E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Simenon November
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-455-01201-9
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-455-01201-9
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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Über Georges Simenon
Zu dieser Ausgabe
Impressum
1
Ich glaube nicht, dass ich so etwas schon einmal erlebt habe. Es war der zweite Freitag im November, der 9. November, um genau zu sein. Wir saßen wie jeden Abend zu viert beim Abendessen um den runden Tisch. Manuela hatte gerade die Suppenteller abgetragen und ein Kräuteromelett serviert, das meine Mutter zwischenzeitlich in der Küche gebacken hatte.
Seit dem Morgen fegte einer der heftigsten Stürme des Jahres über Frankreich hinweg, im Radio war die Rede von abgehobenen Dächern, Autos, die mehr als zehn Meter davongeschwemmt worden waren, Schiffen in Seenot im Ärmelkanal und im Atlantik.
Der Wind tobte, das Haus bebte unter den heftigen Böen, als rüttelte man an seinen Grundfesten, Fensterläden, Fensterscheiben und Außentüren schienen jeden Augenblick nachzugeben.
Es goss in Strömen, ohne Unterlass, furchtbar, der Regen schlug gegen die Hauswände, es klang, als rollten Wellen über einen Kiesstrand.
Wir unterhielten uns nicht. Bei uns redet man selten bei Tisch, man beschränkt sich auf das Notwendige.
»Reichst du mir bitte den Teller?«
Jeder isst von den anderen getrennt durch eine unsichtbare Wand, und an diesem Abend lauschte jeder für sich auf das Sturmgetöse.
Und plötzlich war es von einer Sekunde auf die andere still, nichts rührte sich mehr in der Natur, eine fast beängstigende Leere.
Mein Vater runzelte seine breiten, buschigen Augenbrauen. Mein Bruder schaute uns einen nach dem anderen verwundert an.
Der lange, dürre Hals meiner Mutter spannte sich unmerklich, während sie argwöhnisch um sich blickte. Sie misstraut allem. Sie lebt im Mittelpunkt eines feindlichen Universums, ist immer auf der Hut, immer wachsam, mit starrem Blick und gerecktem Hals wie bestimmte Raubvögel.
Alle schwiegen. Als hätte die Welt den Atem angehalten, als wäre diese abrupte Stille das Vorzeichen weiß Gott welcher Katastrophe.
Nur der Gesichtsausdruck meines Vaters blieb, nachdem er kurz mit den Brauen gezuckt hatte, unverändert. Er hat stets ein fahles, ausdrucksloses Gesicht, allenfalls liegt ein fast feierlicher Ernst darauf.
Olivier wandte sich zur Tür, als Manuela sie hinter sich schloss, und ich bin sicher, dass er eine stumme Nachricht an sie richtete. Ich bin auch überzeugt, dass meine Mutter sie, ohne den Kopf zu wenden, bei ihrer Zwiesprache ertappte. Sie sieht alles, hört alles. Sie sagt nie etwas, aber sie nimmt alles auf.
Mein Bruder ließ sich von diesem unerwarteten Stocken des Universums nicht lange beunruhigen. Er saß wie immer meinem Vater gegenüber und ich gegenüber meiner Mutter, deren Wangenknochen wieder die beiden kreisrunden roten Flecken aufwiesen.
Das ist ein Zeichen. Sie hat getrunken. Sie beginnt eine Novene, so nennen wir es unter uns, aber sie ist nicht betrunken, sie ist nie richtig betrunken.
»Bist du müde?«
Warum hatte mein Vater das Bedürfnis, das zu sagen? Sie ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie ist weitaus feinsinniger als er und weiß, was die Worte bedeuten sollen. Da es schon viele Jahre so geht, hätte er es sich ersparen können, sie darauf hinzuweisen.
»Ich habe Migräne«, sagt sie beiläufig mit spröder Stimme.
Ich weiß nicht, wen ich mehr bedauere. Man hat oft den Eindruck, meine Mutter tut, was sie kann, um zu missfallen, und selbst wenn sie schweigt, wirkt sie aggressiv. Aber könnte mein Vater nicht etwas rücksichtsvoller sein, ein Minimum an Nachsicht zeigen?
Er hat sie immerhin geheiratet, und wahrscheinlich war sie nicht viel schöner als heute. Ich habe Fotos von ihrer Hochzeit 1938 gesehen. Sie hatte schon immer ein unvorteilhaftes Gesicht. Ihre Nase ist zu lang und endet in einer Nasenspitze, die wie aufgepfropft wirkt, und auch ihr Kinn ist zu spitz.
War mein Vater verliebt in sie? Oder war er damals als junger Leutnant stolz darauf, eine der Töchter seines Obersts zu heiraten, der auf dem besten Weg war, General zu werden?
Darüber weiß ich nichts. Es geht mich nichts an. Es steht mir nicht zu, über sie zu urteilen, auch wenn ich es unabsichtlich tue. Wir leben in einem Haus, in dem jeder den anderen beobachtet und sein Leben getrennt von den anderen lebt. Nur unser spanisches Hausmädchen, Manuela, die seit zwei Monaten bei uns arbeitet, singt bei der Hausarbeit und lebt, als ob um sie herum alles normal wäre.
Sie hat die Birnen aufgetragen, und mein Vater schält seine sorgfältiger als der beste Oberkellner. Er macht alles sehr gründlich, mit einer bisweilen nervigen Sorgfalt.
Muss er sich beherrschen? Sind seine Würde und Gelassenheit aufgesetzt?
Wie immer hat er sich als Erster erhoben, wie er sich unabänderlich als Erster an den Tisch setzt und langsam seine Serviette auffaltet. Hierarchie ist ihm wichtig. Bestimmt weil er beim Militär ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass er den kleinen Dingen dieselbe Bedeutung beimisst wie den großen.
