auch unser Haus heftig erschütterte. Im Wohnzimmer, wo meine Mutter und meine damals zehnjährige Schwester sassen, schaukelte der Kronleuchter an der Decke. Einige wertvolle Kunstgegenstände kippten aus den Regalen der Bibliothek und zerbarsten. Es fehlte nicht viel, und der Fernseher wäre heruntergefallen. Aus der Küche war das Klirren von Geschirr zu hören. Ich rannte aus meinem Zimmer, um meine Mutter, meine Schwester und mich selbst zu beruhigen. Doch als ich mit bleichem Gesicht ins Wohnzimmer stürzte, musste ich feststellen, dass ich der einzige Erschrockene war! Meine Mutter setzte ungerührt ihre Arbeit fort, sie strickte zum drittenmal den gleichen Wollpullover. Ab und zu warf sie einen flüchtigen Blick auf den heftig schwingenden Leuchter. Das Transistorradio lief, eben gab der Sprecher seiner Befürchtung Ausdruck, dass der Erdstoss die ganze Stadt zerstören könnte. Als meine Mutter seine zitternde Stimme hörte, brach sie in lautes Lachen aus. Meine Schwester erledigte derweil unbeteiligt ihre Schulaufgaben. Was die Artikel meines Vaters anging, so nahmen sie schon bald ein jähes Ende. Der Führer, damals noch ein einfacher Armeeoffizier, zettelte einen Militärputsch an, der sämtliche Feinde meines Vaters, ob in der Regierung oder der Opposition, zu Fall brachte. Plötzlich war dieser Offizier der unumschränkte Herrscher des Landes. Als erstes liess er alle Zeitungen verbieten. Lediglich ein, zwei Presseorgane waren zugelassen, sie wurden von der Regierung herausgegeben und vertraten deren Ansichten. Mein aufmüpfiger Vater aber begriff nicht die Zeichen der Zeit, obwohl auch das Blatt, in dem er seine Beiträge veröffentlicht hatte, das Erscheinen einstellen musste. Er verfasste einen Artikel im üblichen satirischen Ton, gespickt mit ätzenden Spottbildern meiner Mutter – nur diesmal über den Führer. Seelenruhig sandte er das Manuskript an eine der Regierungszeitungen! Die Lethargie und Gleichmütigkeit meiner Mutter hatten ihn angesteckt. Er wartete nicht einmal, bis der Artikel erschienen war, sondern las ihn seinen Kollegen und Freunden vor, die wie eh und je ihr Stammcafé aufsuchten. Doch er konnte ihnen kaum mehr als ein flüchtiges Lächeln entlocken. Sie spürten, wie gefährlich solche Pamphlete waren, die den Führer verhöhnten. Und damit hatten sie recht. Schliesslich waren hier nicht irgendwelche Salonpolitiker im weissen Smoking gemeint, sondern der Grosse Führer höchstpersönlich! Der Artikel landete beim Redakteur. Als er ihn las, gefror ihm das Blut in den Adern, und ihm wurde schwindlig. Mit dem Vermerk »Zur Weiterleitung« schickte er ihn an den Chefredakteur. Der Chefredakteur las den Beitrag, und auch ihm stockte das Blut in den Adern. Umgehend sandte er das Manuskript an den Minister, dem allerdings kochte das Blut in den Adern – vor Wut. Er leitete den Artikel weiter an eine Abteilung des Geheimdienstes, und mein Vater erhielt prompt eine Vorladung. Die Ermittlung zog sich über sechs Monate hin. Danach beschlossen sie, ihm den Weg zu ersparen und ihn gleich in ihren Kellern zu behalten, und zwar noch einmal so lange. Sie wollten aus diesem aufsässigen Querkopf einen braven Duckmäuser machen. Und wirklich, mein Vater verwandelte sich von einem Spassvogel in einen Griesgram. Nach seiner Entlassung durfte er für die Dauer von zwei Jahren kein Plädoyer mehr auf einer Gerichtsverhandlung halten. Von nun an übte er seine Anwaltstätigkeit mit der grössten Ernsthaftigkeit aus. Wenn er hörte, dass meine Mutter einen ihrer Witze riss und laut dazu lachte, seufzte er nur und gedachte wehmütig der vergangenen Zeiten. Er schuftete verbissen und verlangte von allen anderen, dass sie ebenso ernsthaft arbeiteten. Sogar das Leben selbst, das doch nichts von Politik verstand, erlaubte sich keine Spässe mehr mit meinem Vater. Erst bei seinem Tod verabschiedete es sich von ihm mit einigen äusserst komischen Vorfällen. Wir bestatteten ihn auf einem neuen Friedhof, wo es noch keine Markierungen für die Grabstätten gab. Zur gleichen Zeit wurde neben ihm eine Frau beerdigt, eine stadtbekannte Tänzerin mit einem ganzen Schwarm von Kolleginnen und Bewunderern. Der Totengräber, der an diesem Tag viel Arbeit hatte, wusste hinterher nicht mehr, in welchem der beiden Gräber mein Vater lag. Aber damit nicht genug. Der Steinmetz, der den Grabstein meines Vaters setzen sollte, war von einem treuen Verehrer der Tänzerin ebenfalls mit der Anfertigung ihres Grabsteins beauftragt worden. Er errichtete die Gräber...