E-Book, Deutsch, 336 Seiten, Gewicht: 400 g
Simsek Im falschen Paradies
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-9524523-7-0
Verlag: Riverfield Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie mein Leben zwischen den Kulturen zum Albtraum wurde
E-Book, Deutsch, 336 Seiten, Gewicht: 400 g
ISBN: 978-3-9524523-7-0
Verlag: Riverfield Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Yosef ?im?ek wurde 1990 in Norddeutschland geboren. Heute lebt und arbeitet er teils in Antalya und teils in Iskenderun, einer Hafenstadt an der syrischen Grenze.
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Als meine Eltern in Deutschland angekommen waren, dachten sie, hier sei das Paradies. Viele der heutigen Flüchtlinge denken das wohl ebenfalls, denn den allermeisten von ihnen müssen Deutschland und natürlich auch die anderen Länder Europas in der Tat wie das Paradies selbst vorkommen – verglichen mit dem, was sie hinter sich gelassen haben: Krieg, Hunger, Folter, ein unwürdiges und chancenloses Leben.
Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, und ich habe Deutschland geliebt – Deutschland war meine Heimat.
Ob ich augenblicklich und im Rückblick Deutschland und die anderen Länder Europas jedoch als Paradies bezeichnen würde, weiß ich offen gestanden nicht – oder nicht mehr. Ich könnte vieles nennen, was mir an Deutschland und auch an Europa nicht gefällt. Andererseits wüsste ich keinen Kontinent, der mir aus heutiger Sicht der Dinge gerechter, sicherer und toleranter vorkäme.
Dennoch versucht Europa gerade dieser Tage, seine Grenzen so unüberwindlich wie möglich zu machen: modernste Technik, Unmengen an Personal – sogar Soldaten! – und Millionen, ja gar Milliarden an Euros werden eingesetzt, um Flüchtlinge daran zu hindern, über das Mittelmeer bzw. auf der Balkanroute nach Zentraleuropa zu gelangen.
Ich bin nicht naiv und verstehe sehr wohl, dass Europa beim besten Willen nicht alle Menschen, denen es schlecht geht auf dieser Welt, aufnehmen kann. Auch nach all den Jahren, die ich nun in der Türkei lebe, informiere ich mich immer noch regelmäßig über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa und halte Kontakt zu Freunden in Deutschland. So weiß ich auch von den Vorfällen: von Flüchtlingen und Menschen aus meiner Kultur, die sich sehr schlecht benehmen, die die Sitten und Regeln der westlichen Welt nicht akzeptieren wollen, die Frauen belästigen oder sogar vergewaltigen. Und dann gibt es auch noch einige wenige, die als Flüchtlinge getarnt nach Europa kommen, um Angst und Terror zu verbreiten.
Aber dennoch: Die meisten der Flüchtlinge sind nicht kriminell – sie wollen einfach nur leben. Anders gesagt: Diese Menschen klagen ihr Recht auf Leben ein!
Zu denen aus meiner Religion und Kultur, die in Europa und auf der ganzen Welt im Namen des Islam Angst, Terror und Tod verbreiten, sage ich Folgendes: Terrorismus hat nichts mit dem Islam zu tun. Es ist für mich – und ich glaube, dass ich für viele spreche – in keiner Art und Weise tolerierbar, andere Menschen im Namen einer Religion oder Weltanschauung zu ermorden! Dies ist verabscheuungswürdig – ohne jedes Wenn und Aber.
Ich selbst bin sehr strenggläubig erzogen geworden und meine Familie richtet ihr Leben nach wie vor stark nach den Glaubenssätzen des Islam aus. Aber keiner von uns käme je auf die Idee, alles stehen und liegen zu lassen, um in den sogenannten »Dschihad«, den Heiligen Krieg, zu ziehen.
Oft sind die »Dschihadisten« wohl sehr junge Menschen mit wenig Lebenserfahrung, auf die permanent eingeredet wurde, die sehr unter Druck gesetzt wurden – mit Aussagen wie: »Wir machen das für Allah! Denk an deine Familie! Willst du denn nicht ins Paradies kommen? Das ist unsere Religion …!«, und so weiter und so fort. Sie bekommen eine Gehirnwäsche und gehen dann den falschen Weg. Wenn Selbstmord wirklich der kürzeste Weg ins Paradies wäre, dann würden die Anführer der Terroristen es selbst tun und nicht ihre jungen und unwissenden »Schüler« in den Tod schicken, indem sich diese in die Luft sprengen und dabei unschuldige Menschen ermorden.
Wie ich schon sagte: Die meisten Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten, sind meiner Meinung und Erfahrung nach weder Terroristen noch Kriminelle. Ich glaube jedoch ganz ehrlich, dass eine Integration in die deutsche oder irgendeine andere westliche Kultur bei älteren Menschen unserer Kultur kaum mehr möglich ist. Das mag hart klingen, aber ich sage das wirklich aus eigener Erfahrung.
Bei den jüngeren Menschen unserer Kultur ist es vermutlich etwas leichter. Insbesondere bei den Menschen, die wie ich selbst in westlichen Ländern geboren wurden. Doch bei den meisten Jungen und Männern aus dem muslimischen Kulturkreis bin ich eher skeptisch. Ganz besonders bei denen, die ihren Vätern »gefallen« wollen und denken, dass ein »richtiger Mann« ein Macho zu sein hat – sie werden sich nie freiwillig einer westlichen Kultur anpassen.
Dennoch: Wenn jemand das wirklich will, kann er beide Kulturen oder Glaubensrichtungen verbinden und wird weder in der westlichen, christlich orientierten Kultur noch in der arabisch-islamischen Kultur ein Außenseiter sein – das habe ich selbst auch gelernt.
