E-Book, Deutsch, Band 19, 192 Seiten
Reihe: Georges Simenon / Maigret
Simenon Maigret und sein Neffe
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-311-70282-5
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 19, 192 Seiten
Reihe: Georges Simenon / Maigret
ISBN: 978-3-311-70282-5
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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1
Noch bevor Maigret die Augen aufschlug, runzelte er die Stirn, als misstraute er der Stimme, die er eben in tiefstem Schlaf vernommen hatte:
»Onkel! …«
Mit geschlossenen Lidern seufzte er, betastete die Bettdecke und merkte, dass er nicht geträumt hatte, dass etwas vor sich ging, denn Madame Maigrets warmer Körper lag nicht dort, wo er hätte liegen müssen.
Schließlich öffnete er die Augen. Es war eine klare Nacht. Madame Maigret stand am Fenster mit den kleinen Scheiben und spähte durch den Vorhang, während jemand an der Eingangstür rüttelte, so laut, dass es durch das ganze Haus hallte.
»Onkel! Ich bin’s …«
Madame Maigret blickte immer noch hinaus. Ihre aufgewickelten Haare sahen aus wie ein sonderbarer Heiligenschein.
»Es ist Philippe«, sagte sie. Sie wusste, dass Maigret aufgewacht war und sich fragend zu ihr umsah.
»Stehst du auf?«
Maigret ging als Erster hinunter. Seine bloßen Füße steckten in Pantoffeln. Er hatte in aller Eile eine Hose übergestreift. Erst auf der Treppe zog er die Jacke an. Auf der achten Stufe musste er wegen des Deckenbalkens den Kopf einziehen. Sonst tat er das immer ganz automatisch. Aber diesmal vergaß er es. Er stieß mit der Stirn dagegen, knurrte, fluchte. Vom eisigen Treppenhaus gelangte er in die Küche, wo es noch ein wenig warm war.
Die Haustür war mit Eisenriegeln gesichert. Draußen sagte Philippe zu jemandem:
»Es dauert nicht lange. Wir sind noch vor Tagesanbruch in Paris.«
Madame Maigret zog sich offenbar etwas über, denn man hörte sie oben hin und her gehen. Maigret öffnete die Tür, immer noch murrend, weil er sich den Kopf gestoßen hatte.
»Na so was«, murmelte er, als er seinen Neffen auf der Straße stehen sah.
Ein riesiger Mond hing über den kahlen Pappeln und erhellte den Himmel so sehr, dass sich noch die kleinsten Zweige deutlich vor ihm abzeichneten. Die Loire hinter der Biegung glitzerte wie silbrige Pailletten.
Ostwind!, dachte Maigret unwillkürlich, wie es jeder aus der Gegend beim Anblick der sich kräuselnden Wasseroberfläche gedacht hätte.
Dergleichen gewöhnt man sich an auf dem Land. Ebenso, dass man stumm in der Tür stehen bleibt und einen ungebetenen Gast betrachtet, bis er etwas sagt.
»Ich habe die Tante hoffentlich nicht geweckt?«
Philippes Gesicht war starr vor Kälte. Hinter ihm, in der vor Raureif weißen Landschaft, erhob sich die gänzlich unpassende Silhouette eines Pariser Taxis.
»Lässt du den Fahrer draußen?«
»Ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Kommt beide schnell rein«, sagte Madame Maigret in der Küche, wo sie eine Petroleumlampe anzündete.
Zu ihrem Neffen gewandt, fügte sie hinzu:
»Wir haben noch kein elektrisches Licht. Die Leitung ist zwar gelegt, aber wir sind noch nicht ans Stromnetz angeschlossen.«
An einem Kabel hing tatsächlich bereits eine Glühbirne. Oft sind es solche Details, die einem auffallen, ohne dass man sagen könnte, warum. Und wenn man ohnehin schon nervös ist, stören sie einen umso mehr. In den folgenden Minuten sollte Philippe immer wieder zu der nackten Glühbirne starren, die zu nichts nütze war, außer darauf hinzuweisen, wie altmodisch das ganze Häuschen war und wie anfällig der moderne Komfort.
»Kommst du aus Paris?«
Maigret, der noch immer nicht ganz wach war, lehnte sich an den Kamin. Angesichts des Taxis auf der Straße war die Frage so unnütz wie die Glühbirne. Aber es gibt Augenblicke, da redet man, nur um etwas zu sagen.
»Ich werden Ihnen alles erzählen, Onkel. Ich bin in einer entsetzlichen Lage. Wenn Sie mir nicht helfen, wenn Sie nicht mit mir nach Paris kommen, dann weiß ich nicht, was aus mir werden soll. Ich bin völlig verzweifelt. Ach, ich habe ja die Tante noch gar nicht begrüßt.«
Wie ein braves Kind hauchte er Madame Maigret, die sich einen Morgenrock über ihr Nachthemd gestreift hatte, drei Küsse auf die Wangen. Dann setzte er sich an den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen.
Maigret stopfte seine Pfeife, während seine Frau Reisig im Kamin aufschichtete. Etwas Ungewöhnliches, etwas Bedrohliches lag in der Luft. Seit Maigret pensioniert war, war er es nicht mehr gewohnt, mitten in der Nacht aufzustehen, und unwillkürlich musste er an Nächte denken, die er bei einem Kranken oder Toten verbracht hatte.
»Wie konnte ich nur so dumm sein!«, schluchzte Philippe plötzlich.
Die Erregung brach jäh aus ihm heraus. Er weinte ohne Tränen. Er blickte um sich wie jemand, der an irgendetwas seine Wut abreagieren will. Maigret drehte unterdessen ungerührt den Docht der Petroleumlampe höher. Im Kamin züngelten die ersten Flammen.
