Simon | Stalin und der Apparat | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 262 Seiten

Reihe: Systemische Horizonte

Simon Stalin und der Apparat

Die Organisation der Diktatur und die Psyche des Diktators
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8497-8439-3
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Organisation der Diktatur und die Psyche des Diktators

E-Book, Deutsch, 262 Seiten

Reihe: Systemische Horizonte

ISBN: 978-3-8497-8439-3
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Wiederentstehen autoritärer Gesellschaften lässt die Frage aufkommen, welche Bedeutung die Persönlichkeit von Politikern wie Putin, Orban oder Trump fu¨r diese Entwicklung hat. Die allgemeinere Frage dahinter lautet: Passen sich soziale Systeme eher psychischen Strukturen an, oder ist es umgekehrt?

Fritz B. Simon studiert ein lehrreiches Beispiel: Stalin und die Sowjetunion. Sein Buch verbindet drei thematische Stränge: die Lebensgeschichte Stalins in ihrem historischen Kontext; die Dynamik der zum jeweiligen Zeitpunkt für ihn relevanten sozialen Systeme; und die psychische Entwicklung Stalins zur beschriebenen Zeit.

Fu¨r die Analyse der sozialen Systeme, deren Mitglied Stalin war – von der Familie bis zum Staat –, zieht Simon Konzepte der Familienforschung und der soziologischen Systemtheorie heran. Die Analyse von Stalins psychischer Entwicklung ruht auf psychoanalytischen Konzepten. Dieser methodische Doppelzugang deckt eine Koevolution auf, die zu einer schrecklichen Diktatur mit einem der grausamsten Diktatoren der Weltgeschichte fu¨hrte. Stalin und die UdSSR erweisen sich dabei als Lehrstu¨ck, das einen sehr erhellenden Blick auf die Gegenwart eröffnet.