In meinem Fall jedoch unter umgekehrten Vorzeichen, denn ich wurde letztlich und trotz der archaischen Erziehung meines Vaters in Deutschland sozialisiert. Die offene westliche Gesellschaft und die humanistischen Grundsätzen verpflichtete Kultur meines deutschen Umfelds haben mich als Kind und Jugendlicher mehr geprägt als die strenggläubige Erziehung meines Vaters – und dafür bin ich dankbar. Dennoch war es für mich vielleicht noch viel schwieriger, und das meinte ich mit »unter umgekehrten Vorzeichen«, mich mit meinem deutschen Hintergrund, mehr noch, ich würde fast sagen, mich als Deutscher fühlend und denkend im fernen Südosten der Türkei in eine völlig andersartige Kultur zu integrieren. Eine Kultur, die meiner Meinung nach viele Rechte des Menschen, insbesondere die der Frauen, noch immer völlig missachtet.
Es gibt in der deutschen Sprache einen wunderschönen Satz. Er ist kurz und prägnant. Weder wurde er von einem großen Dichter noch von einem berühmten Literaten verfasst. Dennoch sagen diese sechs Worte mehr aus als manches Buch mit tausend Seiten. Es ist der erste Satz im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und dieser lautet:
»Die Würde des Menschen ist unantastbar.«
Ich bin kein Jurist und auch kein Gelehrter, aber ich glaube, dass dieser Satz im Wesentlichen Folgendes bedeutet: dass alle Menschen dieser Erde, egal welchen Geschlechts, unabhängig davon, aus welcher Kultur, aus welchem Land oder Kontinent sie auch stammen, was ihre Hautfarbe oder ihr Glauben auch sein mögen – tief im Herzen eines gemeinsam haben: das Recht, ein menschenwürdiges Leben in Frieden und Freiheit zu führen.
Dieses Buch enthält meine Lebensgeschichte und ich erzähle darin von meinen persönlichen Erfahrungen. Ich bin erst fünfundzwanzig Jahre alt, dennoch wage ich zu behaupten, dass ich schon sehr viel erlebt habe – mehr als mancher vielleicht in seinem ganzen Leben. Ich erzähle meine Geschichte aus meiner eigenen Perspektive und mit meinen eigenen Worten. Meine Erfahrungen und Meinungen mögen nicht auf alle Menschen aus der arabisch-islamischen oder türkischen Kultur zutreffen. Dies zu behaupten, würde ich mir nie anmaßen. Meine Lebensgeschichte möchte ich auch nicht als politisches Manifest verstanden wissen, vielmehr als das, was es ist: die wahre Geschichte eines Menschen, der zwischen zwei Kulturen, die konträrer nicht sein könnten, seinen eigenen Weg ins Leben finden musste.
Es ist aber auch die Geschichte meiner geliebten Mutter, die sich gegen die ihr anerzogenen und auferlegten kulturellen und religiösen Traditionen auflehnte, um mich mit allen Mitteln und so gut sie konnte zu schützen.
Und dafür werde ich ihr ewig dankbar sein.
Mein Name ist Yosef, auf Arabisch Yussuf, und ich komme aus einer arabisch-islamischen Familie, die lange Zeit im Libanon gelebt hat. Dort haben meine Eltern in der Hauptstadt Beirut geheiratet und ihre ersten Kinder zur Welt gebracht. Meine Familie war schon damals sehr arm und konnte sich lediglich eine Einzimmerwohnung leisten (wenn man so etwas überhaupt »Wohnung« nennen kann, es war mehr oder weniger die Abstellkammer des Hochhauses, in dem sie lebten). Während mein Vater als Wächter dieses Hochhauses ein wenig Geld verdiente, putzte meine Mutter die Wohnungen von reichen Menschen. Sie ist als Haushaltshilfe aufgewachsen und hat eine Zeit lang sogar beim libanesischen Präsidenten gearbeitet. Bereits mit sechs Jahren wurde sie von ihren Eltern zum Arbeiten geschickt, um die Familie finanziell zu unterstützen; eine Schule durfte sie nie besuchen. Hin und wieder erzählte meine Mutter uns etwas über ihre Kindheit und wie sie groß geworden ist – zum Beispiel die Geschichte, dass sie bei einer ihrer Arbeitsstellen noch so klein war, dass die Hausherren ihr einen Hocker zum Draufstehen gebracht haben. Sie hätte sonst nicht ans Spülbecken zum Geschirrspülen hochgereicht.
Mit 18 Jahren heiratete sie meinen Vater und lebte mit ihm in Beirut, bis Mitte der Siebzigerjahre der Krieg ausbrach. Das war eine furchtbare Zeit für meine Familie, in der viele Verwandte, Freunde und auch Bekannte starben. Meine Mutter hat mir immer wieder Geschichten über diese Zeit erzählt, als ich mit ihr an den Samstagen unterwegs war, um die Wohnung eines Künstlers in Winsen zu putzen.
Da uns das Geld, das wir in Deutschland vom Staat bekamen, nicht ausreichte und mein Vater nichts verdiente, arbeitete meine Mutter auch hier als Putzhilfe. Trotzdem waren und blieben wir eine arme Familie, die finanziell nur mit Müh und Not über die Runden kam. So war es selbstverständlich, dass meine Geschwister und ich immer gebrauchte Kleidung trugen, entweder die jüngeren Geschwister die von den älteren oder, häufiger noch, gespendete Hosen, Shirts und Jacken vom Roten Kreuz. Oft wurde ich deshalb in der Schule gehänselt, zum Beispiel...