»Jetzt trinkst du erst einmal etwas.«
Maigret nahm eine Flasche Marc und zwei Gläser aus einem Schrank, in dem Lebensmittel aufbewahrt wurden und der nach kaltem Fleisch roch. Madame Maigret zog ihre Pantinen an, weil sie aus dem Schuppen draußen Holz holen musste.
»Auf dein Wohl! Und vor allem beruhige dich erst einmal.«
Der Geruch des brennenden Reisigs vermischte sich mit dem des Schnapses. Philippe blickte wie benommen seine Tante an, die mit einem Armvoll Holzscheite aus dem Dunkel auftauchte.
Er war kurzsichtig, und aus einem bestimmten Winkel wirkten seine Augen hinter der Brille seltsam groß, was ihm etwas Kindliches gab.
»Es ist heute Nacht passiert. Ich sollte ein Haus observieren, in der Rue Fontaine …«
»Moment«, unterbrach ihn Maigret. Er setzte sich rittlings auf einen Binsenstuhl, während er seine Pfeife anzündete. »Unter wem arbeitest du?«
»Unter Kommissar Amadieu.«
»Erzähl weiter.«
Maigret, der nachdenklich an seiner Pfeife zog, schloss halb die Augen. Blinzelnd sah er hinter der weiß gekalkten Wand und dem Regal mit den Kupfertöpfen Bilder auftauchen, die ihm ebenso vertraut waren. Quai des Orfèvres. Das Büro von Amadieu war das letzte rechts auf dem Flur. Amadieu, ein hagerer, verdrießlicher Mann, war nach Maigrets Pensionierung zu dessen Nachfolger ernannt worden.
»Hat er immer noch seinen langen Schnurrbart?«
»Ja. Pepito Palestrino, der Wirt des Floria in der Rue Fontaine, sollte verhaftet werden.«
»Welche Nummer?«
»53. Nebenan ist ein Brillengeschäft.«
»Zu meiner Zeit war das der Toréador. Ging es um Kokain?«
»Zuerst ja. Dann auch noch um etwas anderes. Der Chef hatte gehört, dass Pepito in den Barnabé-Fall verwickelt sei. Barnabé ist der Mann, der vor vierzehn Tagen an der Place Blanche erschossen worden ist. Das haben Sie sicherlich in der Zeitung gelesen.«
»Mach uns Kaffee«, sagte Maigret zu seiner Frau.
Behaglich seufzend wie ein Hund, der sich endlich hinlegt, nachdem er sich mehrmals im Kreis gedreht hat, stützte er die Arme auf die Rückenlehne seines Stuhls und legte das Kinn auf die gefalteten Hände. Hin und wieder setzte Philippe seine Brille ab, um die Gläser zu putzen, dann war er für ein paar Augenblicke wie blind. Er war ein großer, stämmiger Bursche mit rotem Haar und rosiger Haut.
»Sie wissen ja, wir dürfen nicht mehr so, wie wir wollen. Zu Ihrer Zeit hätte man Pepito einfach mitten in der Nacht verhaftet. Jetzt müssen wir streng das Gesetz befolgen. Darum hat der Chef die Verhaftung auf acht Uhr morgens angesetzt. Inzwischen sollte ich den Vogel be- wachen …«
Er verlor sich in der tiefen Stille des Raums, doch dann zuckte er zusammen, ihm wurde wieder seine Tragödie bewusst, und er blickte verstört um sich.
Maigret wehte aus den wenigen Sätzen ein Hauch von Paris entgegen. Er stellte sich das Leuchtschild des Floria vor, den Türsteher, der nach Autos Ausschau hielt, und seinen Neffen, der am Abend in der Nähe seinen Posten bezog.
»Zieh deinen Mantel aus«, schaltete sich Madame Maigret ein. »Du erkältest dich sonst, wenn du hinausgehst.«
Er war im Smoking. Ein sonderbarer Anblick in der niedrigen Küche mit der Balkendecke und dem roten Fliesenboden.
»Trink noch etwas …«
Aber Philippe sprang auf und rang in einem neuen Anfall von Verzweiflung so heftig die Hände, dass er sich fast die Finger brach.
»Ach, Onkel, Sie ahnen ja nicht …«
Er hätte am liebsten geweint, aber er konnte nicht. Wieder fiel sein Blick auf die Glühbirne. Er stampfte mit dem Fuß auf.
»Ich werde ganz bestimmt verhaftet!«
Madame Maigret, die kochendes Wasser auf den Kaffee goss, drehte sich um, den Topf in der Hand.
»Was redest du da?«
Maigret, der immer noch seine Pfeife rauchte, lockerte den rot bestickten Kragen seines Nachthemds.
»Du hast also vor dem Floria gestanden …«
»Nein. Ich bin hineingegangen«, sagte Philippe, ohne sich wieder zu setzen. »Im hinteren Teil des Lokals befindet sich ein kleines Büro, wo Pepito ein Feldbett stehen hat. Dort schläft er meistens, nachdem alle Gäste gegangen sind und er abgeschlossen hat.«
Auf der Straße rumpelte ein Karren vorüber. Die Wanduhr war stehen geblieben. Maigret sah auf seine Armbanduhr, die an einem Nagel über dem Kamin hing: Es war halb fünf. In den Ställen begann man die Kühe und Ziegen zu melken, und Wagen wurden angespannt, die zum Markt in Orléans fuhren. Das Taxi stand immer noch vor dem Haus auf der Straße.
»Ich wollte es besonders gut machen«, gestand Philippe. »In der letzten Woche hat mich der Chef angebrüllt und gesagt …«
Er wurde dunkelrot, verstummte und blickte krampfhaft zur Seite.
»Was hat er gesagt?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Aber ich weiß es. Ich kenne doch...