E-Book, Deutsch, Band 0,5, 175 Seiten
Reihe: Elena-Deveraux-Serie
ISBN: 978-3-8025-9072-6
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nalini Singh wurde auf den Fidschi-Inseln geboren und ist in Neuseeland aufgewachsen. Nach verschiedenen Tätigkeiten, unter anderem als Rechtsanwältin und Englischlehrerin, begann sie 2003 eine Karriere als Autorin von Liebesromanen.
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1 Vor vierhundert Jahren Sie hatte den Aufstieg und Fall von Imperien und Königreichen bezeugt, hatte Königinnen kommen und gehen sehen und miterlebt, wie Erzengel im Kampf aufeinandertrafen und die Welt mit Strömen von Blut übergossen. Sie hatte die Geburt des Erzengels Raphael festgehalten, ebenso wie das Verschwinden seiner Mutter Caliane und die Hinrichtung seines Vaters Nadiel. Jahrhundert um Jahrhundert hatte sie zugesehen, wie ihre Schüler in die Welt hinausflogen, mit Träumen im Herzen und einem zögerlichen Lächeln auf den Lippen. Sie las die Briefe, die sie ihr aus den entlegensten Ländern und Urwäldern schrieben, aus Gebieten mit strömendem Regen, endlosen Wüsten und erbarmungslosen Winden. Und sie feierte die seltenen, freudigen Ereignisse, wenn ihre Schüler selbst Eltern eines kleinen Engels wurden. All dies erlebte sie von den zerklüfteten Gipfeln und der schimmernden Schönheit der Zufluchtsstätte aus, denn sie war ein erdgebundener Engel, dessen Flügel nie zum Fliegen bestimmt gewesen waren. Das erste Jahrtausend nach ihrer Entstehung war hart gewesen, das zweite herzzerreißend. Jetzt, nachdem mehr als die Hälfte des dritten vorübergezogen war und das Gespenst eines weiteren, verheerenden Krieges als verstohlener Schatten am Horizont lauerte, spürte sie nur noch Resignation. »Jessamy! Jessamy!« Sie wandte sich von der Felskante ab, wo sie gestanden und in den kristallklaren blauen Himmel geblickt hatte – einen Himmel, den sie niemals berühren würde. Mit schnellen Schritten lief sie auf dem felsigen Untergrund dem kleinen Mädchen entgegen, dessen Flügel über den Boden schleiften, als es auf sie zueilte. »Vorsichtig, Saraia.« Sie ging in die Knie und fing die kleine, stämmige Gestalt auf, deren Körperbau von dunklen, schokoladenbraunen Flügeln dominiert wurde. Bronzefarbene Fasern durchzogen die Federn und ließen sie im gleißenden Licht der Gebirgssonne glitzern. In dem Bronzeton spiegelte sich die Farbe von Saraias Haut wieder und auch die ihrer Haare, die ihr zerzaust ins Gesicht fielen. Das glänzende Band, mit dem ihre Mutter sie an diesem Morgen gewiss sorgfältig zusammengebunden hatte, hing ihr lose über die Schulter. Unbeeindruckt schlang das kleine Mädchen in liebevollem Überschwang die Arme um Jessamys Hals. »Sie müssen mitkommen!« Gerötete Wangen, funkelnde Augen, der Geruch von klebrigen Süßigkeiten und schillernder Aufregung. »Das müssen Sie sehen!