E-Book, Deutsch, Band 55, 176 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
Simenon Maigret vor dem Schwurgericht
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-311-70339-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 55, 176 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
ISBN: 978-3-311-70339-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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2
Der Vorsitzende hatte den Gerichtsdiener offenbar mit einem diskreten Zeichen herbeigerufen, denn dieser kam leise um die Richterbank herum und beugte sich zu ihm hinunter, während der junge Verteidiger Duché, blass und steif, zu erraten versuchte, was da vor sich ging.
Der Richter sagte nur ein paar Worte, und alle im Saal folgten seinen Blicken zu den sehr hoch angebrachten Fenstern, von denen die Schnüre herunterhingen.
Die Heizkörper glühten. Ein unsichtbarer Dunst, ein immer stärkerer Menschengeruch, ging von den Hunderten dicht gedrängt sitzenden Zuhörern, ihrem Atem, ihrer feuchten Kleidung aus.
Wie ein Küster ging der Gerichtsdiener auf die Schnüre zu und versuchte, ein Fenster zu öffnen. Aber es widerstand. Er versuchte es dreimal, während alle Blicke seinen Bemühungen folgten. Schließlich hörte man sein nervöses Lachen, und er beschloss, es beim nächsten Fenster zu versuchen.
Durch diesen Zwischenfall wurde die Außenwelt wieder ins Bewusstsein gerückt. Man bemerkte die Regentropfen an den Fensterscheiben und den verhangenen Himmel dahinter, man hörte plötzlich deutlicher die Bremsen von Autos und Bussen. Wie um die Pause zu betonen, erklang sogar genau in diesem Augenblick die Sirene eines Krankenwagens oder Polizeiautos.
Maigret wartete besorgt und konzentriert. Er hatte die Unterbrechung genutzt, um zu Meurant hinüberzusehen. Als ihre Blicke sich kreuzten, meinte er in den blauen Augen des Angeklagten etwas Vorwurfsvolles zu lesen.
Nicht zum ersten Mal spürte er im Zeugenstand eine gewisse Entmutigung. In seinem Büro am Quai des Orfèvres hatte er es noch mit der Wirklichkeit zu tun. Selbst seinen Bericht verfasste er in dem Glauben, dass die Sätze mit der Wahrheit übereinstimmten.
Dann vergingen Monate, manchmal ein Jahr, wenn nicht zwei, und eines schönen Tages fand er sich im Zeugenzimmer den Leuten gegenüber, die er einst verhört hatte und die für ihn nur eine Erinnerung waren. Handelte es sich wirklich um dieselben Menschen, dieselben Concierges, Passanten, Lieferanten, die dort mit leerem Blick auf den Sakristeibänken saßen?
War der Mann auf der Anklagebank nach monatelanger Untersuchungshaft noch derselbe Mensch wie damals?
Man befand sich plötzlich in einer unpersönlichen Welt, in der alltägliche Worte keine Gültigkeit mehr zu haben schienen und einfache Tatsachen sich in unverständliche Formeln verwandelten. Die schwarze Robe der Richter, der Hermelin, die rote Robe des Generalstaatsanwalts verstärkten noch den Eindruck eines Zeremoniells mit unveränderlichen Riten, in dem der Einzelne nichts galt.
Der Vorsitzende Bernerie führte die Verhandlung trotzdem mit einem Höchstmaß an Geduld und Menschlichkeit. Weder trieb er den Zeugen zur Eile an, noch schnitt er ihm das Wort ab, wenn er sich in Nebensächlichem zu verlieren drohte.
Bei anderen, strengeren Richtern hatte Maigret manchmal vor Wut und Ohnmacht die Faust geballt.
Auch heute war ihm bewusst, dass er nur ein schematisches, lebloses Bild von der Wirklichkeit vermittelte. Alles stimmte, was er gesagt hatte, aber das Gewicht der Dinge spürbar zu machen, ihre Dichte, ihr Zittern, ihren Geruch, das war ihm nicht gelungen.
So erschien es ihm zum Beispiel unerlässlich, dass diejenigen, die ein Urteil über Gaston Meurant sprechen würden, sich eine Vorstellung von der Atmosphäre in der Wohnung am Boulevard de Charonne machten, wie er sie erlebt hatte.
Seine Beschreibung in zwei Sätzen war wertlos. Die Wohnung des Paars in diesem großen Haus mit den vielen Familien und Kindern und dem Blick auf den Friedhof hatte ihn gleich zu Anfang überrascht.
Nach welchem Vorbild hatten sie sich eingerichtet? Im Schlafzimmer gab es kein richtiges Bett, sondern eines dieser Ecksofas, mit orangefarbenem Satin bezogen und umgeben von Regalen. Man nannte das ein .
Maigret versuchte sich den Bildereinrahmer vorzustellen. Ein Handwerker, der den ganzen Tag in seiner Werkstatt hinten in einem Hof arbeitete und dann abends in seine Wohnung zurückkam, die an Bilder in Illustrierten erinnerte: die Beleuchtung fast so gedämpft wie in der Rue Manuel, die sehr leichten, glänzenden Möbel, die gedeckten Farben …
Doch das Auffallendste waren die Bücher Meurants, die in den Regalen standen, lauter bei den Bouquinisten an den Quais billig erstandene Bücher: von Tolstoi; die achtzehnbändige in einer alten, modrig riechenden Ausgabe; ein Werk über wilde Tiere, gleich daneben eine Geschichte der Religionen …
Man erahnte den Mann, der sich bilden wollte. In demselben Zimmer stapelten sich aber auch Illustrierte, bunte Magazine, Filmzeitschriften und Groschenromane. Sie stellten vermutlich die geistige Nahrung von Ginette Meurant dar, so wie die Schallplatten neben dem Plattenspieler, auf denen nur Schlager waren.
