E-Book, Deutsch, 310 Seiten
Reihe: Memoranda
Simon / Heinrich / Heinich Reisen von Zeit zu Zeit
1. Auflage (erweiterte Neuausgabe) 2024
ISBN: 978-3-911391-05-4
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 310 Seiten
Reihe: Memoranda
ISBN: 978-3-911391-05-4
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist uns gelungen, die Veröffentlichungsrechte des aufsehenerregenden Anhangs zum »Lehrbuch der Grundlagen der Temporalistik« zu erwerben, der die Abenteuer der ersten Zeitreisenden schildert. Falls Sie also wissen wollen, wie der Charakter der Urmenschen beschaffen war, wer tatsächlich die Terrasse von Baalbek erbaute und was es mit Atlantis oder mit Parzivals Gral wirklich auf sich hat, dann lesen Sie die Berichte über Tim E. Traveller und seine mutigen Nachfolger! Sie erfahren dabei außerdem, was es bedeutet, wenn die empfindliche Zeitkristallsäule beschädigt wird, wie ein Katastrophenbeschleuniger funktioniert und unter welchen Bedingungen ein Perpetuum mobile arbeitet. Einblicke in das Regelwerk der Temporalistik runden dieses Büchlein ab und werden auch Sie in die Lage versetzen, eine Zeitmaschine ordnungsgemäß zu führen. – Helmut Fickelscherer, Lektor im Solaren Zentralverlag
Das Buch enthält: »Die ersten Zeitreisen«. Beilage zum Lehrbuch der Grundlagen der Temporalistik
von Dr. temp. Kassandra Smith, Solarer Zentralverlag, Neu-Neustadt am Großen Methanfluß (Jupiter) 2477 | »Von letzten Ursachen«. Drei unerklärliche Vorgänge samt Erklärung | »Von Zeit zu Zeit«. Ein Terrassenweihfestspiel. Libretto
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Len Colter saß an der Wand des Pferdestalls im Schatten, aß Maismehlbrot mit süßer Butter und erwog, eine Sünde zu begehen. Er war vierzehn Jahre alt, und er hatte sie alle auf der Farm in Piper’s Run zugebracht, wo es wohltuend selten Gelegenheiten gab, ernsthaft zu sündigen. Aber jetzt war Piper’s Run mehr als dreißig Meilen weit weg, und er blickte in eine Welt, die ihn mit grellbunten Versprechungen lockte. Er war auf dem Jahrmarkt in Canfield. Und zum ersten Mal in seinem Leben musste Len Colter eine wichtige Entscheidung treffen. Und die fiel ihm sehr schwer. »Pa wird mich windelweich prügeln«, sagte er, »wenn er das rausfindet.« Vetter Esau sagte: »Haste Schiss?« Vor drei Wochen erst war er fünfzehn geworden, also musste er nicht mehr mit den Kindern zur Schule gehen. Er war noch ein ganzes Stück davon entfernt, zu den Männern gezählt zu werden, aber es war ein bedeutender Schritt, und Len war entsprechend beeindruckt. Esau war größer als Len, und er hatte dunkle Augen, die fortwährend leuchteten und funkelten wie die Augen eines ungezähmten Füllens, stets auf der Suche nach etwas, ohne es je zu finden, vielleicht weil er noch nicht wusste, wonach er suchte. Seine Hände waren ruhelos und äußerst geschickt. »Na?«, wollte er wissen. »Haste?« Len hätte am liebsten gelogen, aber er wusste, dass sich Esau keine Sekunde würde täuschen lassen. Er wand sich ein wenig, aß den letzten Brocken Brot, lutschte die Butter von den Fingern und sagte: »Ja.« »Ach«, sagte Esau. »Ich dachte, du wirst langsam erwachsen. Du hättest dieses Jahr noch mal mit den Knirpsen zu Hause bleiben sollen. Vor Prügel Angst haben!« »Ich hab oft genug Prügel bezogen«, sagte Len, »und wenn du meinst, Pa könnte nicht zulangen, kannst du es ja mal selbst versuchen. Die letzten beiden Jahre hab ich nicht mal geheult. Na ja, jedenfalls nicht viel.