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2Historischer Kontext
Das zaristische Imperium
Kulturen sind soziale Systeme, deren Spielregeln sich nur langsam ändern. Sie können mit Sprachen verglichen werden, deren Grammatiken sich auch nur langsam verändern.12 Ihre Strukturen bilden daher – wie die der Muttersprache – einen unbewussten Rahmen für die psychische Entwicklung des Einzelnen, dem sich niemand entziehen kann, der in einer speziellen Kultur sozialisiert wurde. Einen relevanten Faktor für die individuelle psychische Entwicklung und Psychodynamik bilden die jeweils aktuellen politischen Strukturen und Ereignisse der Lebenswelt von Familien wie Organisationen. Im Blick auf Stalin heißt dies, dass er und sein Verhalten in den kulturellen Kontext zunächst des Zarenreichs, später dann der Sowjetunion gestellt werden müssen, um verstehbar und erklärbar zu werden. Und das gilt ebenso für die Entwicklung der jeweiligen sozialen Strukturen, seien es Familien und Paarbeziehungen oder staatliche Organe, Parteien usw. Im Folgenden soll daher die Geschichte des zaristischen Imperiums kurz skizziert werden, um eine Idee von den Charakteristika der politischen Bühne zu vermitteln, auf der Stalin agierte. Das Interesse gilt dabei langdauernden kulturellen und staatlichen Mustern.13 Für die Etablierung autoritärer Herrschaftsformen und die Gründung des russischen Großreichs hat Ivan IV., Großfürst von Moskau, eine besondere Rolle gespielt. Daher erscheint es sinnvoll, den historischen Rückblick bei ihm beginnen zu lassen. Ivan war zu seiner Zeit, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, einer von vielen Großfürsten im Territorium des späteren Zarenreichs. Er ließ sich 1547 im Alter von 16 Jahren zum Zaren von Russland krönen. Damit beendete er eine Phase des Machtvakuums, in der die Hocharistokratie in Machtkämpfe miteinander verwickelt war und de facto anarchische Zustände herrschten. Ivan IV. setzte den Machtkämpfen ein Ende und etablierte als Autokrat eine neue Ordnung. Den bis dahin herrschenden Bojaren, ihrer Macht und ihrer Gerichtsbarkeit setzte er einen von ihm abhängigen Dienstadel sowie ein Beamtentum in Moskau entgegen.14 Eine der strukturellen Konsequenzen auf staatlicher Ebene war die »Zentralisierung der Verwaltung und Unifizierung der Verwalteten«15. Mit der Übernahme der Macht durch die Osmanen in Konstantinopel hatte sich auch das Verhältnis von orthodoxer Kirche und Staat in Russland verändert. In Konstantinopel gab es keinen christlichen Kaiser mehr, aber in Moskau. So wurde aus der byzantinisch-orthodoxen die autonome russisch-orthodoxe Kirche. Und Ivan begründete seinen Anspruch auf die Kaiserkrone sowohl mit der »spirituellen Abstammung« von Byzanz als auch aufgrund des »territorialen Vermächtnisses von Dschingis Khan. Der Titel ›Zar‹ wurde für beide Herrscher verwendet – den byzantinischen basileios ebenso wie den Khan der Goldenen Horde –, und so vermischten sich die beiden miteinander«16. Diese Vermischung sollte für die weitere Geschichte der Zaren bis ins 19. Jahrhundert erhalten bleiben und die Beziehung von Kirche und Staat bestimmen. Der Zar verkörperte Gott auf Erden, sodass der Widerstand gegen ihn zur Ketzerei wurde.17 Neben den russischen Kaiser trat nun ein eigener russischer Patriarch, der den in Byzanz, das nach Einnahme durch die Osmanen an Bedeutung verloren hatte, ersetzte. »Erst dann war die zerstörte Ordnung wiederhergestellt, erst dann konnte auch das byzantinische Staat-Kirche-Verhältnis genau wiederholt werden. Dieser gewissermaßen weltkirchliche und welthistorische Aspekt drängte also die russische Kirche auf die Seite der Autokratie des Moskauer Großfürsten, machte sie zur Fürsprecherin der byzantinischen Erbschaft – nicht nur kirchlich, sondern auch politisch – und ließ sie am Entstehen der neuen, imperialen Moskauer Staatsideologie maßgeblich mitwirken.«18 Dass Ivan bei seinen Aktionen Rücksicht auf nichts und niemanden nahm und auf willkürliche Gewaltanwendung setzte, führte zu seinem Beinamen »der Schreckliche«. Diese Qualifizierung konnte er natürlich nicht dadurch erlangen, dass er allein und mit eigener Kraft Schreckliches tat. Er brauchte dazu eine Organisation, die in seinem Namen tätig wurde und Schrecken verbreitete. So war er möglicherweise der Erste (diese Priorität scheint historisch nicht geklärt), der sich eine Truppe zulegte, deren Zweck genau dies war: die »Opritschniki«. Sie war »eine dem Zaren persönlich und unmittelbar zur Verfügung stehende Spezialtruppe, deren Aufgabe in der physischen Liquidierung der Verräter und in der Terrorisierung der gesamten Hocharistokratie bestand. Da alle in der Erfüllung dieser Aufgabe verübten Verbrechen straffrei blieben, wurde ›Oprirtschina‹ sehr bald mit dem Begriff eines hemmungslosen, blutigen Terrors identisch«19. Die Opritschniki können als Vorläufer der Geheimpolizeien und Terrortruppen – der Apparate – aller nachfolgenden russischen Herrscher betrachtet werden. Ein anderer eine Tradition begründender Aspekt der Politik Ivans IV. war das »Sammeln« von Territorien in der Umgebung des Russischen Reichs. Es begann mit der Eroberung von Kazan – der Beendigung der Mongolenherrschaft –, setzte sich fort mit der Unterwerfung anderer Ethnien und der Territorien, auf denen sie siedelten oder sich als Nomaden bewegten. Verbunden damit war eine systematische Russifizierung, d. h. die Besiedlung durch Russen, die Verbreitung der russisch-orthodoxen Kirche und die Forcierung des Gebrauchs der russischen Sprache. Ein Aspekt der Herrschaft Ivans IV., der sich unter seinen Nachfolgern fortsetzte, ist, die Identifizierung des Staats mit dem Zaren hervorzuheben. Während in Westeuropa inzwischen sich langsam »das Konzept eines abstrakten Staates als Gegengewicht zum König entwickelte«, geschah dies »nicht in Russland, wo Zar und Staat als eins betrachtet werden – vereint im Körper eines einzigen sterblichen Wesens, das als Mensch und Herrscher ein Werkzeug Gottes war«20. Nach Ivans Tod kam es beim Kampf um die Macht zunächst zum Bürgerkrieg. Als faktischer Regent setzte sich Boris Godunow durch, der sich den Opritschniki angeschlossen hatte.21 Unter den Zaren, die Ivan IV. folgten, ist Boris Godunow wegen der langfristigen sozialen Folgen seines Handelns von besonderer Bedeutung. In den Jahren 1601 und 1602 traf er Entscheidungen, welche die Freiheit der Bauern betrafen: »Im ganzen lief die Entwicklung unaufhaltsam auf die rechtlich unauflösbare Bindung des Bauern an das von ihm bearbeitete, dem Grundherren gehörende Land […] zu. Diese Bindung lieferte den Bauern dem Grundherrn aus und musste in der Praxis zur Leibeigenschaft werden.«22 Diese feste Kopplung der Bauern an das Land bzw. einen Grundherrn kam auch der zentralistischen Verwaltung und Bürokratie zugute, die so die Bevölkerung in überschaubaren Einheiten kontrollieren konnte. In den Jahrhunderten nach der Krönung Ivans IV. zum Zaren wechselten immer wieder chaotische Phasen des Interregnums, der Anarchie und der Kriege mit Nachbarn, mit autokratischen Phasen der rigiden staatlichen Unterdrückung und Ordnung ab. Mit Peter »dem Großen« kam es zur Öffnung Russlands zum Westen. Peter wurde am 9. Juni 1672 geboren und starb am 8. Februar 1725. Er versuchte Russland zu modernisieren, indem er sich an Westeuropa orientierte. Dies traf nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Widerstand im Land. Es gab starke Kräfte, die einen Sonderweg für Russland forderten. Bereits unter seinen Vorgängern war es, vor allem aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem katholischen Polen, zur Ost-West-Unterscheidung bzw. der Frage der kulturellen Ausrichtung gekommen: »Russland war seit langem auf dem Weg nach Europa. Allenthalben und je länger, desto mehr war Neues eingedrungen und hatte Altes zu verdrängen begonnen. Trotzdem bedeutet Peter der Große in der Geschichte Russlands eine Umwälzung, eine Revolution, und vielleicht mehr noch als in der Geschichte im russischen Geschichtsbewusstsein. An der Gestalt des großen Zaren entzündeten und schieden sich die Geister in allen folgenden Generationen.«23 Peter führte etliche Kriege – den längsten und in seinen Folgen wichtigsten gegen Schweden –, und er setzte das »Territorien-Sammeln« seiner Vorgänger fort, indem er z. B. Estland und Livland in sein Reich annektierte. Er war an westlicher Technik interessiert, baute (teilweise eigenhändig) Schiffe und eine Flotte – womit er neue Horizonte für seine expansiven Ambitionen eröffnete. Da es ihm nicht gelang, dauerhaft gegen die Osmanen einen Zugang zum Schwarzen Meer zu erhalten, fokussierte er seine...