Was machten er und sie am Abend? Womit verbrachten sie den ganzen Sonntag? Worüber unterhielten sie sich? Wie bewegten sie sich in dieser Wohnung?
Maigret war sich bewusst, dass er auch von Léontine Faverges kein genaues Bild gezeichnet hatte, auch nicht von deren Wohnung, die honorige Herren, Familienväter, einst heimlich aufgesucht hatten und hinter dicken Vorhängen verschwunden waren, damit sie einander nicht begegneten.
.
In dem Gerichtssaal, der so voll wie ein Kino war, klangen die Sätze wie eine verzweifelte Lüge, denn für das Publikum, das den Fall nur aus der Zeitung kannte, und gewiss auch für die Geschworenen war Gaston Meurant ein Mörder. Ein Mörder, der nicht davor zurückgeschreckt war, sich an einem kleinen Mädchen zu vergreifen, und der, weil es bei seinem Erdrosselungsversuch nicht schnell genug starb, nervös geworden war und es mit einem Seidenkissen erstickt hatte.
Es war noch nicht einmal elf Uhr vormittags – aber wusste noch irgendeiner der Anwesenden etwas von der Uhrzeit oder von seinem eigenen Leben? Unter den Geschworenen waren ein Vogelhändler vom Quai de la Mégisserie und ein Klempner, der ein kleines Unternehmen führte und zwei Gesellen hatte.
Befand sich unter ihnen auch jemand, der eine Frau wie Ginette Meurant geheiratet hatte und der abends solche Bücher las wie der Angeklagte?
»Fahren Sie fort, Herr Kommissar.«
»Ich habe ihn gebeten, mir genau zu sagen, was er am Nachmittag des 27. Februar gemacht hat. Um zwei Uhr hat er wie gewöhnlich sein Geschäft geöffnet und an die Ladentür das Schild gehängt, dass man sich in der Werkstatt melden soll. Er ist dort hingegangen und hat an mehreren Rahmen gearbeitet. Um vier Uhr schaltete er das Licht ein und ging in den Laden zurück, um auch das Schaufenster zu beleuchten. Er sagt, er war in seiner Werkstatt, als er kurz nach sechs Schritte im Hof hörte. Jemand klopfte an die Scheibe.
Es war ein älterer Herr, den er angeblich noch nie gesehen hatte. Er suchte einen flachen Rahmen, vierzig mal fünfzig Zentimeter, für eine italienische Gouache, die er soeben gekauft hatte. Meurant hat ihm verschieden breite Leisten gezeigt. Nachdem sich der alte Herr nach dem Preis erkundigt hatte, ging er wieder.«
»Konnte man diesen Zeugen ausfindig machen?«
»Ja, Herr Vorsitzender, aber erst drei Wochen später. Er heißt Germain Lombras, ist Klavierlehrer und wohnt in der Rue Picpus.«
»Haben Sie ihn persönlich vernommen?«
»Ja, Herr Vorsitzender. Er bestätigt, dass er an einem Abend kurz nach sechs in Meurants Werkstatt gewesen ist. Er war zufällig an dem Geschäft vorbeigekommen, nachdem er tags zuvor bei einem Antiquitätenhändler eine neapolitanische Landschaft gekauft hatte.«
»Konnte er sagen, wie der Angeklagte gekleidet war?«
»Meurant trug offenbar unter seinem farblosen Arbeitskittel eine graue Hose und hatte die Krawatte abgenommen.«
Bevor Staatsanwalt Aillevard, der den Platz der Anklagebehörde einnahm und Maigrets Aussage in der vor ihm liegenden Akte verfolgte, das Wort ergriff, fügte der Kommissar schnell hinzu:
»Der Zeuge konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er am Dienstag oder am Mittwoch, also am 26. oder am 27. Februar, dort war.«
Nun kam Bewegung in den Verteidiger. Der junge Anwalt, dem eine glänzende Zukunft vorausgesagt wurde, setzte sie im Grunde mit diesem Fall aufs Spiel. Um jeden Preis musste er den Eindruck erwecken, sich selbst und der Sache, die er verteidigte, sicher zu sein. Krampfhaft bemühte er sich, seine nervösen Hände ruhig zu halten.
In sachlichem Ton fuhr Maigret fort:
»Der Angeklagte sagt, dass er nach dem Besuch des alten Herrn die Werkstatt und dann den Laden abschloss und zur Bushaltestelle ging.«
»Das wäre dann also gegen halb sieben gewesen.«
»Ja, so ungefähr. Er stieg in der Rue des Martyrs aus dem Bus und ging in Richtung Rue Manuel.«
»Hatte er einen besonderen Grund, seine Tante zu besuchen?«
»Zunächst erklärte er, es sei sein normaler Besuch gewesen, den er mindestens einmal im Monat machte. Zwei Tage später aber, als wir die Geschichte mit dem nicht eingelösten Wechsel entdeckten, nahm er seine Aussage zurück.«
»Berichten Sie uns von diesem Wechsel.«
»Am 28. musste Meurant einen ziemlich hohen Wechsel bezahlen, der schon im Monat zuvor angemahnt worden war. Er hatte das notwendige Geld nicht.«
»Ist dieser Wechsel vorgelegt worden?«
»Ja.«
»Wurde er bezahlt?«
»Nein.«
Der Staatsanwalt schien das Argument zugunsten Meurants mit einer...