Er murmelt:
»Ich gehe arbeiten …«
Dieser Satz fällt fast jeden Abend um dieselbe Zeit. Er hat ein Zimmer am anderen Ende des Flurs zum Büro gemacht. In der Mitte thront ein riesiger Zylinderschreibtisch aus dem neunzehnten Jahrhundert, und die Regale mit ihren verglasten Türen sind vollgepackt mit Büchern und Zeitschriften.
Arbeitet er wirklich? Er bringt immer eine dicke Aktentasche mit Papieren von der Arbeit mit nach Hause. Manchmal hört man ihn ungeschickt auf seiner Reiseschreibmaschine tippen. Meistens ist es jedoch ruhig. Wir dürfen ihn nicht stören. Jeder achtet darauf, anzuklopfen, sollte man ihm zufällig etwas mitzuteilen haben.
In seinem Arbeitszimmer steht ein alter, durchgesessener Ledersessel, in dem ich ihn zigmal angetroffen habe, die Füße zum Kamin gestreckt, in dem ein kleines Feuer brennt, das er selbst angezündet hat. Er schaut von seiner Lektüre auf, sieht einen geduldig an, ohne einen zu entmutigen.
»Ich wollte dich fragen, ob ich morgen …«
Hört er zu? Interessiert es ihn? Fühlt er, dass er Familienvater ist und wir drei von ihm abhängen?
Olivier kümmert sich kaum um seinen Vater und organisiert in aller Ruhe sein Leben. Er geht häufig abends aus, weniger oft seit Manuela im Haus ist. Nach dem Abendessen verschwindet er nach oben in sein Zimmer oder in eine Art Labor, das er sich unter dem Dach eingerichtet hat, direkt neben dem Zimmer der Spanierin.
Meine Mutter geht ins Wohnzimmer. Ich folge ihr. Dann macht sie mechanisch den Fernseher an … Jeden Abend … Unabänderlich, egal was kommt, aber es hindert sie nicht, das kleinste Geräusch im Haus zu hören …
Sie näht. Es gibt immer Knöpfe, die angenäht, Wäschestücke, die ausgebessert werden müssen. Ich setze mich ebenfalls vor den Fernsehapparat, doch das Programm interessiert mich nicht immer, und dann vertiefe ich mich in ein Buch.
»Komisch, dass der Sturm so abrupt aufgehört hat …«
Sie hebt einen Augenblick den Kopf, als wollte sie sich versichern, dass kein Hintergedanke hinter den Worten steckt, dann murmelt sie nur:
»Ja …«
Aus der Küche, wo Manuela das Geschirr spült, klingt Tellergeklapper. Sobald das Hausmädchen hinauf in ihr Zimmer gegangen ist, wird meine Mutter aufstehen und dabei murmeln:
»Ich sehe mal nach, ob das Mädchen das Licht …«
Sie bemüht sich nicht wegen des Lichts, auch nicht wegen des Gaskochers. Sie geht, um den übrig gebliebenen Rotwein zu trinken, und sie trinkt ihn aus der Flasche, mit ängstlichem Blick auf die Tür, denn sie befürchtet immer, überrascht zu werden. Wenn sie so drauf ist, trinkt sie ausnahmslos alles, was ihr in die Hände fällt, und je mehr sie trinkt, umso mehr Farbe bekommen ihre hohen Wangen, umso glänzender werden ihre Augen.
Sie tut mir leid, aber gleichzeitig nehme ich es ihr übel, denn ich würde meine Mutter gerne nicht bedauern müssen. Bisweilen tut mir auch mein Vater leid. Wer von den beiden hat angefangen?
Das ging schon so, als mein Bruder und ich noch Babys waren. Ich kam zuerst, denn ich bin einundzwanzig und die Ältere. Dann kam Olivier, der jetzt neunzehn Jahre alt ist.
Haben sich unsere Eltern wie die meisten Eltern verhalten? Haben sie sich an unserer Wiege umarmt, geküsst, zärtliche Worte ausgetauscht?
Das scheint mir undenkbar. So weit meine Erinnerung zurückreicht, war das Haus immer dasselbe, geordnet und still, waren die Tage von schaurigen Mahlzeiten unterbrochen.
Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich hassen. Mein Vater ist geduldig, und ich merke, dass das nicht immer einfach ist. Ich verstehe ihn, wenn er an den meisten Abenden in dieses Arbeitszimmer flüchtet. Aber konnte Mama nicht mehr von ihm erwarten als Geduld?
Ein richtiger Familienkrach wäre mir manchmal lieber, schön heftig, mit Geschrei, Tränen, und anschließend eine vorübergehende Versöhnung.
Auf mein Urteil kann man nicht viel geben. Auch ich bin nicht hübsch. Ich habe wie meine Mutter ein unvorteilhaftes Gesicht mit einer runden, zu klobigen Nase anstatt einer Stupsnase mit Doppelspitze. Nur mein Körper stellt mich zufrieden.
Wozu über all das nachdenken? Ich lese. Ich versuche zu lesen, und von Zeit und Zeit betrachte ich das Gesicht meiner Mutter. Draußen hört man den Regen, es tröpfelt sich aus.
Das Programm wechselt. Es läuft ein lärmender Western, und ich stehe auf, um den Apparat leiser zu stellen. Gibt es viele Familien wie unsere in Paris und Umgebung?
Um zehn setzt meine Mutter ihre Brille ab und sammelt die Wäschestücke, die Garnrollen, die Scheren ein. Sie ist nicht in die Küche gegangen, wie ich dachte.
»Gute Nacht,...