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon Weber Friends Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 34 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Der Prozeß der Individuation (1984), Die Sprache der Familientherapie (1984, mit Helm Stierlin und Ulrich Clement), Lebende Systeme (1988), Unterschiede, die Unterschiede machen (1988), Meine Psychose, mein Fahrrad und ich (1990), Radikale Marktwirtschaft (1992, mit CONECTA), Die andere Seite der Gesundheit (1995), Die Kunst, nicht zu lernen (1997), Zirkuläres Fragen (1999, mit Christel Rech-Simon), Tödliche Konflikte (2001), Die Familie des Familienunternehmens (2002), Gemeinsam sind wir blöd!? (2004), Mehr-Generationen-Familienunternehmen (2005, mit Rudi Wimmer und Torsten Groth), Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus (2006), Einführung in die systemische Organisationstheorie (2007), Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs (2009), Einführung in die Systemtheorie des Konflikts (2010), "Zhong De Ban" oder: Wie die Psychotherapie nach China kam (2011, mit Margarete Haas-Wiesegart und Zhao Xudong), Einführung in die Theorie des Familienunternehmens (2012), Wenn rechts links ist und links rechts (2013), Einführung in die (System-)Theorie der Beratung (2014), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018), Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019), Der Streit ums Nadelöhr. Körper, Psyche, Soziales, Kultur. Wohin schauen systemische Berater? (2019, mit Jürgen Kriz), Lockdown: Das Anhalten der Welt (2020, mit Heiko Kleve und Steffen Roth), Formen (reloaded). Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2022).



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