« Er versank in Nachdenken, die Knie hochgezogen, die Arme darüber verschränkt, das Kinn auf die Arme gestützt. Er war ein schlanker, gesunder Junge mit eher ernsthafter Miene. Er trug selbstgenähte Hosen und feste, von Hand genagelte Stiefel, die mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren, und ein Hemd aus grober Baumwolle mit einem engen Halsbund und ohne Kragen. Sein Haar war hellbraun und über den Schultern und den Augen gerade geschnitten. Auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen braunen Hut mit flacher Krone. Lens Familie gehörte zu den Neu-Mennoniten, und diese trugen braune Hüte, um sich von den ursprünglichen Alt-Mennoniten zu unterscheiden, die schwarze Hüte trugen. Früher, im zwanzigsten Jahrhundert, vor kaum zwei Generationen, hatte es nur Alt-Mennoniten und die Amischen gegeben, und auch nur ein paar Zehntausend davon, die als kauzig und verschroben gegolten hatten, weil sie an althergebrachten Handwerksbräuchen festhielten und nichts mit Städten und Maschinen zu tun haben wollten. Aber als die Städte unbewohnbar wurden und die Menschen feststellten, dass in der veränderten Welt ausgerechnet diese Leute am besten für das Überleben gerüstet waren, hatten sich die Mennoniten rasch vermehrt und waren zu den Millionen geworden, die sie jetzt zählten. »Nein«, sagte Len bedächtig. »Vor Prügel hab ich keine Angst. Aber vor Pa. Du weißt, was er von diesen Predigten hält. Er hat’s mir verboten. Und Onkel David dir. Du weißt, was sie davon halten. Ich will einfach nicht, dass Pa auf mich wütend ist, jedenfalls nicht so.« »Was soll er schon machen außer dich verhauen?«, sagte Esau. Len schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« »Na schön, dann geh halt nicht hin.« »Und du gehst ganz sicher?« »Ganz sicher. Aber dich brauch ich dafür nicht.« Esau lehnte sich an die Wand und schien Len vergessen zu haben. Len bewegte seine Stiefelspitzen hin und her und zeichnete zwei stummelige Fächer in den Staub, wobei er weiter nachgrübelte. Die warme Luft roch durchdringend nach Futter und Tieren, und irgendwo wurde auf Holzfeuern gekocht. Von überall her hallten Stimmen, zu viele Stimmen, die alle zu einem einzigen Summen verschmolzen. Man hätte meinen können, es wäre ein Bienenschwarm oder der Wind, der in den Strauchkiefern an- und abschwoll, aber es war mehr als das. Die Welt sprach. Esau sagte: »Die fallen hin und schreien und wälzen sich rum.« Len holte tief Luft und zitterte innerlich. Der Jahrmarktsplatz erstreckte sich endlos in alle Richtungen, vollgestopft mit Wagen und Karren und Ställen und Vieh und Menschen. Heute war der letzte Tag. Eine Nacht noch würde er, gegen die Septemberkälte in warme Decken gehüllt, unter dem Wagen liegen, die rot und geheimnisvoll leuchtenden Feuerstellen beobachten und sich über die Fremden den Kopf zerbrechen, die um sie herum schliefen. Morgen würde der Wagen davonklappern, zurück nach Piper’s Run, und er würde so etwas ein Jahr lang nicht wiedersehen. Vielleicht nie wieder. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Vielleicht brach er sich nächstes Jahr ein Bein, oder Pa befahl ihm, zu Hause zu bleiben wie Bruder James in diesem Jahr und sich um Grandma und das Vieh zu kümmern. »Auch Frauen«, sagte Esau. Len schlang die Arme fester um seine Knie. »Woher weißt du das? Du warst doch noch nie da.« »Hab ich gehört.