« Seit über zweitausend Jahren war Jessamy nun Lehrerin für junge Engel, und noch immer hatte das Lächeln eines Kindes die Kraft, ihre Sinne in freudiges, strahlendes Licht zu tauchen. Eine schwere Melancholie hatte sich auf ihr Gemüt gelegt, während sie die Engel bei ihren Sturz- und Segelflügen über der zerklüfteten, widerhallenden Schlucht beobachtet hatte. Doch dieses Gefühl schüttelte sie nun ab und drückte Saraia einen Kuss auf ihre weiche, pralle Wange, ehe sie sich aufrichtete und das Kind auf den Arm nahm. Seidig und warm hingen Saraias Flügel über ihrem Arm, aber Jessamy konnte das Gewicht des Mädchens mit Leichtigkeit tragen. Nur ihr linker Flügel war verdreht und nutzlos, eine fremdartige Hässlichkeit an diesem Ort der Macht und gefährlichen Schönheit. Ansonsten war sie so stark wie alle anderen Engel auch. »Was muss ich mir ansehen, mein Spatz?« Saraia dirigierte sie zu Raphaels Teil der Zufluchtsstätte und zu dem Bereich, in dem sich die Waffenhalle und der Kampfübungsplatz befanden. Jessamy legte die Stirn in Falten. »Saraia, du weißt, dass du nicht hier sein darfst.« Für einen Babyengel, der seine Flügel und seine Balance noch nicht unter Kontrolle hatte, konnten die Gefahren hier tödlich sein. »Illium hat gesagt, wir dürften dieses eine Mal bleiben.« Die Erklärung sprudelte nur so aus ihr heraus. »Ich habe gefragt, versprochen.« Da Jessamy wusste, dass Illium niemals ein Kind in Gefahr bringen würde, ging sie weiter. Sie bog um die Ecke und steuerte auf die fensterlose hölzerne Halle und den davorliegenden Übungsplatz aus festgestampfter Erde zu. Dort erblickte sie jedoch nicht die markanten Flügel des jungen Engels, die ein überraschend unversehrtes Blau aufwiesen, sondern die dunkelgrauen Flügel eines Fremden. Dieser besaß einen viel muskulöseren Körper und so leuchtend rotes Haar, dass es wie Feuer aussah. In der Hand hielt er ein massives Breitschwert. Mit dem lauten Klirren von Stahl traf sein Schwert auf jenes, das Raphaels Stellvertreter Dmitri in den Händen hielt. Instinktiv drückte Jessamy Saraia fester an sich. Dmitri war zwar kein Engel, aber er war mächtig; als Berater war er Raphaels engster Vertrauter und seine tödlichste Waffe. Und mit diesem Vampir ließ sich der große Engel auf einen brutalen Kampf ein. Als er die Flügel zur besseren Balance ausbreitete, erinnerten sie mit ihrer weißen Maserung auf grauem Grund an die eines großen Raubvogels. Füße und Oberkörper beider Kämpfer waren nackt, und ihre Haut glänzte vor Schweiß. Dmitri trug eine Hose aus fließendem, schwarzem Stoff, während der Aufzug des Engels sie an den Kleidungsstil erinnerte, den die Gefolgsmänner des Erzengels Titus bevorzugten. Der grobe schwarze Stoff bedeckte drei Viertel der Oberschenkel und wurde an der Hüfte von einem breiten, ledernen Messergurt in derselben Farbe gehalten. Erst als er sich bewegte, fiel ihr auf, dass der Stoff schwer war, so als lägen Platten aus geschlagenem Metall unter der ersten Stoffschicht … es war ein Teil einer Kriegerrüstung. Nur die metallene Brustplatte und die Arm- und Beinschützer hatte er weggelassen. Es war unmöglich, nicht auf diese Beine zu sehen, nicht zu beobachten, wie sich die groben Muskeln unter der leicht gebräunten Haut zusammenzogen und entspannten und die vereinzelten Haare in der Sonne glänzten. Bei seiner nächsten Bewegung glitt ihr Blick zu seinen umwerfend breiten Schultern. Seine urwüchsige Kraft, die er erbittert unter Kontrolle hielt, weckte eine wilde, unerwartete Faszination in ihr. »Wer ist das?«, fragte sie Illium, als der Engel mit den goldenen Augen ihr Saraia aus den Armen nahm, um das Mädchen zu seinen Freunden auf den Zaun vor ihnen zu setzen. »Und warum legt er sich mit Dmitri an?« Selbst während sie sprach, wandte sie den Blick nicht von diesem Engel ab, der aussah, als wäre er im Hinterzimmer einer heruntergekommenen Vampirkneipe zu Hause. Illiums Flügel streiften die ihren, als er sich mit den Armen auf dem Zaun abstützte. Es war eine überaus intime Bewegung, doch Jessamy wies ihn nicht zurecht. In dieser Berührung lag kein Hintergedanke, nichts außer einer in der Kindheit verwurzelten Zuneigung: Für ihn würde sie immer die Lehrerin sein, die gedroht hatte, ihn an einem Stuhl festzubinden, wenn er nicht aufhörte herumzuzappeln, anstatt seine Geschichtsbücher zu lesen. »Galen«, sagte er, »ist einer von Titus’ Männern.« »Das überrascht mich nicht.« Titus war ein kriegerischer Erzengel, der sich nirgends so sehr zu Hause fühlte wie inmitten des Blutes und dem Wüten einer Schlacht, und auch dieser Galen war wie für den Kampf geschaffen: nichts als geschmeidige Muskeln und rohe Kraft. Als eindeutigen Beweis für seine Stärke fing er gerade einen Hieb ab und trat im selben Augenblick nach Dmitris Knie. Der Vampir grunzte, fluchte und konnte nur knapp einem Schlag mit der Breitseite von Galens Klinge ausweichen, die ihm mit Sicherheit einen schweren, dunklen Bluterguss eingebracht hätte. Offenbar versuchten sie also nicht ernsthaft, sich gegenseitig umzubringen. Als Saraia in die Hände klatschte, legte Illium einen Arm um sie, um ihr Halt zu geben, ehe er fortfuhr: »Er möchte in Raphaels Territorium überwechseln.« Jetzt verstand sie. Raphael war erst vor hundert Jahren Erzengel geworden. Unter diesen Umständen war sein Hof noch im Entstehen begriffen, eine Einheit, die gerade ihre Form annahm. Es gab folglich noch Raum, um starke Engel zu integrieren, die sich an ihren älteren Höfen langweilten oder nicht ausgelastet fühlten. »Hat Raphael keine Bedenken, dass er ein Spion sein könnte?« Die Erzengel, die im Kader der Zehn über die Welt herrschten, gingen bei der Verfolgung ihrer Ziele ohne Skrupel vor. »Auch wenn Raphael nicht selbst Spione hätte, die sich für Galen verbürgen«, sagte Illium mit seinem ansteckenden Grinsen, bei dem sie beinahe unmöglich hatte ernst bleiben können, wenn sie ihn als Kind zurechtgewiesen hatte, »ist er nicht der Typ, der gut lügen könnte. Ich glaube kaum, dass er die Bedeutung des Wortes ›subtil‹ kennt.« Ein dröhnender Schlag mit der flachen Klingenseite auf Dmitris Wange, ein Tritt in den Bauch, und plötzlich hatte Galen die Oberhand, die Spitze seines Breitschwerts saß an Dmitris Kehlkopf, während der Vampir schwer atmend auf dem Rücken am Boden lag. »Ergib dich.« Dmitri blickte Galen ohne zu blinzeln in die Augen, und das gnadenlose Raubtier, das unter der kultivierten Oberfläche des Vampirs lebte, war nun deutlich zu erkennen. Doch als er sprach, war seine Stimme ein behäbiges Schnurren, so träge wie ein Sommernachmittag. »Du hast Glück, dass die Kleinen zugucken.« Galen zuckte mit keiner Wimper, er war vollkommen konzentriert. Dmitris Lippen verzogen sich. »Verdammter Barbar. Ich ergebe mich.« Galen trat einen Schritt zurück und wartete, bis Dmitri auf die Füße gekommen war, ehe er sein Schwert erhob und zum Zeichen des Respekts unter Kriegern höflich den Kopf neigte. Dmitris Entgegnung war unerwartet feierlich und vermittelte...