« »Frauen«, flüsterte Len. Er schloss die Augen, und unter seinen Lidern erschienen Bilder von wilden Predigten, wie sie noch kein Neu-Mennonite gehört hatte, von großen qualmenden Feuern und von diffuser Raserei und einer Gestalt, die Ma mit ihrer Haube und ihren wallenden handgewebten Röcken recht ähnlich sah, auf dem Boden lag und wie die kleine Esther während eines Wutanfalls mit den Füßen strampelte. Die Versuchung kam über ihn, und er war verloren. Er stand auf und blickte zu Esau hinab. »Ich komme mit«, sagte er. »Ah«, sagte Esau und stand ebenfalls auf. Er streckte die Hand aus, und Len schüttelte sie. Grinsend nickten sie einander zu. Len hatte Herzklopfen, und er fühlte sich schuldig, als stünde Pa direkt hinter ihm und hörte jedes Wort, aber es hatte auch etwas Berauschendes. Zurückweisung von Autorität, Selbstbehauptung, das Gefühl, in der Welt zu sein. Er spürte plötzlich, dass er mehrere Zoll gewachsen war und eine breitere Brust hatte und dass Esau ihn mit neuem Respekt ansah. »Wann gehen wir los?«, fragte er. »Nach Einbruch der Dunkelheit. Spät. Halt dich bereit. Ich geb dir ein Zeichen.« Die Wagen der Colter-Brüder standen dicht beieinander, das würde also nicht allzu schwer sein. Len nickte. »Ich leg mich schlafen, tu aber nur so.« »Hoffentlich«, sagte Esau. Er drückte so fest zu, dass Len die Knöchel schmerzten. Damit er ja daran dachte. »Erzähl das bloß niemandem, Lennie.« »Au«, sagte Len und stülpte wütend die Unterlippe vor. »Hältst du mich vielleicht für ein Kleinkind?« Esau grinste und verfiel in die unbefangene Kumpelhaftigkeit, die sich unter Männern geziemte. »’türlich nicht. Dann ist das geklärt. Lass uns zu den Pferden zurückgehen. Vielleicht kann ich meinem Dad ja noch einen guten Rat geben wegen der schwarzen Stute, auf die er es abgesehen hat.« Gemeinsam gingen sie um den Pferdestall herum. Das war der größte Stall, den Len je gesehen hatte, vier- oder fünfmal so groß wie der zu Hause. Die alte Verschalung war schon oft geflickt worden, und die Witterung hatte alles gleichmäßig grau werden lassen, aber hier und dort, wo das ursprüngliche Holz geschützt war, konnte man noch immer einen Fleck roter Farbe erkennen. Len sah sich das an, und dann hielt er inne und ließ den Blick über den Jahrmarktsplatz schweifen, wobei er die Augen zusammenkniff, sodass alles tanzte und zitterte. »Was machst du da?«, fragte Esau ungeduldig. »Ich versuch zu sehen.« »Also, mit geschlossen Augen siehst du doch nichts. Und überhaupt, was meinst du, du ›versuchst zu sehen‹?« »Wie die Gebäude ausgeschaut haben, als sie noch alle gestrichen waren. Grandma hat das doch erzählt, weißt du noch? Als sie ein kleines Mädchen war.« »Ja«, sagte Esau. »Manche rot, manche weiß. Das sah bestimmt toll aus.« Auch er kniff die Augen zusammen. Die Ställe und Häuser verschwammen, aber bunt wurden sie davon trotzdem nicht. »Sei’s drum«, sagte Len mit Nachdruck und gab auf. »Ich wette, so einen großen Jahrmarkt hatten die damals nicht, ganz bestimmt nicht.« »Was redest du da?«, erwiderte Esau. »Grandma hat erzählt, dass es hier früher eine Million Menschen gab und eine Million Automobile, oder wie sie das nannten, alle in langen Reihen nebeneinander, so weit das Auge reichte, und die Sonne schien auf die glänzenden Teile. Millionen davon!« »Ach«, sagte Len, »das ist doch unmöglich. Wo hätten die denn alle ihr Lager aufschlagen sollen?« »Dummkopf, die mussten kein Lager aufschlagen. Grandma hat gesagt, die waren von Piper’s Run in weniger als einer Stunde hier und am selben Tag wieder zurück.« »Ich weiß, was Grandma gesagt hat«, entgegnete Len nachdenklich. »Aber glaubst du das wirklich?« »Klar glaub ich das!« Esaus dunkle Augen loderten. »Ich wollte, ich hätte damals gelebt. Was ich dann nicht alles getan hätte!« »Was denn?« »Ich wäre mit einem dieser Autos gefahren, und zwar schnell. Fast wie fliegen, vielleicht.« »Esau!«, sagte Len zutiefst bestürzt. »Lass das bloß deinen Pa nicht hören.« Esau wurde ein...